Anspruch auf Blindengeld nach dem Bayerischen Blindengeldgesetz; Aufstockungsbetrag für Blinde bei vorübergehender Abwesenheit
Tatbestand:
Die 1972 geborene Klägerin ist blind im Sinne des Bayer. Blindengeldgesetzes (BayBlindG). Streitig ist zwischen den Parteien die Bewilligung des sogenannten "Aufstockungsbetrages" im Sinne von Art. 2 Abs. 3 BayBlindG für den Zeitraum 13.10. bis 18.10.2005.
Die Klägerin wohnt seit Juli 2001 unter der Woche im Wohnheim des Betreuungszentrums in A-Stadt. Kostenträger ist der Regierungsbezirk
Oberbayern. Seit September 2001 erhält sie deswegen das auf die Hälfte gekürzte Blindengeld (vgl. Urteil des Sozialgerichts
München vom 18.02.2005 - S 1 BL 13/03).
Der Vater der Klägerin hat als gesetzlicher Vertreter am 30.10.2005 die Neuberechnung und Bewilligung des zustehenden Blindengeldbetrags
wegen des Aufenthaltes zu Hause u.a. für den hier streitgegenständlichen Zeitraum vom 12.10.2005 bis 19.10.2005 beantragt.
Der Beklagte hat mit Bescheid des Zentrums Bayern Familie und Soziales Region Oberbayern I vom 02.11.2005 in Gestalt des Widerspruchsbescheides
des Zentrums Bayern Familie und Soziales vom 27.12.2005 ausgeführt, die Gewährung eines Aufstockungsbetrages für die Zeit
vom 12.10.2005 bis 19.10.2005 sei nicht möglich. Nach Art. 2 Abs. 3 BayBlindG werde für jeden vollen Tag vorübergehender Abwesenheit von der Einrichtung Blindengeld in Höhe von je 1/30 des vollen Betrages
gezahlt, wenn die vorübergehende Abwesenheit länger als sechs volle zusammenhängende Tage dauere. Die Klägerin sei vom 12.10.2005
(15.00 Uhr) bis einschließlich 19.10.2005 (09.15 Uhr) abwesend gewesen. Berücksichtigt werden könnten deshalb nur der 13.10.,
14.10., 15.10., 16.10., 17.10. und 18.10.2005. Da die Abwesenheit von der Einrichtung nicht mehr als sechs volle zusammenhängende
Tage gedauert habe, könne für diesen Zeitraum kein volles Blindengeld gewährt werden.
Das Sozialgericht München hat der hiergegen gerichteten Klage mit Urteil vom 24.07.2008- S 17 BL 2/06 - stattgegeben und den Beklagten unter Abänderung des Bescheides vom 02.11.2005 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom
27.12.2005 verpflichtet, den Blindengeldanspruch für Oktober 2005 neu zu berechnen und dabei für sechs Tage Abwesenheit von
der Einrichtung (13.10.2005 bis 28.10.2005) das Blindengeld aufzustocken. Zwar seien der Abreise- und Anreisetag jeweils nicht
volle Tage. Wegen Art. 2 Abs. 3 Satz 2 BayBlindG könnten Ab- und Anreisetag auch nicht (zusammen) als ein Tag gerechnet werden, wie es beispielsweise im Rehabilitationsrecht
gehandhabt würde. Dies bedeute aber nicht, dass Abreise- und Anreisetag für die Rechtsanwendung gänzlich bedeutungslos sein
müssten, wie der Beklagte unterstelle. Das Tatbestandsmerkmal "länger als sechs volle zusammenhängende Tage" sei erfüllt,
wenn sechs volle zusammenhängende Tage und eine Minute abgelaufen seien, und natürlich auch dann, wenn zu den sechs vollen
zusammenhängenden Tagen Abreise- und Anreisetag hinzukämen. Anders wäre dies nur dann zu sehen, wenn der Gesetzgeber ausdrücklich
geregelt hätte, dass Abreise- und Anreisetag nicht zu berücksichtigen seien.
Die hiergegen gerichtete Berufung des Beklagten vom 26.08.2008 ging am 28.08.2008 beim Bayer. Landessozialgericht (BayLSG)
ein. Zur Begründung hob der Beklagte mit Schriftsatz vom 28.10.2008 hervor, da in Art. 2 Abs. 3 BayBlindG zweimal von "vollen" Tagen die Rede sei, müsse der Aufenthalt ohne Ab- bzw. Rückreisetag mindestens sieben volle Tage ununterbrochen
sein. Diese Rechtsauslegung des Beklagten bestehe seit nunmehr über 25 Jahren, da die Formulierung des Art. 2 Abs. 3 BayBlindG im Kern identisch mit dem Wortlaut des Art. 2 Abs. 2 Zivilblindenpflegegeldgesetz (ZPflG) sei und die o.g. Rechtsauslegung zu Art. 2 Abs. 3 BayBlindG identisch mit der zu Art. 2 Abs. 2 ZPflG sei. Das Sozialgericht A-Stadt habe mit Urteil vom 18.02.2005 - S 1 BL 13/03 - die Rechtsauffassung des Beklagten insoweit geteilt und ausgeführt, dass richtigerweise die An- und Abreisetage nicht mitzurechnen
seien, da sie keine "vollen" Tage im Sinne der gesetzlichen Regelung darstellen würden. Da der Wortlaut des Art. 2 Abs. 3 BayBlindG mit dem des § 72 Abs. 3 Satz 3 SGB XII (Blindenhilfe) identisch sei, werde angeregt bei den zuständigen überörtlichen Sozialhilfeträger bzw. den
zuständigen Ministerium anzufragen, wie von diesen die strittige Gesetzesformulierung ausgelegt werde.
Von Seiten des BayLSG wurden die Blindengeld-Akten des Beklagten sowie die Streitakten des Sozialgerichts München S 26 BL 25/95, S 1 BL 13/03 und S 17 BL 2/06 beigezogen.
Der gesetzliche Vertreter der Klägerin schloss sich mit Schriftsatz vom 26.09.2008 sinngemäß den Ausführungen des Sozialgerichts
München mit Urteil vom 24.07.2008 an.
In der mündlichen Verhandlung vom 20.01.2009 beantragt die Bevollmächtigte des Beklagten,
das Urteil des Sozialgerichts München vom 24.07.2008 - S 17 BL 2/06 - aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der gesetzliche Vertreter der Klägerin beantragt,
die Berufung des Beklagten zurückzuweisen.
Zur Ergänzung des Tatbestandes wird gemäß §
202 des Sozialgerichtsgesetzes (
SGG) i.V.m. §
540 der
Zivilprozessordnung (
ZPO) sowie entsprechend §
136 Abs.
2 SGG auf die Unterlagen des Beklagten sowie die Gerichtsakten erster und zweiter Instanz Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung des Beklagten ist gemäß den §§
143,
144 und
151 des Sozialgerichtsgesetzes (
SGG) zulässig, jedoch unbegründet. Das Sozialgericht München hat der Klage gegen den Bescheid vom 02.11.2005 in Gestalt des Widerspruchsbescheides
vom 27.12.2005 mit Urteil vom 24.07.2008 zutreffend stattgegeben und den Beklagten verpflichtet, den Blindgeldanspruch für
Oktober 2005 neu zu berechnen und dabei für sechs Tage Abwesenheit von der Einrichtung (13.10.2005 bis 18.10.2005) das Blindengeld
aufzustocken.
Art. 2 Abs. 3 Satz 1 des Bayer. Blindengeldgesetzes (BayBlindG) vom 07.04.1995 in der ab 01.04.2005 gültigen Fassung bestimmt, für jeden vollen Tag vorübergehender Abwesenheit von der
Einrichtung wird Blindgeld in Höhe von je 1/30 des Betrags nach Abs. 1 gewährt, wenn die vorübergehende Abwesenheit länger
als sechs volle zusammenhängende Tage dauert.
Dies ist vorliegend der Fall. Die Klägerin ist vom 12.10.2005 (15.00 Uhr) bis einschließlich 19.10.2005 (09.15 Uhr) abwesend
gewesen. Zu berücksichtigen sind deshalb der 13.10., 14.10., 15.10., 16.10., 17.10. und 18.10.2005. Hierbei handelt es sich
um sechs volle zusammenhängende Tage im Sinne von Art. 2 Abs. 3 Satz 1 BayBlindG.
Zum Begriff des "vollen Tages" ist anzumerken, dass ein "voller Tag" von 00.00 Uhr bis 24.00 Uhr dauert.
Nachdem in Art. 2 Abs. 3 Satz 1 BayBlindG das Tatbestandsmerkmal des "vollen Tages" zweimal normiert ist, sind der An- und Abreisetag (hier: 12.10. und 19.10.2005)
nicht zu berücksichtigen.
Hinsichtlich des Tatbestandsmerkmales "länger" als sechs volle zusammenhängende Tage ist darauf abzustellen, dass dieses Tatbestandsmerkmal
bereits bei sechs vollen zusammenhängenden Tagen "und einer Minute" erfüllt ist. Dies bedeutet, dass die Abreise am 12.10.2005
noch unmittelbar vor Mitternacht hätte erfolgen können, bzw. die Wiederankunft am 19.10.2005 um 00.01 Uhr ebenfalls unschädlich
gewesen wäre.
Die Auslegung des Beklagten seit nunmehr über 25 Jahren, dass auf mindestens sieben volle zusammenhängende Tage abzustellen
sei, weil in Art. 2 Abs. 3 BayBlindG zweimal das Tatbestandsmerkmal von "vollen Tagen" erwähnt sei, wäre unter dem Gesichtspunkt vertretbar, wenn man von einem
vollen Tag als der maßgeblichen Zeiteinheit ausgeht. Dies findet nach Auffassung des erkennenden Senats in Art. 2 Abs. 3 Satz 1 BayBlindG jedoch keine ausreichende Stütze.
Der Gesetzentwurf der Bayerischen Staatsregierung (Bayerischer Landtag, 13. Wahlperiode, Drucksache 13/458 vom 16.02.1995)
verweist in diesem Zusammenhang lediglich auf die erhöhten Aufwendungen, die einem Blinden bei einem Aufenthalt außerhalb
eines Heimes entstehen. Die Regelung ist § 67 Abs. 3 Satz 2 des Bundessozialhilfegesetzes (BSHG) angeglichen. Der erkennende Senat gibt daher in Berücksichtigung der erwähnten "erhöhten Aufwendungen" einer wortnahen Auslegung
von Art. 2 Abs. 3 BayBlindG den Vorzug. Andernfalls hätte der Gesetzgeber formulieren müssen "mindestens sieben volle Tage", was nicht geschehen ist.
Nach alledem ist die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts München vom 24.07.2008 - 17 BL 2/06 - zurückzuweisen.
Die Entscheidung über die Kosten beruht auf §§
183,
193 SGG.
Die Revision ist gemäß §
160 Abs.
2 Satz 1
SGG wegen grundsätzlicher Bedeutung zuzulassen. Auch wenn es sich bei Art. 2 Abs. 3 Satz 1 BayBlindG um eine landerechtliche Regelung handelt, bestehen die nämlichen Auslegungsfragen auch bei den gleichlautenden landesrechtlichen
Vorschriften der übrigen Bundesländer. Die Problematik einer "vorübergehenden Abwesenheit von länger als sechs vollen zusammenhängenden
Tagen" ist bislang lediglich in der Literatur ansatzweise diskutiert, jedoch nicht höchstrichterlich entschieden worden.