Altersrente
Verfassungskonformität der Stichtagsregelung des Rentenversicherungsleistungsverbesserungsgesetz
Funktionsfähigkeit des Rentenversicherungssystems
Tatbestand
Streitig ist zwischen den Beteiligten, ob der Kläger Anspruch auf eine höhere Altersrente gegen die Beklagte ab dem 01.07.2014
hat.
Der 1945 geborene Kläger bezog in der Zeit vom 01.05.2005 bis 31.08.2010 eine volle Erwerbsminderungsrente von der Beklagten,
die mit Wirkung ab dem 01.09.2010 in eine Regelaltersrente umgewandelt wurde. Bei der Erwerbsminderungsrente waren Abschläge
in Höhe von 10,8 % berücksichtigt, die sich in die Regelaltersrente fortgesetzt haben.
Mit Schreiben vom 02.08.2015 legte der Kläger gegen den ihm am 20.07.2015 zugegangenen Rentenanpassungsbescheid Widerspruch
mit der Begründung ein, dass er sich gegen die Höhe der Anpassung richte. Er finde es "eine schreiende Ungerechtigkeit und
einen flagranten Verstoß gegen das grundgesetzlich gebotene Gleichbehandlungsprinzip, wenn ab dem 01.07.2014 die Erwerbsminderungsrenten
nur für Neuantragsteller erheblich angehoben werden, die Altbezieher von Erwerbsminderungsrenten aber nicht berücksichtigt
werden". Er habe leider versäumt, gegen den Bescheid im Vorjahr Widerspruch einzulegen, hole das hiermit nach. Er wolle "eine
höhere Rente gemäß der Erhöhung von Frau Nahles ab dem 01.07.2014".
Die Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 06.10.2015 als unbegründet zurück.
Die hiergegen zum Sozialgericht (SG) Nürnberg erhobene Klage, die unter dem Az. S 11 R 1071/15 geführt wurde, wurde vom Kläger im Erörterungstermin vom 03.12.2015 zurückgenommen, nachdem die Vertreterin der Beklagten
auf Nachfrage des Gerichts erklärt hatte, dass zum 01.07.2014 nur eine allgemeine Rentenanpassung erfolgt sei, aber keine
Sondererhöhung für Erwerbsminderungsrenten.
Mit Schreiben vom 29.12.2015 beantragte der Kläger die Überprüfung seiner Rentenhöhe. Er habe unter falschen Voraussetzungen
die Klagerücknahme im Verfahren S 11 R 1071/15 erklärt. Aus den ihm zugegangenen Unterlagen gehe klar hervor, dass doch eine Erhöhung für Neurentner, nämlich eine Verlängerung
der Zurechnungszeit um zwei Jahre bis zum 62. Lebensjahr, vorgenommen werde, was zu einer um ca. 40,00 EUR höheren Rente für
Neurentner führe. Er begehre weiterhin eine Neuberechnung seiner Erwerbsminderungsrente mit einer Zurechnungszeit bis zum
62. Lebensjahr ab 01.07.2014.
Die Beklagte lehnte den Antrag vom 04.01.2016 mit streitgegenständlichem Bescheid vom 11.01.2016 ab. Die Neuregelung des §
59 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch -
SGB VI - sei zum 01.07.2014 in Kraft getreten und betreffe nur Erwerbsminderungsrenten, welche ab dem 01.07.2014 beginnen würden.
Für die bereits laufenden Renten verbleibe es bei der vorherigen Rechtslage. Der hiergegen am 22.01.2016 eingelegte Widerspruch
wurde von der Beklagten mit Widerspruchsbescheid vom 15.03.2016 als unbegründet zurückgewiesen.
Hiergegen hat der Kläger mit Schreiben vom 20.03.2016 Klage zum SG Nürnberg erhoben, im Wesentlichen unter Wiederholung seiner
bisherigen Begründung.
Nach Durchführung eines Erörterungstermins am 31.05.2016, in dem sich die Beteiligten mit einer Entscheidung durch Gerichtsbescheid
einverstanden erklärt hatten, hat das SG die Klage mit Gerichtsbescheid vom 06.06.2016 als unbegründet abgewiesen. Die zum 01.07.2014 in Kraft getretene Fassung des
§
59 SGB VI greife für den Kläger nicht, denn er habe schon vor diesem Zeitpunkt Erwerbsminderungsrente bezogen. Im Übrigen sei die Erwerbsminderungsrente
des Klägers zum 01.09.2010 in eine Regelaltersrente umgewandelt worden. Dem Gesetzgeber stehe es frei, Gesetze zu ändern und
dabei Stichtagsregelungen zu treffen (BSG, Beschluss vom 30.12.2015, B 13 R 345/15 B).
Zur Begründung der hiergegen am 07.07.2016 zum Bayer. Landessozialgericht eingelegten Berufung weist der Kläger darauf hin,
dass er einen Verstoß gegen Art.
3 Grundgesetz (
GG) sehe, weil ältere Bestandsrentner diskriminiert würden. Es spiele keine Rolle, dass seine Rente ab dem 01.09.2010 in eine
Regelaltersrente umgewandelt worden sei. Es sei weiterhin die gleiche Rentenhöhe berechnet wie vorher, mit einer Minderung
beim Zugangsfaktor um 10,8 %. Er sei im Übrigen der Meinung, dass es dem Gesetzgeber nicht freistehe, Stichtagsregelungen
zu treffen, wenn eine große Personengruppe dadurch benachteiligt werde, schon gar nicht dürfe die sogenannte Finanzierbarkeit
des Systems eine Rolle spielen.
Der Kläger beantragt sinngemäß,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Nürnberg vom 06.06.2016 sowie den Bescheid der Beklagten vom 11.01.2016 in Gestalt
des Widerspruchsbescheides vom 15.03.2016 aufzuheben und die Beklagte unter Abänderung des Bescheides vom 20.07.2015 in Gestalt
des Widerspruchsbescheides vom 06.10.2015 sowie des Bescheids über die Rentenanpassung zum 01.07.2014 zu verurteilen, ihm
ab dem 01.07.2014 eine höhere Altersrente unter Berücksichtigung weiterer Zurechnungszeiten zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Nürnberg vom 06.06.2016 zurückzuweisen.
Bezüglich der Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die beigezogenen Rentenakten der Beklagten, die Akten des SG Nürnberg
mit den Az. S 16 R 4125/06, S 6 AN 262/89, S 4 RA 606/97, S 16 R 4164/07, S 18 R 1446/09, S 11 R 1071/15 sowie die Gerichtsakten erster und zweiter Instanz verwiesen.
Entscheidungsgründe
Sie ist jedoch unbegründet. Das SG Nürnberg hat zu Recht mit Gerichtsbescheid vom 06.06.2016 festgestellt, dass der Bescheid
der Beklagten vom 11.01.2016 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15.03.2016 rechtlich nicht zu beanstanden ist. Der
Kläger hat keinen Anspruch gegen die Beklagte auf eine höhere Rente ab dem 01.07.2014.
Der Antrag des Klägers vom 04.01.2016 (Schreiben vom 29.12.2015) stellt einen Antrag auf Überprüfung nach § 44 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch - SGB X - dar. Nach § 44 Abs. 1 SGB X ist ein Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, soweit
sich im Einzelfall ergibt, dass bei seinem Erlass das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden
ist, der sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht oder Beiträge zu Unrecht
erhoben worden sind. Der Kläger begehrt die Überprüfung der Rentenanpassungsbescheide aus den Jahren 2014 und 2015 mit Wirkung
ab dem 01.07.2014, nachdem mit dem Gesetz über Leistungsverbesserungen in der gesetzlichen Rentenversicherung (RV-Leistungsverbesserungsgesetz)
vom 23.06.2014 (BGBl I, Seite 787) mit Wirkung zum 01.07.2014 §
59 SGB VI geändert wurde. Nach der Neufassung dieser Vorschrift ist als Zurechnungszeit die Zeit anzuerkennen, die bei einer Rente
wegen Erwerbsminderung oder einer Rente wegen Todes hinzugerechnet wird, wenn der Versicherte das 62. Lebensjahr noch nicht
vollendet hat. Die Zurechnungszeit endet nach §
59 Abs.
2 Satz 2
SGB VI mit Vollendung des 62. Lebensjahres. In der bis zum 30.06.2014 geltenden Fassung des §
59 SGB VI endete die Zurechnungszeit dagegen mit Vollendung des 60. Lebensjahres.
Der Kläger hat bereits deshalb keinen Anspruch gegen die Beklagte auf Gewährung einer höheren Rente, weil er seit 01.09.2010
eine Regelaltersrente bezieht und die Vorschrift des §
59 SGB VI nach ihrem eindeutigen Wortlaut nur auf Renten wegen Erwerbsminderung und Renten von Todes wegen Anwendung findet. Mit Erreichen
der Regelaltersgrenze wird gemäß §
115 Abs.
3 S 1
SGB VI eine Regelaltersrente anstelle der Erwerbsminderungsrente gewährt, sofern der Versicherte nichts anderes bestimmt. Da eine
entgegenstehende Bestimmung des Klägers nicht vorliegt, kommt es nicht mehr darauf an, dass er bis September 2010 bereits
eine Erwerbsminderungsrente bezogen hat.
Im Übrigen regelt §
300 SGB VI die Frage der Anwendbarkeit neuer Vorschriften auf bereits bestehende Lebenssachverhalte. Gemäß §
300 Abs.
1 SGB VI sind Neuregelungen ab dem Zeitpunkt ihres Inkrafttretens auf einen Sachverhalt oder Anspruch anzuwenden. Auch bei Neufeststellung
einer bereits vorher geleisteten Rente - die hier aber gar nicht vorliegt - und bei einer Neuermittlung der persönlichen Entgeltpunkte
sind gemäß §
300 Abs.
3 SGB VI die Vorschriften anzuwenden, die bei erstmaliger Feststellung der Rente anzuwenden waren, d. h. im Falle des Klägers ist
unter jeder denkbaren Konstellation jeweils die seit dem 01.01.2002 in Kraft getretene und bis zum 30.06.2014 geltende Fassung
des §
59 SGB VI anzuwenden. Eine Anwendung der ab dem 01.07.2014 geltenden Neufassung des §
59 SGB VI ist ausgeschlossen.
Der Senat sieht ebenso wie das SG keinen Verstoß gegen den allgemeinen Gleichbehandlungsgrundsatz des Art.
3 Abs.
1 GG. Der Gesetzgeber kann grundsätzlich bei der Neuregelung von Lebenssachverhalten Stichtagsregelungen einführen, sofern hierfür
nachvollziehbare sachliche Gründe vorliegen (Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 27.02.2007, Az. 1 BvL 10/00, Rn 69 ff, insbesondere 73, veröffentlicht bei juris).
Das SG hat zu dem bereits zutreffend auf den Beschluss des Bundessozialgerichts - BSG - vom 30.12.2015, Az. B 13 R 345/15 B, hingewiesen. Zur Begründung des RV-Leistungsverbesserungsgesetzes hat die Bundesregierung im Rahmen des Rentenpakets darauf
hingewiesen, dass zwischenzeitlich eine schrittweise Anhebung des Renteneintrittsalters erfolgt ist, von der die bisherigen
Bestandsrentner nicht betroffen sind. Die durch Erhöhung der Zurechnungszeit um 2 Jahre begründete Rentenerhöhung kann insoweit
auch als Ausgleich für die Anhebung der gesetzlichen Altersgrenzen gesehen werden. Nach Ansicht des Gesetzgebers hat sich
im Übrigen die Finanzsituation der gesetzlichen Rentenversicherung gegenüber den 90er Jahren (nach der deutschen Wiedervereinigung)
stabilisiert, so dass begrenzte Leistungsverbesserungen die Funktionsfähigkeit des Systems der gesetzlichen Rentenversicherung
nicht gefährden. Eine Gefährdung des Systems als solchem wäre aber nicht ausgeschlossen, wenn Leistungsverbesserungen nicht
nur für Neurentner Anwendung finden müssten, sondern alle Bestandsrentner in den Genuss dieser Leistungen kämen. Die Funktionsfähigkeit
des Rentenversicherungssystems als solches ist nach ständiger Rechtsprechung des BSG und des BVerfG ein übergeordnetes Gut des Gemeinwohls, das eine sachliche Differenzierung im Sinne des Art
3 Abs.
1 GG und auch eine Stichtagsregelung für die Anwendung einer gesetzlichen Neuregelung rechtfertigen kann. Eine Willkürlichkeit
der Stichtagsregelung durch das Rentenversicherungsleistungsverbesserungsgesetz vermag der Senat nicht zu erkennen.
Nach alledem war die Berufung gegen den Gerichtsbescheid des SG Nürnberg vom 06.06.2016 als unbegründet zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf §
193 SGG.
Gründe, die Revision gemäß §
160 Abs.
2 Nr.
1 und
2 SGG zuzulassen, liegen nicht vor.