Zum Prüfungs- und Entscheidungsbefugnis des Beschwerdegerichts bei der Beschwerde gegen eine einstweilige Anordnung im sozialgerichtlichen
Verfahren; Zulässigkeit einer Änderung prozentualer Abschläge beim Anspruch auf Arbeitslosengeld II
Gründe
I.
Streitig ist im Eilverfahren, ob dem aus Bulgarien stammenden Antragsteller Arbeitslosengeld II zusteht oder ob er wegen des
Aufenthaltsrechts zum Zweck der Arbeitssuche nach § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 Zweites Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) vom Leistungsbezug ausgeschlossen ist.
Der 1971 geborene Antragsteller ist bulgarischer Staatsangehöriger. In der Ukraine absolvierte er ein Studium zum Sozialpädagogen.
Er lebt seit Oktober 2013 in Deutschland und wohnt in einer Wohnung seiner Schwester. Unterkunftskosten entstehen dem Antragsteller
dadurch nicht. Er habe lediglich einen Anteil an den Stromkosten zu tragen.
Am 05.02.2014 stellte der Antragsteller erstmals einen Antrag auf Arbeitslosengeld II beim Antragsgegner. Dies wurde mit Bescheid
vom 19.02.2014 abgelehnt. In einem ersten Eilverfahren wurde der Antragsgegner vorläufig verpflichtet, dem Antragsteller bis
31.07.2014 vorläufig Leistungen in Höhe von 70 % des maßgeblichen Regelbedarfs zu gewähren (SG Landshut, Az. S 5 AS 182/14 ER). Der Antragsteller besuchte ab Februar 2014 einen Deutschkurs/Integrationskurs.
Am 10.07.2014 beantragte der Antragsteller erneut Arbeitslosengeld II beim Antragsgegner. Mit Bescheid vom 23.07.2014 wurde
dies erneut abgelehnt. Es bestehe kein Leistungsanspruch, weil nur ein Aufenthaltsrecht zum Zwecke der Arbeitssuche vorliege.
Der dagegen eingelegte Widerspruch wurde mit Widerspruchsbescheid vom 11.08.2014 abgewiesen. Dagegen wurde am 23.08.2014 Klage
erhoben (Az. ).
Bereits am 30.07.2014 beantragte der Antragsteller beim Sozialgericht Landshut den Erlass einer einstweiligen Anordnung zur
Gewährung von Arbeitslosengeld II für die Zeit ab 01.08.2014. Vorgelegt wurden diverse Bewerbungsschreiben und Absagen für
verschiedene berufliche Tätigkeiten (Hausmeister, Softwareentwickler, Techniker-Elektrotechnik, Elektroniker, Ausbildungsplätze
als Fachinformatiker oder Technischer Systeminformatiker).
Mit Beschluss vom 04.08.2014 verpflichtete das Sozialgericht den Antragsgegner, dem Antragsteller für die Zeit vom 01.08.2014
bis 31.01.2015 monatlich 60 % des maßgeblichen Regelbedarfs zu gewähren und lehnte den Antrag im Übrigen ab. Der Antrag auf
Erlass einer Regelungsanordnung sei zulässig und unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts teilweise
begründet. Der Antragsteller erfülle die Anspruchsvoraussetzungen des § 7 Abs. 1 S. 1 SGB II. Zweifelhaft sei lediglich, ob der Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II dem Leistungsanspruch entgegenstehe. Der Antragsteller verfüge lediglich über ein Aufenthaltsrecht, das sich aus dem Zweck
der Arbeitssuche ergebe (§ 2 Abs. 2 Nr. 1 Alt. 2 FreizügG/EU). Diese Frage sei höchstrichterlich noch nicht geklärt und in Rechtsprechung und Literatur sehr umstritten. Im Hinblick auf
die beim EuGH anhängigen Verfahren und wegen der Gefährdung der Grundrechte des einkommens- und vermögenslosen Antragstellers
sei es erforderlich, jedoch auch ausreichend, dem Antragsteller 60 % des maßgeblichen Regelbedarfs vorläufig zu gewähren.
Damit seien die Kosten für Nahrung und Strom abgedeckt sowie der Krankenversicherungsschutz sichergestellt. Zur im Vergleich
zum vorherigen Eilverfahren weiteren Verringerung der Leistung um 10 % des maßgeblichen Regelbedarfs werde auf das Votum des
Generalanwalts beim EuGH in der Rechtssache C-333/13 vom Mai 2014 verwiesen, wonach der Leistungsausschluss im Fall des fehlenden Bezugs zum Arbeitsmarkt europarechtskonform
sei.
Am 25. August 2014 hat der Antragsteller Beschwerde gegen den Beschluss des Sozialgerichts eingelegt. Dem Antragsteller seien
nicht nur 60 % des Regelbedarfs zuzusprechen, sondern der volle Regelbedarf. Ferner wurde die Gewährung von Prozesskostenhilfe
beantragt.
Am 05.09.2014 hat der Antragsgegner Anschlussbeschwerde gegen den Beschluss des Sozialgerichts eingelegt. Der Beschluss sei
aufzuheben und der Eilantrag abzulehnen. Der Beschwerdeführer habe keinen Bezug zum deutschen Arbeitsmarkt. Der Leistungsausschluss
nach § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II sei daher anwendbar.
II.
1. Die Beschwerde des Antragstellers ist zulässig, aber nur zum Teil begründet. Der Abschlag vom Regelbedarf ist auf 30 %
zu reduzieren.
a) Das Sozialgericht hat dem Antragsteller zu Recht Arbeitslosengeld II mit Abschlag zugesprochen.
Das Beschwerdegericht schließt sich gemäß §
142 Abs.
2 Satz 3
SGG der Begründung des Sozialgerichts an und weist die Beschwerde des Antragstellers - soweit ihr nicht durch Reduzierung des
Abschlags stattgegeben wird - aus den Gründen der angefochtenen Entscheidung zurück. Das Sozialgericht hat überzeugend dargelegt,
wie sich die komplexe Rechtslage bezüglich des Leistungsausschlusses nach § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II derzeit darstellt und welche Konsequenzen dies für den vorliegenden Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung hat.
Ergänzend wird auf den Beschluss des erkennenden Senats vom 06.11.2013, L 7 AS 639/13 B ER, verwiesen.
b) Im Eilverfahren ist auch bei existenzsichernden Leistungen ein Abschlag von der vollen Leistung möglich (Bundesverfassungsgericht,
Beschluss vom 12.05.2005, 1 BvR 569/05, Rn. 26). Allerdings erscheint ein Abschlag von mehr als 30 % des Regelbedarfs hier nicht als angezeigt. Nur insoweit war
die Entscheidung des Sozialgerichts zu korrigieren.
Ob und in welcher Höhe im Eilverfahren ein Abschlag vorgenommen wird, ist eine Einzelfallentscheidung.
Für einen Abschlag von 30 % vom Regelbedarf spricht hier, dass einer Vorwegnahme der Hauptsache bei Geldleistungen an den
einkommens- und vermögenslosen Antragsteller bei geringer Rückzahlungswahrscheinlichkeit durch einen fühlbaren Abschlag zu
begegnen ist. In allen Bereichen der Abteilungen der Verbrauchsausgaben nach § 5 RBEG erscheinen moderate Einsparungen oder
Verschiebungen von Ausgaben als möglich. Da der Antragsteller für die Wohnung - abgesehen vom Haushaltsstrom - keine Ausgaben
hat, sind in der Abteilung 4 (Wohnen, Energie und Wohnungsinstandhaltung) sowie in der Abteilung 5 (Innenausstattung, Haushaltsgeräte
und -gegenstände) sogar erhebliche Einsparungen möglich. In § 31a Abs. 3 SGB II hat der Gesetzgeber deutlich gemacht, dass bei einer Sanktion von bis zu 30 % des Regelbedarfs ergänzende Sachleistungen
oder geldwerte Leistungen nicht zu erbringen sind.
Ein Abschlag von 40 % des Regelbedarfs hält das Beschwerdegericht dagegen für zu hoch. Für eine tatsächliche materielle Unterstützung
durch seine Schwester oder Dritte beim Regelbedarf gibt es wenig Anhaltspunkte. Die Schlussanträge des Generalanwalts am EuGH
sprechen zwar gegen eine Erfolgsaussicht in der Hauptsache, ändern aber nichts an der Höhe des ungedeckten existentiellen
Bedarfs.
Das Beschwerdegericht ist auch berechtigt, die Entscheidung des Sozialgerichts über die Höhe des Abschlags zu ändern.
Nach allgemeiner Auffassung hat das Gericht kein Ermessen hinsichtlich des "Ob" einer einstweiligen Anordnung, wogegen das
"Wie", also welchen Inhalt die Anordnung hat, im Ermessen des Gerichts steht, §
86b Abs.
2 S. 4
SGG i.V.m. §
938 Abs.
1 Zivilprozessordnung -
ZPO (vgl. Keller in Meyer-Ladewig,
Sozialgerichtsgesetz, 11. Auflage 2014, §
86b Rn 30). Es kann offen bleiben, ob die Festlegung der Höhe der Geldleistung bei einem auf Geldleistung gerichteten Eilantrag
eine Entscheidung über das "Ob" oder das "Wie" der Anordnung ist. Das Beschwerdegericht hat eine umfassende Entscheidungsbefugnis
und trifft auch hinsichtlich des Inhalts der einstweiligen Anordnung eine eigene Ermessensentscheidung (Keller, a.a.O., §
86b Rn 21 für den Bereich der aufschiebenden Wirkung). Deshalb ist das Beschwerdegericht an die Entscheidung des Sozialgerichts
über die Höhe des Abschlags nicht gebunden.
Das Gericht gestattet sich folgenden Hinweis: Die Bemühungen des Antragstellers um Arbeits- oder Ausbildungsplätze sind an
sich begrüßenswert. Es erschließt sich aber nicht, wieso sich ein Sozialpädagoge auf ausgewiesene Arbeitsplätze für Techniker
bewirbt. Ungünstig erscheint auch, dass sich der Antragsteller immer als "zuverlässige Mitarbeiterin" bewirbt.
2. Die Beschwerde des Antragsgegners ist zulässig aber nicht begründet.
Wie zuvor dargelegt, schließt sich das Beschwerdegericht gemäß §
142 Abs.
2 S. 3
SGG den überzeugenden Ausführungen des Sozialgerichts an, dass im vorliegenden Fall die verfassungsrechtliche Abwägung zu einer
reduzierten Leistungsgewährung im Eilverfahren führt. Die auf Ablehnung des Eilantrags zielende Beschwerde des Antragsgegners
ist daher zurückzuweisen.
3. Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung von §
193 SGG.
Der Antragsteller war in beiden Instanzen zu sieben Zehntel erfolgreich. Im Beschwerdeverfahren ist auch die erfolgreiche
Verteidigung gegen die Beschwerde des Antragsgegners zu berücksichtigen.
4. Dem Antragsteller ist gemäß §
73a SGG i.V.m. §
114 ff
ZPO Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlung zu gewähren. Er verfügt nicht über ausreichendes Einkommen oder einzusetzendes Vermögen
nach §
115 ZPO. Die hinreichende Erfolgsaussicht war gemäß §
118 Abs.
1 S. 2
ZPO nicht zu prüfen, weil (auch) der Gegner das Rechtsmittel eingelegt hat. Wegen der Schwierigkeiten der Rechtsfragen und der
Bedeutung der Angelegenheit war antragsgemäß die Rechtsanwälte-Partnerschaft B. nach §
121 Abs.
2 ZPO beizuordnen (zur Beiordnung einer Partnerschaft Leitherer in Meyer-Ladewig,
Sozialgerichtsgesetz, 11. Auflage 2014, §
73 Rn 8a).
5. Dieser Beschluss ist gemäß §
177 SGG unanfechtbar.