Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Sozialgericht im sozialgerichtlichen Verfahren; Keine Entscheidung in der Sache;
Kein Eintritt der Bekanntgabefiktion eines Verwaltungsakts bei fehlender Dokumentation
Tatbestand
Streitig sind die Aufhebung der Bewilligung von Arbeitslosengeld (Alg) für die Zeit vom 25.02.2013 bis 29.04.2013, die Erstattung
überzahlter Leistungen iHv 1.824,55 EUR und eine Aufrechnung.
Der Kläger meldete sich am 31.07.2012 bei der Beklagten arbeitslos und beantragte die Zahlung von Alg. Am 22.08.2012 bestätigte
er das Merkblatt 1 für Arbeitslose erhalten und zur Kenntnis genommen zu haben. Die Beklagte bewilligte mit Bescheid vom 28.08.2012
Alg für die Zeit vom 31.07.2012 bis 29.07.2013 iHv 28,07 EUR täglich.
Im Vorfeld eines bezahlten Praktikums des Klägers bei der Firma K. E. T. in T. (E.) vom 25.02.2013 bis 29.04.2013 gab es verschiedene
Telefonkontakte des Klägers und seines Vaters mit der Beklagten, bei denen es um dieses Praktikum ging. Im Rahmen einer persönlichen
Vorsprache am 30.04.2013 erfuhr die Beklagte schließlich, dass das Praktikum tatsächlich vom Kläger absolviert worden war.
Nach Anhörung des Klägers hob sie mit Bescheid vom 27.06.2013 die Bewilligung von Alg für die Zeit vom 25.02.2013 bis 29.04.2013
auf, forderte die Erstattung überzahlter Leistungen iHv 1.824,55 EUR und erklärte die Aufrechnung iHv 14,03 EUR täglich. Auf
dem Bescheid war in der linken oberen Ecke lediglich der Vermerk "abgesandt am" angebracht, ohne dass ein Datum benannt wurde.
Gleichzeitig wurde mit Änderungsbescheid vom 27.06.2013 die Höhe der Leistungsbewilligung für die Zeit vom 25.02.2013 bis
29.04.2013 auf 0 EUR festgesetzt und für die Zeit vom 30.04.2013 bis 04.10.2013 Alg iHv 28,07 EUR täglich bewilligt. Im Hinblick
auf eine Beschäftigungsaufnahme des Klägers hob die Beklagte mit Bescheid vom 02.07.2013 die Bewilligung von Alg ab dem 01.07.2013
auf.
Der Bevollmächtigte des Klägers legte gegen den Bescheid vom 27.06.2013 am 07.08.2013 unter Vorlage einer auf einen "Aufhebungs-
und Erstattungsbescheid ALG I" bezogenen Vollmacht vom 19.07.2013 Widerspruch ein, den die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 02.09.2013 als unzulässig
verwarf, da die Widerspruchsfrist nicht eingehalten worden sei. Der Bescheid gelte am dritten Tag nach Aufgabe zur Post als
zugegangen, so dass die Widerspruchsfrist am 30.07.2013 abgelaufen sei.
Dagegen hat der Kläger Klage zum Sozialgericht Bayreuth (SG) erhoben. Er sei wegen seiner Arbeit nicht vor Ort gewesen und nur am Wochenende heimgekommen. Der Bescheid sei ihm verspätet
zugegangen. Mit Gerichtsbescheid vom 30.06.2014 hat das SG die Klage unter Bezugnahme auf die Ausführungen im Widerspruchsbescheid abgewiesen (Ziffern II. und III.).
Der Kläger hat dagegen Berufung zum Bayerischen Landessozialgericht eingelegt. Er sei jederzeit verfügbar gewesen, da er das
Praktikum - er sei diesbezüglich zunächst von einem unentgeltlichen ausgegangen - jederzeit hätte abbrechen können. Auch sei
dies zuvor mit der Beklagten besprochen worden.
Der Kläger beantragt,
die Ziffern II. und III. des Gerichtsbescheides des Sozialgerichts Bayreuth vom 30.06.2014 aufzuheben und den Rechtsstreit
zur erneuten Entscheidung an das Sozialgericht Bayreuth zurückzuverweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hat ausgeführt, der Bescheid sei bei der Agentur für Arbeit vor Ort erstellt und anschließend über einen zentralen Druck
ausgedruckt und zur Post gegeben worden.
Zur Ergänzung des Sachverhalts wird auf die Verwaltungsakten der Beklagten und die Gerichtsakten erster und zweiter Instanz
Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung ist zulässig (§§
143,
144,
151 Sozialgerichtsgesetz -
SGG-) und im Sinne einer Zurückverweisung des Rechtsstreits an das SG begründet. Das SG hat die Klage zu Unrecht unter Bezugnahme auf die Gründe des Widerspruchsbescheides vom 02.09.2013 abgewiesen. Von der Unzulässigkeit
des Widerspruchs des Klägers gegen den Bescheid vom 27.06.2013 konnte nicht aufgrund der Zugrundelegung einer 3-Tages-Frist
ausgegangen werden.
Nach §
84 Abs
1 Satz 1
SGG ist der Widerspruch binnen eines Monats, nachdem der Verwaltungsakt dem Beschwerten bekanntgegeben worden ist, schriftlich
oder zur Niederschrift bei der Stelle einzureichen, die den Verwaltungsakt erlassen hat. Unklar ist vorliegend, wann der Bescheid
der Beklagten vom 27.06.2013 dem Kläger bekanntgegeben worden ist. Maßgeblich ist bei einem schriftlichen Verwaltungsakt dabei,
wann dieser so in den Machtbereich des Empfängers gelangt, dass bei gewöhnlichem Verlauf und normaler Gestaltung der Verhältnisse
mit dessen Kenntnisnahme zu rechnen ist; eine tatsächliche Kenntnisnahme ist dabei nicht erforderlich (vgl dazu im Einzelnen:
Engelmann in von Wulffen/Schütze, SGB X, 8. Aufl, § 37 Rn 4 mwN). Weder das SG noch die Beklagte haben vorliegend zu ermitteln versucht, wann der Bescheid vom 27.06.2013 tatsächlich in den Machtbereich
des Klägers - wohl seinen Briefkasten - gelangt ist. Auch kann aus den (bisherigen) Angaben des Klägers nicht darauf geschlossen
werden, wann er den Bescheid tatsächlich erhalten hat. Vielmehr hat er diesbezüglich nur ausgeführt, er habe diesen verspätet
erhalten. Auch wenn die Ortsabwesenheit für den Zugang des Bescheides unerheblich sein könnte, hat das SG hier keinen konkreten Zeitpunkt ermittelt oder festgestellt.
Soweit sich die Beklagte und das SG auf die Fiktionswirkung des § 37 Abs 2 Satz 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) stützen, geht diese Annahme fehl. Danach gilt ein schriftlicher Verwaltungsakt, der im Inland durch die Post übermittelt
wird, am dritten Tag nach der Aufgabe zur Post als bekannt gegeben. Unabhängig davon, dass dies nicht gilt, wenn der Verwaltungsakt
nicht oder zu einem späteren Zeitpunkt zugegangen ist und im Zweifel die Behörde den Zugang des Verwaltungsaktes und den Zeitpunkt
des Zugangs nachzuweisen hat (§ 37 Abs 2 Satz 3 SGB X), fehlt es für den Eintritt der Fiktionswirkung bereits an der Ermittlung des Tages der Aufgabe des Bescheides vom 27.06.2013
zur Post. Voraussetzung für die Bekanntgabefiktion ist die Feststellung des Zeitpunktes, zu dem der maßgebende Verwaltungsakt
zur Post gegeben wurde (vgl Sächsisches LSG, Urteil vom 24.01.2013 - L 3 AL 112/11 - [...] - mwN; Engelmann in von Wulffen/Schütze, SGB X, 8. Aufl, § 37 Rn 12a). Regelmäßig erfolgt die Dokumentation durch einen Vermerk in den Verwaltungsakten, wann der Bescheid zur Post gegeben
worden ist. Fehlt ein entsprechender Vermerk über den Tag der Postaufgabe, tritt grundsätzlich keine Bekanntgabefiktion ein
(vgl BSG, Urteil vom 03.03.2009 - B 4 AS 37/08 R - SozR 4-4200 § 22 Nr 15; Engelmann aaO; Mutschler in Kasseler Kommentar zum Sozialversicherungsrecht, Stand: Oktober 2014,
§ 37 SGB X Rn 17). Hier hat die Beklagte bei dem Vermerk der Aufgabe zur Post kein Datum angebracht, so dass eine entsprechende Dokumentation
nicht erfolgt ist. Es ist nicht einmal dokumentiert, wann der Bescheid zentral gedruckt worden und von dort ausgelaufen sein
soll. Auch findet sich in den Unterlagen der Beklagten kein anderer Hinweis, wann der Bescheid zur Post gegeben worden ist
(zu einer anderen Form des Nachweises als durch Vermerk in den Akten oder auf dem Bescheid: LSG Rheinland-Pfalz, Urteil vom
30.09.2010 - L 1 AL 122/09 - [...]). Da sich die Beklagte auf die nicht fristgerechte Einlegung des Widerspruchs beruft, trifft sie die Feststellungslast
der Nichterweislichkeit des Zugangszeitpunktes. Letztlich ist eine Bekanntgabe erst im Zeitpunkt der Vollmachtserteilung des
Klägers an seinen Bevollmächtigten am 19.07.2013 sicher nachzuweisen. Auf dieser Vollmacht ist der "Aufhebungs- und Erstattungsbescheid
ALG I" vermerkt. Der Bescheid vom 27.06.2013 ist damit jedenfalls am 19.07.2013 dem Kläger bekannt geworden. Anhaltspunkte für
einen konkreten früheren Zugangszeitpunkt gibt es nicht und solche wurden auch nicht von der Beklagten belegt. Ausgehend hiervon
war die Widerspruchseinlegung am 07.08.2013 - die Widerspruchsfrist lief richtigerweise erst am 19.08.2013 ab (§
84 Abs
1 Satz 1
SGG i.V.m. §?64
SGG bzw §§?26, 62 SGB?X, §§
187 ff
Bürgerliches Gesetzbuch -
BGB-) - noch fristgerecht, der Widerspruch damit zulässig. Damit hat das SG zu Unrecht die Unzulässigkeit des Widerspruchs des Klägers unter Zugrundelegung einer 3-Tages-Fiktion zur Bestimmung der
Bekanntgabe des angefochtenen Verwaltungsaktes angenommen.
Eine Entscheidung in der Sache durch das SG liegt nicht vor, da die Klage allein aus formellen Gründen ohne eigentliche Sachprüfung abgewiesen worden ist (vgl dazu BSG, Urteil vom 18.02.1981 - 3 RK 61/80 - SozR 1500 §
159 Nr 2 = BSGE 51, 202; Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer,
SGG, 11. Auflage 2014, § 159 Rn 2b). Der Gerichtsbescheid des SG vom 30.06.2014 war deshalb aufzuheben und der Rechtsstreit an das SG zur erneuten Entscheidung zurückzuverweisen (§
159 Abs
1 Nr
1 SGG). Bei einer Zurückverweisung nach §
159 Abs
1 Nr
1 SGG hat der Senat sein Ermessen dahingehend auszuüben, ob er die Sache selbst entscheiden oder zurückverweisen will. Die Zurückverweisung
soll die Ausnahme sein (Keller aaO § 159 Rn 5a). In Abwägung zwischen den Interessen der Beteiligten an der Sachentscheidung
sowie den Grundsätzen der Prozessökonomie hält es der Senat vorliegend für angezeigt, den Rechtsstreit an das SG zurückzuverweisen.
Nach der Zurückverweisung wird das SG in der Sache zu prüfen haben, ob die Aufhebung der Alg-Bewilligung für die Zeit vom 25.02.2013 bis 29.04.2013, die Erstattungsforderung
in Bezug auf überzahlte Leistungen iHv 1.824,55 EUR und die erklärte Aufrechnung iHv 14,03 EUR täglich rechtmäßig war.
Nach § 48 Abs 1 Satz 2 Nr 2 SGB X i.V.m. §
330 Abs
3 Satz 1 Drittes Buch Sozialgesetzbuch (
SGB III) ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung aufzuheben, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei
dessen Erlass vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eingetreten ist, der Betroffene eine durch Rechtsvorschrift vorgeschriebene
Pflicht zur Mitteilung wesentlicher für ihn nachteiliger Änderung der Verhältnisse vorsätzlich oder grob fahrlässig nicht
nachgekommen ist und die Fristen des § 48 Abs 4 SGB X eingehalten sind. Dies gilt nach § 48 Abs 1 Satz 2 Nr 4 SGB X auch dann, wenn der Betroffene wusste oder nicht wusste, weil er die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt
hat, dass der sich aus dem Verwaltungsakt ergebende Anspruch kraft Gesetzes zum Ruhen gekommen oder ganz oder teilweise weggefallen
ist.
Zwar dürfte in der Sache viel dafür sprechen, dass mit der Tätigkeitsaufnahme bei E. ab dem 25.02.2013 die Voraussetzungen
des Anspruchs auf Alg im Hinblick auf die Beschäftigungslosigkeit (§
138 Abs
1 Nr
1 SGB III) und nach der wegen fehlender Beschäftigungslosigkeit von mehr als sechs Wochen im Anschluss entfallenen Wirkung der persönlichen
Arbeitslosmeldung (§
141 Abs
2 Nr
1 SGB III) weggefallen sind. Allerdings erscheint offen, ob der Kläger insofern grob fahrlässig seine Mitteilungsverpflichtung verletzt
hat. Diesbezüglich wäre der Inhalt der zuvor durch den Kläger und dessen Vater mit der Beklagten geführten Gespräche zu ermitteln.
Es erscheint nach den Vermerken der Beklagten keinesfalls ausgeschlossen, dass die Aufnahme des Praktikums zum 25.02.2013
tatsächlich rechtzeitig mitgeteilt worden ist. Ebenfalls offen ist deshalb auch, inwieweit der Kläger nach seinen subjektiven
Fähigkeiten grob fahrlässig nicht gewusst haben soll, dass er keinen Anspruch auf Alg gehabt hat. Zwar hat er den Erhalt und
die Kenntnisnahme des Merkblattes 1 für Arbeitslose erhalten und seiner Bestätigung nach auch zur Kenntnis genommen. Ob er
jedoch im Hinblick auf die zuvor mit der Beklagten geführten Gespräche von einem Weiterbestehen des Anspruchs auf Alg trotz
Aufnahme des Praktikums ausgehen konnte, wird dann noch zu klären sein.
Das SG wird im Rahmen der erneuten Entscheidung über die Kosten insgesamt zu befinden haben (vgl Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer,
SGG, 11. Aufl, §
193 Rn 2a).
Gründe, die Revision gemäß §
160 Abs
2 Nr
1 und
2 SGG zuzulassen, liegen nicht vor.