LSG Bayern, Urteil vom 11.05.2015 - 12 EG 28/10
Kein Anspruch auf Gewährung von Elterngeld im Maßregelvollzug bei Aufenthalt in einer Entwöhnungseinrichtung für suchtmittelabhängige
Patientinnen mit Kindern
1. Das Tatbestandsmerkmal "Haushalt" wird vom Bundessozialgericht in Anlehnung an die frühere Rechtsprechung zum Bundeselterngeld
dahingehend ausgelegt, dass eine Familiengemeinschaft erforderlich ist, die eine Schnittstelle von Merkmalen örtlicher (Familienwohnung),
materieller (Vorsorge, Unterhalt) und immaterieller Art (Fürsorge und Zuwendung) darstellt, wobei sich diese drei Merkmale
überschneiden können, jedoch keines davon gänzlich fehlen darf ("sozialrechtlicher Haushaltsbegriff").
2. Es ist unabhängig vom Lockerungsgrad im Maßregelvollzug davon auszugehen, dass keine eigene Wirtschaftsführung vorliegt.
Normenkette: BEEG § 1 Abs. 1 Nr. 2 ,
BEEG § 1 Abs. 1
Vorinstanzen: SG Regensburg 01.03.2010 S 15 EG 32/09
Tenor I.
Die Berufung gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Regensburg vom 01.03.2010 wird zurückgewiesen.
II.
Die außergerichtlichen Kosten der Klägerin im Berufungsverfahren sind nicht zu erstatten.
III.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Entscheidungstext anzeigen:
Tatbestand
Streitig ist die Gewährung von Elterngeld für den 2009 geborenen A ... Mit Antrag vom 23.9.2009 beantragte die Klägerin, Mutter
von A., Elterngeld. Die Klägerin ist verwitwet, ihr Mann starb 2008. Nach den Angaben im Antragsformular war die Klägerin
über die Justiz krankenversichert und erhielt Justiztaschengeld in Höhe von 96 EUR monatlich. Mit Bescheid vom 29.9.2009 lehnte
der Beklagte die Gewährung von Elterngeld ab. Einen Anspruch auf Elterngeld habe, wer mit seinem Kind in einem gemeinsamen
Haushalt lebe. Dies sei der Fall, wenn das Kind mit dem Elternteil eine auf Dauer angelegte häusliche Gemeinschaft habe, in
der es betreut werde. Diese Voraussetzungen seien bei einem Wohnsitz im Bezirkskrankenhaus nicht erfüllt. Mit ihrem Widerspruch
trug die Klägerin vor, dass sie ihr Kind selbst erziehe und sich auch um die Versorgung des Kindes alleinverantwortlich kümmern
müsse. Der Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 9.11.2009 zurück. Nach den Richtlinien könne in einer
Justizvollzugsanstalt oder auch in einer Erziehungsanstalt ein Haushalt nicht begründet werden. Hiergegen legte die Klägerin
Klage zum Sozialgericht Regensburg (SG) ein. Sie sei in einer Entwöhnungseinrichtung für suchtmittelabhängige Patientinnen mit Kindern untergebracht. Diese Einrichtung
nehme in Ausnahmefällen auch Patientinnen im Maßregelvollzug auf. Voraussetzung hierbei sei, dass die Patientinnen eine Lockerungsstufe
hätten, die einem offenen Vollzug ähnlich sei. Die Klägerin habe Lockerungsstufe C erreicht und erhalte dementsprechend regelmäßig
Ausgänge. Andere Maßregelpatientinnen hätten während des Aufenthalts in der Bezirksklinik Elterngeld bezogen. Da sie ihren
Sohn selbst betreuen müsse, müsse sie Bekleidung, Windeln, Pflegeprodukte, aber auch Kinderwagen, Wippe, Krabbeldecke usw.
selbst besorgen. Dies sei ohne Elterngeld nicht möglich. Der Beklagte führte demgegenüber aus, dass die Klägerin keine eigene
Wohnung habe. Damit fehle das Merkmal "Familienwohnung", so dass ein Anspruch auf Elterngeld nicht bestehe. Die Bezirksklinik
teilte im Fragebogen vom 15.1.2010 mit, dass die Klägerin ab 10.8.2009, mit Beginn ihrer therapeutischen Behandlung, Lockerungsstufe
C erhalten habe. Die Klägerin könne täglich Ausgänge machen. Sie müsse sich nur zu den Essens-, Schlafens- und Therapiezeiten
in der Station aufhalten. Mit Gerichtsbescheid vom 1.3.2010 wies das SG die Klage ab. Ein häusliches Zusammenleben könne nicht deshalb angenommen werden, weil sich die Klägerin in einer so genannten
Lockerungsstufe befinde, die einem offenen Vollzug in einer Justizvollzugsanstalt ähnlich sei. Maßgeblich sei letztlich, dass
das Bezirksklinikum die Gesamtverantwortung für die Lebensführung der Klägerin mit ihrem Kind übernommen habe. So habe die
Klägerin auch im Rahmen des erleichterten Vollzugs und den damit verbundenen Maßnahmeerleichterungen letztlich doch nicht
das Gestaltungsinstrumentarium zur Hand, das notwendig sei, um von einem eigenen Haushalt der Klägerin zu sprechen. Gegen
dieses Urteil legte die Klägerin Berufung ein. Die Klägerin sei sehr wohl für ihr Kind verantwortlich und habe auch sämtliche
Aufwendungen für den Sohn zu tragen, etwa Nahrung, Hygiene, Kleidung etc ... Damit handele es sich um ein familienhaftes Zusammenleben.
Die Klägerin müsse die Versorgung des Kindes selbst leisten und finanzieren. Auf Frage des Gerichts teilte die Klägerbevollmächtigte
mit, dass die Klägerin seit 1.4.2011 eine eigene Wohnung in A-Stadt bezogen habe und seit dem Ende der Therapie (September
2010) Arbeitslosengeld II beziehe. Die Klägerbevollmächtigte wies darauf hin, dass das Urteil des Bundessozialgerichts vom
4.9.2013 den gelockerten Vollzug nicht betreffe. Es sei ein Fall des geschlossenen Strafvollzugs entschieden worden, nicht
Fälle des offenen oder gelockerten Vollzugs. Auf Nachfrage des Senats teilte das Bezirksklinikum A-Stadt mit, dass sich die
Klägerin ab 10.8.2009 aufgrund von § 64 StGB mit der Lockerungsstufe C (Stadtausgang und Tagesurlaub) auf der Rehabilitationsstation für drogenabhängige Eltern mit ihren
Kindern befunden habe. Ab 25.6.2010 habe sie die Lockerungsstufe D erhalten (Ausgang mit Übernachtung). Die Klägerin habe
während des Aufenthalts im Bezirksklinikum kein eigenes Konto gehabt. Sie habe fortlaufend Justiztaschengeld, Kindergeld und
Essensgeld für ihren Sohn erhalten sowie einmalig eine Schwangerschaftshilfe. Es wurde ein Kontoblatt für die Klägerin übersandt,
aus dem sich ergibt, dass sie lediglich über das Justiztaschengeld in Höhe von 96,93 EUR monatlich verfügte, außerdem Kindergeld
in Höhe von monatlich 184 EUR und Essensgeld für A ... "Eigengeld" ist auf dem Kontoblatt erstmals am 24.5.2011 nachgewiesen.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Zur Ergänzung des Tatbestandes wird auf die beigezogene Beklagtenakte und die Gerichtsakten beider Instanzen verwiesen.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Berufung ist unbegründet. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf die Gewährung von Elterngeld für ihren Sohn A
... Nach § 1 Abs. 1 BEEG in der maßgeblichen Fassung des BEEG, zuletzt geändert durch Gesetz vom 28.3.2009 (Bundesgesetzblatt I Seite 634) hat Anspruch auf Elterngeld, wer seinen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland hat (Nr. 1), mit seinem Kind
in einem Haushalt lebt (Nr. 2), dieses Kind selbst betreut und erzieht (Nr. 3) und keine oder keine volle Erwerbstätigkeit
ausübt (Nr. 4). Das Tatbestandsmerkmal "Haushalt" wird vom Bundessozialgericht in Anlehnung an die frühere Rechtsprechung
zum Bundeselterngeld dahingehend ausgelegt, dass eine Familiengemeinschaft erforderlich ist, die eine Schnittstelle von Merkmalen
örtlicher (Familienwohnung), materieller (Vorsorge, Unterhalt) und immaterieller Art (Fürsorge und Zuwendung) darstellt, wobei
sich diese drei Merkmale überschneiden können, jedoch keines davon gänzlich fehlen darf ("sozialrechtlicher Haushaltsbegriff").
Das Bundessozialgericht geht auch in den Fällen, in denen ein Berechtigter mit seinem Kind zusammenlebt und dieses betreut,
nur dann von einem "Haushalt" aus, wenn eine hinreichende eigene Wirtschaftsführung festzustellen ist (BSG Urteil vom 4.9.2013, B 10 EG 4/12 R, Rn. 22). Dabei genügt auch die Versorgung mit Kleidung, Windeln, Hygieneartikeln und Obst aus dem bezogenen Kindergeld nicht,
um eine eigene familienhafte Wirtschaftsführung zu begründen. Insoweit handelt es sich lediglich um eine ergänzende Versorgung
des Kindes, die für sich genommen die Voraussetzungen einer eigenständigen Wirtschaftsführung (Haushaltsführung) nicht erfüllt,
insbesondere wenn die Versorgung des Elterngeldberechtigten vollständig durch die Justiz erfolgt. Unter Zugrundelegung dieser
Rechtsprechung ist unabhängig vom Lockerungsgrad im Maßregelvollzug davon auszugehen, dass bei der Klägerin eine eigene Wirtschaftsführung
fehlt. Auch soweit sie ihren Sohn A. versorgte, standen ihr lediglich das eigene Justiztaschengeld, das Kindergeld und das
von der Justizkasse gezahlte Essensgeld für A. zur Verfügung. Eigengeld, das für eine eigene Wirtschaftsführung spräche, stand
der Klägerin erst lange nach Ablauf der Bezugsdauer (15.8.2010) ab Mai 2011 zur Verfügung. Bei dieser Ausgangslage stellt
sich die Frage einer Differenzierung zwischen einer Strafhaft und dem Maßregelvollzug mit verschiedenen Lockerungsstufen nicht.
Unabhängig davon fehlt es bei der Klägerin jedenfalls an einer eigenen Wirtschaftsführung. Ergänzend sei darauf hingewiesen,
dass die Klägerin zu diesem Zeitpunkt auch über keine Wohnung außerhalb des Bezirkskrankenhauses verfügte. Im Ergebnis war
die Berufung zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Die Revision war nicht zuzulassen, da die Frage der Haushaltsführung vom Bundessozialgericht bereits entschieden ist.
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