Tatbestand:
Die 1957 geborene Klägerin begehrt die Feststellung der Schwerbehinderteneigenschaft im Sinne von §
2 Abs.2 und §
69 Abs.1 des Sozialgesetzbuches - Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen (
SGB IX).
Auf den Erstantrag vom 10.09.2002 hat der Beklagte mit Bescheid des Amtes für Versorgung und Familienförderung A. vom 22.10.2002
die Feststellung einer Behinderung und eines GdB abgelehnt. Die (unfallbedingte) "Funktionsbehinderung des Ellenbogengelenks
rechts, Verminderung der groben Kraft des rechten Armes" ergebe einen GdB von lediglich 10. Der Widerspruch vom 30.10.2002
gegen den Bescheid des Amtes für Versorgung und Familienförderung A. vom 22.10.2002 ist mit Widerspruchsbescheid des Bayerischen
Landesamtes für Versorgung und Familienförderung vom 10.03.2003 zurückgewiesen worden.
In dem sich anschließenden Verfahren vor dem Sozialgericht Augsburg hat die Klägerin in der mündlichen Verhandlung vom 04.12.2003
die Klage zurückgenommen. Sie hat sich jedoch vorbehalten, je nach dem Ergebnis der voraussichtlichen Operation im Februar
2004 und dem weiteren Verlauf der Erkrankung einen Neufeststellungsantrag einzureichen.
Dieser ist am 14.09.2004 verwaltungsseitig eingegangen. Die Klägerin hat nicht nur Ellenbogenbeschwerden nach mehreren Operationen,
sondern auch Bauch- und Beinbeschwerden vorgetragen. Dr.med.H. K. hat mit Befundbericht vom 23.09.2004 einen Zustand nach
Radiusköpfchenresektion mit mehreren Operationen mit Streckhemmung und ausgeprägter Gebrauchsminderung des rechten Armes diagnostiziert,
daneben ein depressives Syndrom. Prof.Dr.med.K.B. hat mit pathologisch-anatomischem Bericht vom 01.04.2004 auf Knochen- und
Knorpelgewebe mit arthrotischen Veränderungen hingewiesen: fokale Fragmentierung der Knochenbälkchen (entnahmebedingt? traumatisch?).
Gestützt auf die versorgungsärztliche Stellungnahme nach Aktenlage vom 21.10.2004 hat der Beklagte mit dem streitgegenständlichen
Bescheid des Amtes für Versorgung und Familienförderung A. vom 28.10.2004 den GdB für die bestehende "Funktionsbehinderung
des Ellenbogengelenks rechts, Radiusköpfchenresektion" mit 20 bewertet.
Die Bevollmächtigten der Klägerin haben mit Widerspruch vom 10.11.2004 vorgetragen, dass die Klägerin die Feststellung eines
GdB von wenigstens 50 begehre. Eine weitere Begründung des Widerspruchs sei nicht vorgesehen, so dass um Bescheidung nach
Aktenlage gebeten werde.
Dementsprechend ist der Widerspruch vom 10.11.2004 gegen den Bescheid des Amtes für Versorgung und Familienförderung A. vom
28.10.2004 mit Widerspruchsbescheid des Bayerischen Landesamtes für Versorgung und Familienförderung vom 04.02.2005 zurückgewiesen
worden: Der GdB sei mit 20 richtig bewertet.
Im Rahmen des sich anschließenden sozialgerichtlichen Verfahrens hat Dr.med.H. K. mit Arztbrief vom 15.04.2005 mitgeteilt,
dass sich die Klägerin in dem angefragten Zeitraum ab September 2004 nicht mehr in seiner Behandlung befunden habe. Dr.med.E.
E. hat mit Befundbericht vom 09.05.2005 Schmerzen und Bewegungseinschränkung im rechten Ellenbogen nach einer durchgemachten
Radiusköpfchentrümmerfraktur 03/2001 beschrieben, ebenso einen Belastungsschmerz samt Kraftminderung. Insgesamt könne man
nicht mehr von einer Besserung der Beschwerden ausgehen; die Beschwerden würden sich eher langsam verschlechtern. Der nach
§
106 Abs.3 Nr.5 des Sozialgerichtsgesetzes (
SGG) gehörte Orthopäde und Chirurg Dr.med.A. U. hat mit Gutachten vom 15.07.2005 ausgeführt, dass bei der Klägerin zwar eine
Funktionsbehinderung des Ellenbogengelenks rechts samt Verminderung der groben Kraft des rechten Armes vorliegt. Aufgrund
seiner ambulanten Untersuchung vom 15.07.2005 ist der GdB jedoch nur mit 10 bewertet worden. Die Beiziehung aktueller neurologischer
Unterlagen werde befürwortet.
Im folgenden hat B. P. (Ärztin für Neurologie und Psychiatrie) mit Befundbericht vom 31.10.2005 ein chronisches Schmerzsyndrom
nach Radiuskopf-Fraktur rechts samt einem Verdacht auf eine psychogene Schmerzüberlagerung beschrieben. Mit ergänzender gutachterlicher
Stellungnahme vom 13.11.2005 hat Dr.med.A. U. an seiner Auffassung festgehalten, dass der GdB ab September 2004 mit 10 zu
bewerten sei. Die erhobenen neurologischen Befunde zeigen, dass hier keine Störung vorliegt, die einen messbaren GdB ergibt.
Daher ist keine weitere fachfremde Begutachtung erforderlich.
Die Bevollmächtigten der Klägerin haben mit Schriftsatz vom 29.11.2005 um Entscheidung durch Gerichtsbescheid gebeten.
Dementsprechend hat das Sozialgericht Augsburg mit Gerichtsbescheid vom 17.05.2006 die Klage gegen den Bescheid vom 28.10.2004
in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 04.02.2005 abgewiesen. Die "Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit"
würden in Ziff.26.18 für geringfügige Bewegungseinschränkungen, wie sie Dr.med.A. U. gemessen habe, einen GdB von 0 bis 10
vorsehen. Die vom Beklagten hierfür vorgenommene Einstufung von 20 liege somit über diesem Wert und sei nur im Hinblick auf
die außerordentlichen Schmerzen gerechtfertigt.
Die hiergegen gerichtete Berufung vom 22.06.2006 ging am 23.06.2006 im Bayerischen Landessozialgericht (BayLSG) ein. Zur Begründung
hoben die Bevollmächtigten der Klägerin hervor, dass diese Einschätzung völlig unangemessen sei und angesichts der bei der
Klägerin tatsächlich vorliegenden körperlichen Einschränkungen buchstäblich an der Realität vorbeigehen würde. Tatsächlich
sei die Klägerin als Rechtshänderin durch die feststellte Gesundheitsstörung fast vollständig an einem Gebrauch ihres rechten
Armes gehindert. Diesbezüglich handele es sich um einen Dauerschaden, da eine Besserung aus medizinischer Sicht nicht zu erwarten
sei.
Von Seiten des BayLSG wurden die Schwerbehinderten-Akten des Beklagten und die erstinstanzlichen Akten beigezogen. Nach Überprüfung
ersuchte das BayLSG die Bevollmächtigten der Klägerin mit Nachricht vom 25.07.2006, einen Gutachter nach §
109 SGG bis spätestens 15.09.2006 zu benennen. Der nach §
109 Abs.1
SGG benannte Gutachter Dr.med.F. S. hatte zwischenzeitlich seine Praxis an Dr.med.B. M. übergeben. Dieser teilte mit Schreiben
vom 16.10.2006 mit, dass er derzeit keine Gutachten erstellen könne. Die Bevollmächtigten der Klägerin wurden mit Nachricht
vom 19.10.2006 gebeten, ggf. bis 15.12.2006 einen anderen Gutachter gem. §
109 Abs.1
SGG zu benennen.
Die Bevollmächtigten der Klägerin nahmen mit Schriftsatz vom 23.10.2006 den Antrag nach §
109 SGG zurück und ersuchten um Entscheidung nach Aktenlage.
In der mündlichen Verhandlung vom 30.01.2007 beantragt die Bevollmächtigte der Klägerin entsprechend dem Schriftsatz vom 22.06.2005,
den Bescheid des Amtes für Versorgung und Familienförderung A. vom 28.10.2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides des
Bayerischen Landesamtes für Versorgung und Familienförderung vom 04.02.2005 sowie den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts
Augsburg vom 17.05.2006 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, die Schwerbehinderteneigenschaft mit einem GdB von mindestens
50 ab September 2004 festzustellen.
Der Bevollmächtigte des Beklagten stellt den Antrag,
die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Augsburg vom 17.05.2006 als unbegründet zurückzuweisen.
Zur Ergänzung des Tatbestandes wird auf die beigezogenen Schwerbehinderten-Akten des Beklagten sowie die Gerichtsakten erster
und zweiter Instanz Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung der Klägerin ist gem. §§
143,
144 und
151 des Sozialgerichtsgesetzes (
SGG) zulässig, aber unbegründet.
Das Sozialgericht Augsburg hat die Klage mit Gerichtsbescheid vom 17.05.2006 - S 11 SB 97/05 - zu Recht abgewiesen. Der Bescheid des Amtes für Versorgung und Familienförderung A. vom 28.10.2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides
des Bayerisches Landesamtes für Versorgung und Familienförderung vom 04.02.2005 ist zutreffend ergangen. Der Beklagte hat
den Grad der Behinderung (GdB) im Sinne von §
2 Abs.1 und §
69 Abs.1 des Sozialgesetzbuches - Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen (
SGB IX) mit Wirkung ab 14.09.2004 zutreffend mit 20 festgestellt. Die Klägerin ist nicht schwerbehindert im Sinne von §
2 Abs.2
SGB IX.
Menschen sind gemäß §
2 Abs.1
SGB IX behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger
als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft
beeinträchtigt ist. Sie sind von Behinderung bedroht, wenn die Beeinträchtigung zu erwarten ist.
Menschen sind gemäß §
2 Abs.2
SGB IX im Sinne des Teils 2 schwerbehindert, wenn bei ihnen ein GdB von wenigstens 50 vorliegt und sie ihren Wohnsitz, ihren gewöhnlichen
Aufenthalt oder ihre Beschäftigung auf einem Arbeitsplatz im Sinne des §
73 SGB IX rechtmäßig im Geltungsbereich dieses Gesetzbuches haben.
Auf Antrag des behinderten Menschen stellen die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) zuständigen Behörden das Vorliegen einer Behinderung und den GdB fest. Das KOV-VfG ist entsprechend anzuwenden, soweit nicht
das SGB X Anwendung findet. Die Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft werden als GdB nach 10-er Graden abgestuft
festgestellt. Die im Rahmen des § 30 Abs.1 BVG festgelegten Maßstäbe gelten entsprechend. Eine Feststellung ist nur zu treffen, wenn ein GdB von wenigstens 20 vorliegt
(§
69 Abs.1
SGB IX).
Die eingangs zitierten Rechtsnormen werden durch die "Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht
und nach dem Schwerbehindertengesetz 1996 bzw. 2004 und 2005" ausgefüllt. Wenngleich diese Verwaltungsvorschriften, herausgegeben
vom Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung, für das Gericht nicht zwingend bindend sind, werden sie dennoch regelmäßig
zur Gesetzesauslegung und als wertvolle Entscheidungshilfe herangezogen. Das Gebot der Gleichbehandlung, wie es in Art.3 Abs.1
des Grundgesetzes (
GG) normiert ist, erfordert es auch in diesem Fall, keinen anderen Bewertungsmaßstab als den üblichen anzulegen (vgl. Urteil
des 9a Senats des BSG vom 29.08.1990 - 9a/9 RVs 7/89 in "Die Sozialgerichtsbarkeit" 1991, S.227 ff. zu "Anhaltspunkte 1983").
Mit Urteilen vom 23.06.1993 - 9a/9 RVs 1/91 und 9a/9 RVs 5/92 (ersteres publiziert in BSGE 72, 285 = MDR 1994 S.78, 79) hat das BSG wiederholt dargelegt, dass den "Anhaltspunkten 1983" keine Normqualität zukommt; es handelt sich nur um antizipierte
Sachverständigengutachten. Sie wirken sich in der Praxis der Versorgungsverwaltung jedoch normähnlich aus. Ihre Überprüfung
durch die Gerichte muss dieser Zwitterstellung Rechnung tragen. - Die "Anhaltspunkte 1983" haben sich normähnlich entwickelt
nach Art der untergesetzlichen Normen, die von sachverständigen Gremien kraft Sachnähe und Kompetenz gesetzt werden. Allerdings
fehlt es insoweit an der erforderlichen Ermächtigungsnorm sowie an klaren gesetzlichen Vorgaben und der parlamentarischen
Verantwortung hinsichtlich der Besetzung des Gremiums sowie der für Normen maßgeblichen Veröffentlichung. - Hinsichtlich der
richterlichen Kontrolle der "Anhaltspunkte 1983" ergeben sich Besonderheiten, ungeachtet der Rechtsqualität der "Anhaltspunkte
1983". Sie sind vornehmlich an den gesetzlichen Vorgaben zu messen. Sie können nicht durch Einzelfallgutachten hinsichtlich
ihrer generellen Richtigkeit widerlegt werden; die Gerichte sind insoweit prinzipiell auf eine Evidenzkontrolle beschränkt.
Eine solche eingeschränkte Kontrolldichte wird in der Verwaltungsgerichtsbarkeit mit den Sachgesetzlichkeiten des jeweiligen
Regelungsbereiches und der Ausgestaltung durch den Gesetzgeber begründet (vgl. Papier, DÜV 1986, S.621 ff. und in Festschrift
für Ule, 1987, S.235 ff.). Eine solche Beschränkung in der gerichtlichen Kontrolle ist auch für die "Anhaltspunkte 1983" geboten,
weil sonst der Zweck der gleichmäßigen Behandlung aller Behinderten in Frage gestellt würde.
Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat mit Beschluss vom 06.03.1995 - BvR 60/95 (vgl. NJW 1995, S.3049, 3050) die Beachtlichkeit der "Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem
Schwerbehindertengesetz 1983" im verwaltungs- und sozialgerichtlichen Verfahren als "antizipierte Sachverständigengutachten"
bestätigt. Der in Art.3 des Grundgesetzes (
GG) normierte allgemeine Gleichheitssatz gewährleistet innerhalb des § 3 SchwbG nur dann eine entsprechende Rechtsanwendung, wenn bei der Beurteilung der verschiedenen Behinderungen regelmäßig gleiche
Maßstäbe zur Anwendung kommen. - Entsprechendes gilt auch für die neu gefassten "Anhaltspunkte 1996", die die zwischenzeitlich
gewonnenen Erkenntnisse und Fortschritte in der medizinischen Wissenschaft über die Auswirkungen von Gesundheitsstörungen,
die Rechtsprechung des BSG, zwischenzeitliche Änderungen der Rechtsgrundlagen sowie Erfahrungen bei der Anwendung der bisherigen
"Anhaltspunkte 1983" eingearbeitet haben (BSG mit Urteil vom 18.09.2003 - B 9 SB 3/03 R in SGb 2004 S.378) bzw. nunmehr die "Anhaltspunkte 2004 und 2005".
Hiervon ausgehend ist darauf hinzuweisen, dass der gerichtlich bestellte Sachverständige Dr.med.A. U. (Orthopäde und Chirurg)
gerichtsbekannt sehr erfahren ist. Er wird vor allem von den Sozialgerichten Augsburg und Ulm häufig als Gutachter herangezogen.
Er hat mit Gutachten nach Untersuchung vom 15.07.2005 schlüssig und überzeugend dargelegt, dass aus orthopädischer-chirurgischer
Sicht das Ausmaß der Bewegungseinschränkung im Bereich des rechten Ellenbogens trotz mehrerer Operationen gering ist (vgl.
"Messblatt obere Gliedmaßen" = S.16 des Gutachtens vom 15.07.2005).
Auch die Wirbelsäule ist in ihrer Beweglichkeit nur gering eingeschränkt. Lediglich die Lendenwirbelsäule wird steif gehalten
(vgl. "Meßblatt Wirbelsäule" = S.15 des Gutachtens vom 15.07.2005).
Aus chirurgisch-orthopädischer Sicht beträgt der Einzel-GdB entsprechend Rz 26.18 der "Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit"
maximal 10.
Die Ärztin für Neurologie und Psychiatrie B. P. hat mit Befundbericht vom 31.10.2005 ein chronisches Schmerzsyndrom nach Radiuskopffraktur
rechts samt Verdacht auf eine psychogene Schmerzüberlagerung diagnostiziert. In Berücksichtigung von Rz 18 der "Anhaltspunkte
für die ärztliche Gutachtertätigkeit" rechtfertigt dies, den GdB von 10 auf 20 anzuheben, wie dies der Beklagte zutreffend
getan hat.
Nach alledem ist die Berufung zurückzuweisen.
Die Entscheidung über die Kosten beruht auf §§
183,
193 SGG.
Gründe für die Zulassung der Revision sind nicht ersichtlich (§
160 Abs.2 Nrn.1 und 2
SGG).