Tatbestand:
Die Klägerin begehrt mit der Berufung die Bewertung ihrer organischen Störungen mit einem Einzel-Grad der Behinderung (GdB)
von mindestens 50 rückwirkend seit 1974.
Die 1951 geb. Klägerin stellte am 19.11.2001 erstmals einen Antrag auf Feststellung einer Behinderung. Mit Bescheid vom 15.03.2002
lehnte die Beklagte den Antrag mit der Begründung ab, die Gesundheitsstörung "Allergie" bedinge keinen GdB von wenigstens
20. Der dagegen eingelegte Widerspruch wurde mit Widerspruchsbescheid vom 05.06.2002 zurückgewiesen. Im dagegen gerichteten
Klageverfahren bestellte das Sozialgericht Landshut (SG) die Internistin, Fachärztin für Lungen- und Bronchialheilkunde und Ärztin für öffentliches Gesundheitswesen Dr. L. zur Sachverständigen,
die im Gutachten vom 27.01.2004 feststellte, dass seit dem 19.11.2001 ein Gesamt-GdB von 40 vorliege, wobei die Leiden bereits
seit Jahren bestünden und in den achtziger Jahren begonnen hätten. Folgende Gesundheitsstörungen lägen vor: 1. Psychovegetative
Störung mit Ausbreitung durch körperliche Symptome (Einzel-GdB 30), 2. Verlust aller Zähne (Einzel-GdB 20), 3. Blasenschwäche
(Einzel-GdB 10), 4. Krampfaderleiden (Einzel-GdB 10), 5. Allergie (Einzel-GdB 10). Im Erörterungstermin vom 27.01.2004 vor
dem SG (Az. S 13 SB 499/03 FdV) schlossen die Parteien einen gerichtlichen Vergleich, in dem sich der Beklagte bereit erklärte, unter Aufhebung des
Bescheides vom 15.03.2002 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 05.06.2002 bei der Klägerin ab dem 19.11.2001 den Gesamt-GdB
mit 40 zu bewerten und die im Gutachten von Dr. L. genannten Beeinträchtigungen anzuerkennen.
Am 04.02.2004 erließ der Beklagte einen Bescheid, wonach in Ausführung des am 27.01.2004 vor dem SG geschlossenen Vergleichs unter Aufhebung des Bescheides vom 15.03.2002 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 05.06.2002
ein GdB von 40 ab dem 19.11.2001 anerkannt werde.
Am 17.02.2004 legte die Klägerin gegen den Bescheid vom 04.02.2004 Widerspruch ein mit dem Antrag, den GdB für die Zeit ab
dem 19.11.2001 neu zu bewerten. Insbesondere seien eine Hirnleistungsschwäche und eine chronische Entzündung der Hirngefäße
(Enzephalitis) als Gesundheitsstörungen zu berücksichtigen. Dieser Widerspruch wurde durch Widerspruchsbescheid vom 01.04.2004
als unbegründet zurückgewiesen.
Am 19.07.2005 beantragte die Klägerin eine Erhöhung des GdB. Unter der vorgedruckten Frage, welche Gesundheitsstörungen seit
der letzten Feststellung neu aufgetreten seien, schrieb die Klägerin handschriftlich: Folgende Gesundheitsstörungen seien
"bei der letzten Feststellung" nicht berücksichtigt worden: Stoffwechselstörung, Nickelallergie, Autoimmunerkrankung, Fettstoffwechselerkrankung,
offenes Foramen mit toxischer Strahlungsqualität, Ausfälle im Endokrinum, GST-Mangel, bakterielle und Metallherde im Kiefer
(oben), Enzephalopathie, Schimmelpilz- und Steinkohlenteer-Allergie, Halswirbelsäulenbeschwerden. Beigefügt waren Unterlagen
von Dr.med. S., Dr. F. (Heilpraktiker), sowie des umweltanalytischen Labors Dr. M ... Der Beklagte zog einen Befundbericht
des praktischen Arztes Dr. K. sowie des Internisten Dr. V. bei und veranlasste eine Untersuchung durch die Prüfärztin des
Beklagten Dr.H. am 31.01.2006.
Mit Bescheid vom 21.02.2006 lehnte der Beklagte den Antrag vom 19.07.2005 ab, den Bescheid vom 04.02.2004 aufzuheben und eine
neue Feststellung nach §
69 SGB IX zu treffen. Der Beklagte führte u.a. aus, dass der bisher festgestellte GdB von 40 ausreichend die bestehenden Gesundheitsstörungen
berücksichtige. Eine Verschlechterung sei nicht objektivierbar. Den dagegen am 28.02.2006 eingelegten Widerspruch wies der
Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 21.04.2006 als unbegründet zurück.
Dagegen hat die Klägerin am 02.05.2006 beim SG Klage erhoben.
Mit zwei Schreiben vom 02.05.2006 und vom 03.05.2006 hat die Klägerin beantragt, den GdB für die Zeit von 1951 bis zum 18.11.2001
festzustellen. Mit Schreiben vom 04.05.2006 hat sie mitgeteilt, "mit Neuantrag, der mit Inkrafttreten ab 09.02.2004 zu werten
ist, sollen meine beiden Schreiben vom 02.05.2006 und 03.05.2006 als widerrufen gelten"; etwaige Gutachten und auf Vergleich
beruhende Bescheide seien wegen der nicht umfassenden Einbeziehung aller gesundheitlichen Beeinträchtigungen "von Geburt an
neu zu beurteilen".
Am 16.06.2006 hat sie beantragt, den GdB für den Zeitraum vom 05.01.1951 bis zum 08.02.2004 festzustellen.
Der ärztliche Dienst des Beklagten, Dr. med. R. M., Facharzt für Chirurgie und Sozialmedizin, hat hierzu am 12.07.2006 Stellung
genommen: Eine rückwirkende Feststellung könne frühestens ab dem Jahr 1995 erfolgen. In diesem Jahr seien die Zähne entfernt
worden. Auch ergäben sich aus den Befunden Hinweise, dass die psychovegetativen Störungen bereits damals das entsprechende
Ausmaß erreicht hätten. Für einen früheren Zeitraum lägen jedoch diesbezüglich keine ausreichenden Befunde vor. Die angeblichen
Metallintoxikationen hätten zu keiner fassbaren neurologischen Symptomatik geführt.
Daraufhin erließ der Beklagte am 26.07.2006 auf den Antrag vom 02.05.2006, eingegangen am 03.05.2006, folgenden Bescheid:
1. Dem Antrag, den Bescheid vom 04.02.2004 aufzuheben und eine neue Feststellung nach §
69 SGB IX zu treffen, könne nicht entsprochen werden.
2. Dem Antrag, den mit Bescheid vom 04.02.2004 festgestellten GdB von 40 ab dem Jahr 1951 zu bewerten, könne teilweise nicht
entsprochen werden.
In den Gründen wird ausgeführt, der GdB betrage wie bisher 40. Eine rückwirkende Feststellung für die Jahre 1951 bis 1973
könne nicht getroffen werden, da das Schwerbehindertengesetz erst am 01.05.1974 in Kraft getreten sei. Die ärztliche Überprüfung
der vorliegenden Befunde habe ergeben, dass die Feststellung des GdB von 40 erst ab dem Jahr 1995, in dem die Zähne entfernt
worden seien, möglich sei; auch bezüglich der psychovegetativen Störungen seien für die Zeit vor 1995 keine ausreichend eindeutigen
Befunde vorhanden, die eine rückwirkende Feststellung ermöglichten.
Bezüglich der bereits am 02.05.2006 erhobenen Klage hat das SG nach Einholung von Befundberichten der behandelnden Ärzte den Arzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. P. zum Sachverständigen
ernannt. Dieser hat im Gutachten vom 14.12.2007 festgestellt, der Gesamt-GdB sei seit 2004 mit 70 zu bewerten. Dabei lägen
folgende Gesundheitsstörungen vor: 1. Schwere seelische Störung (Einzel-GdB 60), 2. Verlust aller Zähne (Einzel-GdB 20), 3.
Krampfaderleiden (Einzel-GdB 10), 4. Allergie (Einzel-GdB 10). Für die Zeit vor 1995 könne mangels medizinischer Dokumentation
kein GdB festgelegt werden, frühestens 1995 könne ein GdB von 50 angenommen werden.
Das Vergleichsangebot des Beklagten vom 26.06.2008, ab 1974 einen GdB von 20 und ab 1995 einen GdB von 50 festzustellen, hat
die Klägerin nicht angenommen.
Am 08.08.2008 hat sie beantragt, Prof. Dr. W. H., A-Stadt, gemäß §
109 SGG mit der Erstellung eines gerichtlichen Sachverständigengutachtens zu beauftragen.
In erster Instanz hat sie (die Klägerin) mit Schriftsatz vom 07.12.2006 beantragt, unter Abänderung des Bescheides vom 21.02.2006
in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21.04.2006 den Beklagten zu verurteilen, den Gesamt-GdB seit dem frühestmöglichen
Zeitpunkt, zumindest seit 1974, mit mindestens 50 festzustellen. Der Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen.
Mit Gerichtsbescheid vom 10.10.2008 (Az. S 2 SB 234/06) hat das SG den Beklagten unter Abänderung des Bescheides vom 15.03.2002 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 05.06.2002 sowie des
Bescheides vom 04.02.2004 und des Bescheides vom 21.02.2006 in Gestalt des Widerspruchsbescheides 22.04.2006 verurteilt, bei
der Klägerin seit 1974 einen Grad der Behinderung von 20, seit 1995 einen GdB von 50 sowie seit 2004 einen GdB von 70 festzustellen.
Im Übrigen hat es die Klage abgewiesen. Der Gerichtsbescheid ist den Prozessbevollmächtigten der Klägerin am 20.10.2008 zugestellt
worden.
Die Klägerin hat gegen den Gerichtsbescheid am 14.11.2008 Berufung eingelegt.
Das Bayerische Landessozialgericht (LSG) hat auf Antrag der Klägerin den Internisten, Nephrologen und Umweltmediziner Prof.
Dr. med. W. H., A-Stadt, zum Sachverständigen ernannt. Dieser im Gutachten vom 29.03.2010 einen Gesamt-GdB von 70 festgestellt
und festgehalten, die im Gerichtsbescheid vom 10.10.2008 getroffene Feststellung, dass bei der Klägerin seit 1974 ein GdB
von 20, seit 1995 ein GdB von 50 und seit 2004 ein GdB von 70 vorliege, sei angemessen. Der Sachverständige hat die dem bis
2003 bestehenden Gesamt-GdB von 50 zugrunde liegenden Gesundheitsstörungen wie folgt bezeichnet: 1. Multiple Chemikaliensensibilität
und ausgeprägte Geruchsempfindlichkeit (Einzel-GdB 40), 2. Floride Borreliose/postinfektiöse chronische Erschöpfungssymptomatik
(Einzel-GdB 30), 3. Blasenschwäche (Einzel-GdB 10), 4. Verlust aller Zähne (Einzel-GdB 20), 5. Krampfaderleiden (Einzel-GdB
10), 6. Allergie (Einzel-GdB 10).
Die Klägerin hat gegen das Gutachten von Prof. Dr. H. mit Schreiben vom 01.06.2010 ausführliche Einwände erhoben. Auf Veranlassung
des Gerichts hat der Sachverständige Prof. Dr. H. zu diesen Einwänden mit Schreiben vom 22.12.2010 ergänzend Stellung genommen.
Er hat darin seine Bewertung aufrechterhalten.
Das Gericht hat dem Prozessbevollmächtigten der Klägerin mit Schreiben vom 08.04.2011 mitgeteilt, dass es nicht beabsichtige,
den von der Klägerin vorgeschlagenen Dr. K. gemäß §
109 SGG zum Sachverständigen zu bestellen, weil dieser kein Arzt sei. Für weiteres Vorbringen beziehungsweise die Beantragung weiterer
Beweismittel werde eine Frist bis zum 13.05.2011 eingeräumt.
Mit Schreiben vom 27.04.2011 hat die Klägerin beantragt, Dr. med. G. Sch., L., zum Sachverständigen gemäß §
109 SGG zu bestellen. Das Gericht hat nach einem mit Dr. Sch. durchgeführten Telefonat der Klägerin mitgeteilt, dass dieser Facharzt
für Allgemeinmedizin sei und dass das Gericht nicht beabsichtige, ihn zum weiteren gerichtlichen Sachverständigen zu bestellen,
weil nicht ersichtlich sei, dass er eine Fachrichtung vertrete, die von Prof. Dr. H., der bereits gemäß §
109 SGG zum Sachverständigen bestellt worden sei, nicht abgedeckt worden wäre.
Die Klägerin hat mit Schriftsatz ihrer Prozessbevollmächtigten vom 09.12.2008 zunächst beantragt, unter Aufhebung des Gerichtsbescheides
des SG vom 10.10.2008 sowie unter Abänderung des Bescheides des Beklagten vom 15.03.2002 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom
05.06.2002 sowie des Bescheides vom 04.02.2004 und des Bescheides vom 31.02.2006 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom
21.04.2006 den Beklagten zu verurteilen, die organischen Störungen, d.h. Zahnmetallallergie und Intoxikation, Lupus (Autoimmunerkrankung)
ab 1974 unter Einbeziehung aller Vorbefunde, Stoffwechselstörung, Nickelallergie, Fettstoffwechselerkrankung, offene Foramen
mit toxischer Strahlungsqualität, Ausfälle im Endokrinum, bakterielle- und Metallherde im Kiefer, Enzephalopathie, Schimmelpilzerkrankung,
Schimmelpilz- und Steinkohlenteerallergie, mit einem Einzel-GdB von mindestens 60 zu bewerten.
Nach Hinweis des Gerichts auf die Unzulässigkeit einer auf die Bewertung einzelner Gesundheitsstörungen mit Einzel-GdBs gerichteten
Klage beantragt die Klägerin zuletzt,
den Gerichtsbescheid des SG vom 10.10.2008 sowie den Bescheid vom 21.02.2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21.04.2006 abzuändern und
den Beklagten zu verurteilen, einen GdB von mindestens 50 seit 1974 festzustellen,
hilfsweise, den Rechtsstreit zu vertagen und ein neues ärztliches Sachverständigengutachten einzuholen unter Berücksichtigung
der von der Klägerin bisher dem Gericht vorgelegten medizinischen Befunde.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Zur Ergänzung des Tatbestands wird auf die Prozessakten beider Rechtszüge sowie auf die beigezogene Akte des Beklagten verwiesen.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung ist zulässig, insbesondere wurde sie form- und fristgerecht eingelegt (§§
105 Abs.
2 Satz 1,
143, 151
Sozialgerichtsgesetz -
SGG). Sie bedarf gemäß §
144 SGG keiner Zulassung.
Die Berufung ist unbegründet. Zu Recht hat das SG die Klage abgewiesen, soweit es ihr nicht stattgegeben hat.
Nachdem die Klägerin zunächst in erster Instanz auf die Zuerkennung eines höheren Gesamt-GdB von mindestens 50 rückwirkend
bis zum Jahr 1974 geklagt hatte, hat sie in der Berufungsinstanz mit Schriftsatz vom 09.12.2008 eine Klageänderung vorgenommen,
mit der sie keinen bestimmten Gesamt-GdB, sondern isoliert die Bewertung ihrer organischen Störungen mit einem Einzel-GdB
von mindestens 60, rückwirkend ab dem Jahr 1974, beantragt hat. Nach Hinweis des Gerichts, dass die Feststellung von Einzel-GdBs
für einzelne Gesundheitsstörungen keinen zulässigen Streitgegenstand darstellt, hat die Klägerin in der mündlichen Verhandlung
vom 20.07.2011 ihre Anträge wieder im ursprünglichen Sinn formuliert. Die darin liegende Klageänderung ist gemäß §
99 Abs.
1 und
2 SGG zulässig, weil der Beklagte seinen Sachantrag auf Zurückweisung der Berufung gestellt hat, ohne die Unzulässigkeit der Klageänderung
zu rügen, und weil die Klageänderung sachdienlich ist.
Der Antrag der Klägerin richtet sich nach der in der mündlichen Verhandlung vom 20.07.2011 formulierten Fassung auf die Feststellung
eines GdB von "mindestens" 50 rückwirkend seit dem Jahr 1974. Aus der Verwendung des Wortes "mindestens" ergibt sich, dass
der Antrag der Klägerin auch die Feststellung eines höheren GdB von bis zu 100 umfasst. Damit ist der Antrag so auszulegen,
dass auch für die Zeit ab 1995, für die der angefochtene Gerichtsbescheid bereits einen GdB von 50 bzw. ab 2004 von 70 festgestellt
hat, ein noch höherer GdB beantragt wird.
1. Zeitraum von 1974 bis zum 18.11.2001 (Tag vor der erstmaligen Antragstellung durch die Klägerin beim Beklagten am 19.11.2001):
Bezüglich dieses Zeitraums ist die Klage auf Feststellung eines höheren GdB bereits unzulässig, weil die diesbezüglich ergangenen
Bescheide bestandskräftig (§
77 SGG) geworden sind.
Den Antrag auf rückwirkende Feststellung des GdB für diesen Zeitraum hat die Klägerin erstmals durch ihre Schreiben vom 02.05.
und 03.05.2006 gestellt. Offenbleiben kann, ob sie diesen Antrag durch ihr Schreiben vom 05.05.2006 zurückgenommen hat, in
dem es heißt: "Mit Neuantrag, der mit Inkrafttreten ab 09.02.2004 zu werten ist, sollen meine beiden Schreiben vom 02.05.2006
und 03.05.2006 als widerrufen gelten." Jedenfalls mit Schreiben vom 13.06.2006 hat sie nämlich erneut die Feststellung des
GdB für die Zeit vom 05.01.1951 bis zum 08.02.2004 beantragt.
Über den diesbezüglichen Antrag hat der Beklagte mit Bescheid vom 26.07.2006 entschieden, indem er den GdB von 40 bis ins
Jahr 1995 zurück anerkannte, den Antrag aber im Übrigen ablehnte. Dieser Bescheid wurde nicht angefochten.
Dieser Bescheid ist auch nicht gemäß §
96 SGG Gegenstand der am 02.05.2006 erhobenen Klage geworden. Es ist nicht davon auszugehen, dass der Bescheid vom 26.07.2006 die
den Gegenstand der Klage vom 02.05.2006 bildenden Verwaltungsakte abändert oder ersetzt, weil sich die Bescheide auf unterschiedliche
Zeiträume beziehen. Die Klage vom 02.05.2006 richtet sich gegen den Bescheid vom 21.02.2006 in Gestalt des Widerspruchsbescheides
vom 21.04.2006. Mit diesen Bescheiden wurde der am 19.07.2005 eingegangene Antrag auf Neufeststellung des GdB abgelehnt. Der
Antrag vom 19.07.2005 war als Antrag auf Neufeststellung wegen einer wesentlichen Veränderung der maßgeblichen Umstände, die
bei Abschluss des gerichtlichen Vergleichs vom 27.01.2004 vorgelegen hatten, auszulegen. Dies ergibt sich schon aus der Fassung
des Antragsformulars (siehe die Frage nach "seit der letzten Feststellung neu" aufgetretenen Gesundheitsstörungen), das die
Klägerin benutzte, ohne einen möglichen Wunsch nach rückwirkender Neufeststellung hinreichend klar zum Ausdruck zu bringen.
Allein der handschriftliche Hinweis, die unter der Frage nach "seit der letzten Feststellung neu" aufgetretenen Gesundheitsstörungen
aufgezählten Erkrankungen seien "bei der letzten Feststellung nicht" berücksichtigt worden, bringt nicht eindeutig zum Ausdruck,
dass diese Gesundheitsstörungen bei der letzten Feststellung bereits vorgelegen hätten und nicht erst nachträglich eingetreten
seien, zumal in dem Antrag auch kein Zeitpunkt in der Vergangenheit benannt wird, bis zu dem eine rückwirkende Feststellung
beantragt wird. Schließlich spricht für diese Auslegung, dass dem Antrag ausschließlich Befunde aus der Zeit nach dem 27.01.2004
beigefügt waren.
Selbst wenn der Antrag vom 19.07.2005 anders auszulegen gewesen wäre - nämlich (auch) als Überprüfungsantrag nach § 44 Sozialgesetzbuch X (SGB X) für die Vergangenheit - hätte der Bescheid vom 21.02.2006 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21.04.2006 diesbezüglich
keine Entscheidung getroffen, denn nach der eindeutigen Begründung beider Bescheide wurde darin ausschließlich über das Vorliegen
einer seit der letzten Feststellung eingetretenen Veränderung der wesentlichen Umstände entschieden, und es fand keinerlei
Überprüfung für vergangene Zeiträume statt. Damit wurden Überprüfungsanträge für die Vergangenheit erstmals mit Bescheid vom
26.07.2006 abgelehnt, so dass dieser Bescheid in zeitlicher Hinsicht einen anderen Regelungsgegenstand hat als der vorliegend
streitgegenständliche Bescheid vom 21.02.2006 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21.04.2006 und damit nicht gemäß §
96 SGG Gegenstand der vorliegenden Klage, sondern gemäß §
77 SGG bestandskräftig geworden ist.
Im Übrigen ist die Klage auch unbegründet. Der Antrag auf Feststellung des GdB für Zeiten vor dem 19.11.2001 wurde erstmals
am 03.05.2006, also für Jahre rückwirkend, gestellt. Statusfeststellungen nach §
69 Sozialgesetzbuch IX (
SGB IX) sind aber grundsätzlich in die Zukunft gerichtet. Das Bundessozialgericht hat entschieden, dass ein Antrag auf Feststellung
einer Behinderung und ihres Grades für die Vergangenheit nach einem in § 6 Abs. 1 Satz 2 Schwerbehindertenausweisverordnung zum Ausdruck gekommenen Rechtsgedanken nur dann zulässig ist, wenn der Betroffene ein besonderes Interesse an der Feststellung
der Behinderung für Zeiten vor Antragstellung glaubhaft machen kann (BSG, Urteil vom 07.04.2011 Az. B 9 SB 3/10 R). Ein solches besonderes Interesse ist im vorliegenden Fall zu verneinen, weil nicht ersichtlich ist, welche - rechtlich
relevanten - Vorteile die Klägerin aus einer rückwirkenden Feststellung des GdB ableiten könnte. Sie ist hierzu mit gerichtlichem
Schreiben vom 31.01.2011 angehört worden, hat jedoch in ihren nachfolgend eingereichten Schriftsätzen keine insoweit relevanten
Umstände vorgebracht.
2. Zeitraum vom 19.11.2001 (Tag der erstmaligen Antragstellung) bis zum 16.02.2004 (Tag vor dem Zugang des Widerspruchsschreibens
gegen den den gerichtlichen Vergleich vom 27.01.2004 ausführenden Bescheid vom 04.02.2004):
Auch für diesen Zeitraum ist die Klage unzulässig, weil die diesbezüglich ergangenen Bescheide bestandskräftig (§
77 SGG) geworden sind. Insoweit wird auf die Ausführungen oben unter 1. verwiesen.
Im Übrigen gibt der Senat der Klägerin zu bedenken, dass der am 27.01.2004 abgeschlossene gerichtliche Vergleich einen materiell-rechtlich
wirksamen Teilverzicht auf einen höheren GdB als 40 beinhaltete, der gemäß §
46 Abs.
1 Halbsatz 2
Sozialgesetzbuch I (
SGB I) nur für die Zukunft widerrufen werden konnte. Ein solcher Widerruf konnte erstmals im Widerspruchsschreiben vom 16.02.2004
erblickt werden. Die Möglichkeit, in einem gerichtlichen Vergleich auf Ansprüche auf Sozialleistungen im Sinne des §
46 SGB I materiell-rechtlich - und damit auch mit Wirkung für künftige Verwaltungsverfahren nach §
44 SGB I - zu verzichten, wurde vom BSG mit Urteil vom 15.10.1985 Az. 11a RA 58/84, SozR 2200 § 1251 Nr. 115 Ls. 2 anerkannt (a. A.
noch BSG, Urteil vom 23.06.1983 Az. 2 RU 2/82 bei Juris, wonach ein Prozessvergleich der Überprüfung in einem Verfahren nach § 44 SGB X generell nicht entgegenstehe). Der vom BSG bei Auslegung des Vergleichs abzugrenzende Fall eines nur "prozessualen" Verzichts,
dessen Wirkung sich auf das mit dem Vergleich abgeschlossene Verfahren beschränken sollte, so dass eine spätere Überprüfung
nach § 44 SGB X nicht ausgeschlossen wäre (BSG, aaO. Rdnr. 14), liegt nicht vor, weil anzunehmen und für die Klägerin erkennbar war, dass
der Beklagte am 27.01.2004 den Vergleich nicht abgeschlossen hätte, wenn dadurch eine rückwirkende Überprüfung zugunsten der
Klägerin in neuen Verwaltungsverfahren jedenfalls bis zum Zeitpunkt eines Widerrufs nicht ausgeschlossen gewesen wäre.
3. Zeitraum vom 17.02.2004 (Zugang des Widerspruchsschreibens gegen den den gerichtlichen Vergleich vom 27.01.2004 ausführenden
Bescheid vom 04.02.2004) bis zum 18.07.2005 (Tag vor Eingang des Neufeststellungsantrags):
Auch für diesen Zeitraum ist die Klage unzulässig, weil die diesbezüglich ergangenen Bescheide bestandskräftig (§
77 SGG) geworden sind. Insoweit wird auf die Ausführungen oben unter 1. verwiesen.
4. Zeitraum seit dem 19.07.2005:
Für diesen Zeitraum ist die Klage zulässig. Insbesondere wurde bezüglich des am 19.07.2005 gestellten Neufeststellungsantrages
durch den Bescheid vom 21.02.2006 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21.04.2006 das gemäß §
78 SGG vorgeschriebene Verwaltungs- und Widerspruchsverfahren durchgeführt.
Die Berufung ist jedoch unbegründet, weil die Klage nicht in einem weiteren Umfang begründet ist, als das SG ihr stattgegeben hat, indem es der Klägerin für die Zeit ab 2004 einen GdB von 70 zugesprochen hat.
Die Unbegründetheit der Klage kann allerdings nicht bereits mit dem in dem gerichtlichen Vergleich vom 27.01.2004 liegenden
materiell-rechtlichen Verzicht der Klägerin begründet werden, weil in dem Widerspruch vom 17.02.2004 ein Widerruf dieses Verzichts
zu sehen war, der gemäß §
46 Abs.
1 Halbsatz 2
SGB I für die Zukunft wirksam war.
Dies bedeutet jedoch nicht, dass der gerichtliche Vergleich vom 27.01.2004 in verfahrensrechtlicher Hinsicht jegliche Rechtswirkung
für die Zukunft verlor. Die Frage, unter welchen Voraussetzungen sich die Parteien eines Vergleichs von dessen Regelungen
lösen können, ist in § 59 SGB X geregelt. Diese Vorschrift findet auf alle öffentlich-rechtlichen Verträge mit Dauerwirkung Anwendung, zu denen auch der
vorliegende Vergleich zählt (vgl. § 54 SGB X). Die Vorschriften der §§ 53 ff. SGB X über den öffentlich-rechtlichen Vertrag gelten wegen dessen Doppelnatur auch für den gerichtlichen Vergleich im Sinne des
§
101 Abs.
1 SGG (Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer,
SGG, 9. Aufl., 2008, § 101 Rdnr. 3). Gemäß § 59 Abs. 1 S. 1 SGB X setzt die Lösung von einem öffentlich-rechtlichen Vertrag mit Dauerwirkung voraus, dass sich die Verhältnisse, die für die
Festsetzung des Vertragsinhalts maßgebend waren, seit Abschluss des Vertrages so wesentlich geändert haben, dass einer Vertragspartei
das Festhalten an der ursprünglichen vertraglichen Regelung nicht zuzumuten ist. Damit kann die Klägerin eine Erhöhung ihres
GdB über den in dem gerichtlichen Vergleich vom 27.01.2004 vereinbarten Wert hinaus unter den gleichen Voraussetzungen verlangen,
wie sie nach Erlass eines Verwaltungsakts mit Dauerwirkung gemäß § 48 SGB X die Neufeststellung aufgrund neu eingetretener Tatsachen rechtfertigen.
Die für den GdB wesentlichen Umstände haben sich seit dem 27.01.2004 jedoch jedenfalls nicht in einem solchen Umfang geändert,
dass eine Erhöhung des GdB über den Wert von 70 hinaus, den das SG zugesprochen hat, gerechtfertigt wäre. Der Sachverständige Dr. Gerhard P., Neurologe, hat in seinem Gutachten vom 14.12.2007
für die Zeit ab 2004 einen GdB von 70 angenommen, der sich im wesentlichen auf eine mit einem Einzel-GdB von 60 zu bewertende
schwere seelische Störung gründet. Der Senat hat keine Anhaltspunkte für die Annahme, dass die seelische Störung der Klägerin
mit diesem Einzel-GdB unzureichend bewertet wäre. Gemäß Teil B Nr. 3.7 der Versorgungsmedizinischen Grundsätze sind schwere
psychische Störungen mit mittelgradigen sozialen Anpassungsschwierigkeiten mit einem GdB von 50 bis 70 zu bewerten. Die Bewertung
der Anpassungsstörungen als mittelgradig durch den Sachverständigen ist nachvollziehbar. Zwar hat der Sachverständige eine
hochgradige Einengung der Denkinhalte auf die vorliegenden Gesundheitsstörungen festgestellt, die auch zu einem weitgehenden
sozialen Rückzug der Klägerin geführt hat, jedoch schildert er die Klägerin immer noch als bewusstseinsklar, im Kontaktverhalten
zugewandt bei leicht gedrückter Grundstimmung. Es bestehen weder paranoide Denkinhalte noch Wahrnehmungsstörungen. Sie verfügt
über ein regelrechtes sprachliches Ausdrucksvermögen, keine Verlangsamung im Auffassungsvermögen und im Denkablauf, ein normales
psychomotorisches Tempo sowie keine Antriebsminderung. Angesichts dieser noch in erheblichem Umfang vorhandenen Ressourcen
erscheint die Annahme schwerer sozialer Anpassungsschwierigkeiten, die einen Einzel-GdB von 80 bis 100 ermöglichen würden,
nicht gerechtfertigt. Auch der totale Zahnverlust kann gemäß Teil B Nr. 7.4 der Versorgungsmedizinischen Grundsätze keinen
höheren Einzel-GdB als 20 begründen.
Der auf Antrag der Klägerin gemäß §
109 SGG zum Sachverständigen bestellte Internist, Nephrologe und Umweltmediziner Prof. Dr. W. H., A-Stadt, hat in seinem Gutachten
vom 29.03.2010 sowie in der ergänzenden Stellungnahme vom 22.12.2010 die Bewertung des GdB im angefochtenen Gerichtsbescheid
in vollem Umfang bestätigt. Der Unterschied gegenüber dem Gutachten des Sachverständigen Dr. P. liegt lediglich darin, dass
Dr. P. die Gesundheitsstörungen in erster Linie im seelischen Bereich sieht, während Prof. Dr. H. die Gesundheitsstörungen
ausschließlich im organischen Bereich mit der Hauptdiagnose einer Multiplen Chemikaliensensitivität neben einer floriden Borreliose
verortet. Die Auswirkungen dieser Erkrankung sind aber nach beiden Gutachten die gleichen. Für die Feststellung der Behinderung
und ihres Grades nach §
69 SGB IX sind nach dem Behinderungsbegriff des §
2 Abs.
1 SGB IX nur die Auswirkungen der Gesundheitsstörung auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft von Belang, so dass dahinstehen
kann, ob diese eher psychische oder organische Ursachen haben.
Weiterer Ermittlungsbedarf besteht von Amts wegen (§
106 SGG) nicht. Den nach §
109 SGG gestellten Anträgen, Dr. K. vom Institut für Toxikologie am Universitätsklinikum K. und Dr. G. Sch., L. zu Sachverständigen
zu bestellen, brauchte nicht Folge geleistet zu werden, weil Dr. K. kein Arzt, sondern Chemiker ist und Dr. Sch. als Facharzt
für Allgemeinmedizin keine Fachrichtung vertritt, die nicht durch das gemäß §
109 SGG auf Antrag der Klägerin eingeholte Gutachten von Prof. Dr. H. abgedeckt worden ist.
Der von der Klägerin "hilfsweise" (also für den Fall, dass dem Berufungsantrag nicht stattgegeben würde) gestellte Antrag,
den Rechtsstreit zu vertagen und ein neues ärztliches Sachverständigengutachten einzuholen, ist abzulehnen, weil der entscheidungserhebliche
Sachverhalt zur Überzeugung des Senats vollständig aufgeklärt ist (§§
103,
106,
109 SGG).
Die Kostenentscheidung beruht auf §
193 SGG.
Die Revision ist nicht zuzulassen, da weder die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat noch das Urteil von einer Entscheidung
des Bundessozialgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht
und auf dieser Abweichung beruht (§
160 Abs.
2 Nrn. 1 und 2
SGG).