Tatbestand:
Zwischen den Beteiligten ist die Anerkennung und Entschädigung einer Berufskrankheit (BK) Nr 2108 nach der Anlage zur
Berufskrankheitenverordnung (
BKV) streitig.
Der 1941 geborene Kläger war seit 1958 im Vulkanisierhandwerk tätig (Lehrzeit von 1958 bis 1960, anschließend Tätigkeit im
väterlichen Vulkanisierunternehmen). Von 1966 bis 1974 war der Kläger häufig krank, so dass er nur wenig gearbeitet hatte.
Seit November 1974 übte er die Tätigkeit eines Vulkaniseurmeisters selbstständig aus. Im Reifenhandel bzw. -verkauf/-montage
war er vor allem seit ca. 1988 tätig, seit 1990 nur noch aufsichtsführend.
Mit Schreiben vom 08.03.2001 beantragte er die Anerkennung von Wirbelsäulenbeschwerden als BK. Die Beklagte sah die arbeitstechnischen
Voraussetzungen für die BK Nr 2108 in ihrer Stellungnahme vom 19.11.2001 als nicht erfüllt an. Zwar habe der Kläger in der
Zeit von 1958 bis 1966 im wesentlichen LKW-Reifen montiert und Reifen für die Vulkanisation vorbereitet und die Vulkanisation
durchgeführt. Ab 1974 bis 1989 habe er im eigenen Betrieb hauptsächlich Reifen vulkanisiert, ca. 80 Stück am Tag (Pkw-Reifen).
Die Reifen seien idR nur 8-12 kg schwer gewesen. Die Lebensbelastungsdosis nach dem Mainz-Dortmunder-Dosismodell (MDD) habe
0,0 MNh betragen.
Mit Bescheid vom 28.01.2002 lehnte die Beklagte die Entschädigung der Lendenwirbelsäulen(LWS)-Beschwerden als BK Nr 2108 der
Anlage zur
BKV ab. Zur Begründung führte sie an, dass die arbeitstechnischen Voraussetzungen nicht erfüllt seien. Eine Anerkennung habe
nicht erfolgen können, da nach dem MDD-Verfahren der Richtwert von 5.500 Nh nicht mindestens 10 Jahre in mehr als der Hälfte
der Arbeitsschichten im Zeitraum September 1958 bis Juni 1964 erreicht worden sei und der Wert im Zeitraum November 1974 bis
Dezember 1989 den Richtwert von 5.500 Nh ebenfalls unterschreite.
Der Widerspruch war erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 21.11.2002).
Gegen diese Bescheide hat der Kläger Klage zum Sozialgericht Nürnberg (SG) erhoben und beantragt, eine BK nach Nr 2108 anzuerkennen und Rente zu gewähren. Er habe die belastende Tätigkeit langjährig
ausgeführt. Bei der Befragung durch den TAD der Beklagten hinsichtlich der arbeitstechnischen Voraussetzungen sei ihm in der
Kürze der Zeit die Tragweite seiner Auskünfte nicht bewusst gewesen. Seine Angaben müssten wegen der tatsächlich höheren körperlichen
Belastung korrigiert werden.
Das SG hat eine Mitgliedsauskunft der D. N. vom 13.05.2003 eingeholt und den Orthopäden Dr.S. mit der Erstellung eines Gutachtens
beauftragt. In dem Gutachten vom 18.06.2003 hat dieser beim Kläger eine bandscheibenbedingte Erkrankung der Segmente L3/4
sowie im Bereich der mittleren Brustwirbelsäule (BWS) festgestellt. Zwar passe die Lokalisation des Schadensbildes im Bereich
der LWS zu der beruflichen Belastung. Es zeigten sich aber degenerative Veränderungen im Bereich L3/4 (hier: Verblockungsoperation
nach Bandscheibenvorfall) und es seien auch alle kopfwärts gelegenen Segmente der LWS nur wenig spondylotisch verändert. In
einem solchen Fall fehle jeder sichere Hinweis für die Auswirkung einer beruflichen Exposition. Hinzu komme, dass der Kläger
bereits seit 1961 (20.Lebensjahr) Hexenschüsse gehabt habe. Die Bandscheibenschäden der LWS seien alterstypisch und nicht
vorauseilender Natur. Die berufliche Belastung sei weder Ursache noch Teilursache der bandscheibenbedingten Erkrankung.
Mit Urteil vom 25.01.2005 hat das SG die Klage im Hinblick auf das Gutachten des Dr.S. abgewiesen. Da die medizinischen Voraussetzungen für eine Anerkennung der
BK Nr 2108 nicht erfüllt seien, komme es nicht darauf an, ob die arbeitstechnischen Voraussetzungen vorlägen.
Gegen das Urteil des SG hat der Kläger Berufung eingelegt und ausgeführt, dass er jahrelang äußerst schweren Belastungen ausgesetzt gewesen sei.
Insbesondere in der Lehre und auch später habe es noch keine entsprechenden technischen Einrichtungen gegeben, so dass er
sehr schwere Reifen, insbesondere von LKW, habe tragen und heben müssen.
Der Senat hat Befundberichte der Allgemeinärztin Dr.G. vom 21.04.2005, der Nervenärztin Dr.B. vom 27.04.2005, die Schwerbehindertenakte
des Amts für Versorgung und Familienförderung N., die Arztunterlagen der LVA Oberfranken und Mittelfranken sowie die einschlägigen
Röntgen- und CT-Aufnahmen zum Verfahren beigezogen. Anschließend hat Prof. Dr.S. ein orthopädisches Gutachten erstellt. In
dem Gutachten vom 07.07.2005 hat er die Gesundheitsstörungen im Bereich der Wirbelsäule bestätigt. Danach handle es sich um
ein degeneratives Bandscheibenleiden, das die HWS, BWS und LWS betreffe. Dieses degenerative Bandscheibenleiden der gesamten
Wirbelsäule stehe nicht mit Wahrscheinlichkeit mit der beruflichen Tätigkeit des Klägers in Verbindung. Insoweit fehle es
an den arbeitstechnischen Voraussetzungen sowie dem zeitlichen Intervall zwischen Beginn der beruflich belastenden Tätigkeiten
und der Manifestation eines Wirbelsäulenleidens. Zudem sei das Verteilungsmuster mit degenerativen Bandscheibenveränderungen
an der gesamten Wirbelsäule untypisch.
Anschließend hat der Senat auf Veranlassung des Klägers ein Gutachten nach §
109 Sozialgerichtsgesetz (
SGG) des Orthopäden Dr.S. vom 03.05.2006 eingeholt. Danach lägen Gesundheitsstörungen im Bereich der Wirbelsäule im Rahmen eines
gemischten lokalen Lumbalsyndroms/Wurzelsyndroms nach Operation 1967 und 2000 vor. Eine hohe Wahrscheinlichkeit iS der Entstehung
durch berufliche Tätigkeit könne nicht befürwortet werden.
Der Kläger hat noch ausgeführt, Dr.S. komme aufgrund der fehlerhaften radiologischen Dokumentation aus der Vorzeit sowie fehlender
arbeitstechnischer Nachweise zu dem Ergebnis, dass mehr gegen als für die Annahme einer berufsbedingten Schädigung spreche.
Eine Rückfrage beim Gefährdungskataster des Hauptverbandes der gewerblichen Berufsgenossenschaften wäre sachdienlich. Ebenso
seien Zeugen einzuvernehmen.
In der mündlichen Verhandlung hat der Kläger gerügt, die Gutachten würden sich nicht mit der Verschlimmerung von Wirbelsäulenschäden
befassen.
Der Kläger beantragt, Beweis über die tatsächlichen beruflichen Belastungen in den Jahren 1957-1966 zu erheben durch Einvernahme
des Zeugen F. B. (F.B.) und durch Einholung eines technischen Sachverständigengutachtens.
Der Kläger beantragt des Weiteren, die Beklagte unter Aufhebung des Urteils des SG Nürnberg vom 25.01.2005 sowie des Bescheides
vom 28.01.2002 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 21.11.2002 zu verurteilen, eine BK nach Nr 2108 der Anlage zur
BKV anzuerkennen und zu entschädigen.
Die Beklagte beantragt, die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG Nürnberg vom 25.01.2005 zurückzuweisen.
Ergänzend wird auf die Verwaltungsakte der Beklagten, die Gerichtsakten erster und zweiter Instanz sowie die Schwerbehindertenakte
des Versorgungsamtes N. Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung des Klägers ist zulässig, jedoch unbegründet.
Das SG hat in der Sache zutreffend entschieden, dass der Kläger keinen Anspruch auf Anerkennung und Entschädigung einer BK nach
§
9 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch (
SGB VII) iVm Nr 2108 der Anlage zur
BKV hat, da die Voraussetzungen nicht erfüllt sind.
Nach §
9 Abs
1 SGB VII sind BKen die Krankheiten, welche die Bundesregierung durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates als BKen bezeichnet
und die Versicherte infolge einer den Versicherungsschutz nach §§ 2, 3 oder 6 begründenden Tätigkeit erleiden. Zu den vom
Verordnungsgeber bezeichneten BKen gehören nach der Nr 2108 der Anlage zur
BKV "bandscheibenbedingte Erkrankungen der LWS durch langjähriges Heben oder Tragen schwerer Lasten oder durch langjährige Tätigkeiten
in extremer Rumpfbeugehaltung, die zur Unterlassung aller Tätigkeiten gezwungen haben, die für die Entstehung, die Verschlimmerung
oder das Wiederaufleben der Krankheit ursächlich waren oder sein können".
Die Feststellung der BK setzt also voraus, dass zum einen die arbeitstechnischen Voraussetzungen der BK erfüllt sein müssen,
zum anderen das typische Krankheitsbild der BK vorliegen muss und dieses iS der unfallrechtlichen Kausalitätslehre mit Wahrscheinlichkeit
auf die wirbelsäulenbelastende berufliche Tätigkeit zurückzuführen ist (vgl. KassKomm - Ricke - §
9 SGB VII Rdnr 11; Brackmann/Krasney, Handbuch der Sozialversicherung, Band III - Stand 1997 -, §
9 SGB VII Rdnr 21 ff). Die Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs liegt vor, wenn nach vernünftiger Abwägung aller Umstände
den für den Zusammenhang sprechenden Umständen ein deutliches Übergewicht zukommt, so dass darauf die richterliche Überzeugung
gegründet werden kann (vgl. u.a. BSG vom 18.11.1997, SGb 1999, 39). Dies gilt, wenn nach der geltenden ärztlich-wissenschaftlichen Lehrmeinung mehr für als gegen einen ursächlichen Zusammenhang
spricht und ernste Zweifel hinsichtlich einer anderen Verursachung ausscheiden (Bereiter-Hahn/Mehrtens, Unfallversicherung,
§
9 SGB VII Anm 10.1 mwN). Die Beweislast dafür, dass die Erkrankung der Wirbelsäule durch arbeitsplatzbezogene Einwirkungen verursacht
worden ist, trägt der Versicherte.
Nach Auffassung des Senats kann es dahingestellt bleiben, ob die arbeitstechnischen Voraussetzungen zur Feststellung einer
BK nach Nr 2108 der Anlage zur
BKV vorliegen. Bei dem Kläger mangelt es nämlich an der Erfüllung der medizinischen Voraussetzungen für das Vorliegen dieser
BK.
Nach den überzeugenden Gutachten des Prof. Dr.S. vom 07.07.2005 und Dr.S. vom 18.06.2003 sowie Dr.S. vom 03.05.2006 liegen
bei dem Kläger Gesundheitsstörungen im Bereich der Wirbelsäule (HWS, BWS und LWS) vor. Bei der LWS ist ein einschränkendes
Lumbalsyndrom bei Zustand nach Bandscheibenerkrankung mit Versteifung L3/4 mit ventraler Fusionierung und stehengebliebener
hinterer Restbandscheibe auffällig. Bei der HWS ist ein Cervikalsyndrom mit Einsteifung der Segmente C3-C7 mit diskreter Cervikobrachialgie
nachweisbar.
Nach den derzeitigen medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnissen sind aber zusätzliche Voraussetzungen zu fordern, um eine
beruflich bedingte Verursachung der Bandscheibenschäden anzunehmen (vgl. Becker in SGb 2000, 118): - Belastungskonformes Schadensbild mit von unten nach oben abnehmenden Schäden, - auftretende Beschwerden nach einer beruflichen
Belastung von grundsätzlich mehr als 10 Jahren sowie einer plausiblen zeitlichen Korrelation der Entwicklung des Schadensbildes
mit den gesicherten beruflichen Belastungen, - altersvorauseilender Verschleiß, - Fehlen konkurrierender Verursachungsmöglichkeiten
statischer, entzündlicher bzw. anlagebedingter Genese.
Ein Ursachenzusammenhang zwischen den Bandscheibenschäden des Klägers und der beruflichen Tätigkeit ist nach Auffassung des
Senats, der sich der überzeugenden und an der wissenschaftlichen Lehrmeinung orientierenden Auffassung der Gutachter anschließt,
nicht als wahrscheinlich anzusehen.
Bei dem Kläger waren bereits 1962 Wirbelsäulenbeschwerden aufgetreten, also wenige Jahre nach dem Beginn wirbelsäulenbelastender
Tätigkeiten mit schwerem Heben und Tragen. Dies bedeutet, dass beim Kläger noch keine berufliche Belastung von mehr als 10
Jahren vorlag. Insoweit fehlt es an dem erforderlichen zeitlichen Intervall zwischen Beginn der beruflich belastenden Tätigkeit
und der Manifestation eines Wirbelsäulenleidens.
Spätestens ab 1962 lässt sich nach den Feststellungen des Prof. Dr.S. eine bandscheibenbedingte Erkrankung im Bereich der
LWS klinisch eindeutig manifestieren. Zu einer deutlichen Beschwerdeverschlechterung kam es ab 1966 mit anschließender operativer
Intervention in Form einer Versteifungsoperation an der LWS. Auch zu diesem Zeitpunkt war der erforderliche 10-Jahres-Zeitraum
noch nicht erfüllt.
Das Auftreten bandscheibenbedingter Erkrankungen hat aber nicht nur die LWS, sondern auch andere Abschnitte der Wirbelsäule
erfasst. Im Jahr 1988 ist erstmals eine Versteifungsoperation an der HWS erfolgt. Anlässlich der Untersuchung durch Prof.
Dr.S. konnten röntgenologisch deutlich fortgeschrittene degenerative Bandscheibenveränderungen an der BWS festgestellt werden.
Auffällig ist, dass der Bandscheibenschaden an der HWS mindestens so schwer ausgeprägt ist wie der Bandscheibenschaden im
Bereich der LWS. Bandscheibenschäden an der HWS, welche gleich stark oder stärker ausgeprägt sind als an der LWS, sind bei
der Abwägung ein deutliches Indiz gegen eine beruflich bedingte Lendenwirbelerkrankung.
Das Auftreten von Erkrankungen an allen drei Wirbelsäulenabschnitten ist dahin zu werten, dass beim Kläger unabhängig von
berufsbedingten Belastungen an der LWS eine erheblich anlagebedingte Prädisposition zur Entwicklung bandscheibenbedingter
Erkrankungen besteht. Auch entspricht das Verteilungsmuster im Bereich der LWS nicht den für die BK Nr 2108 geforderten Voraussetzungen.
Belastungsbedingte Bandscheibenerkrankungen an der LWS durch Heben und Tragen schwerer Lasten manifestieren sich insbesondere
im Bereich der untersten Bewegungssegmente der LWS. Eine erste operative Intervention an der LWS erfolgte aber im Bewegungssegment
zwischen 3. und 4.Lendenwirbelkörper. Dies entspricht nicht dem unter biomechanischen Gesichtspunkten als wesentlich belastet
anzunehmenden untersten Bewegungssegment zwischen 5.Lendenwirbelkörper und Kreuzbein.
Zusammenfassend sprechen der radiologische Nachweis fortgeschrittener degenerativer Veränderungen an der BWS und die Tatsache,
dass bereits Versteifungsoperationen an der HWS durchgeführt wurden, für eine erhebliche anlagebedingte Prädisposition für
bandscheibenbedingte Erkrankungen. Eine bandscheibenbedingte Erkrankung im Bereich der LWS iS der BK Nr 2108 kann daher nicht
mit ausreichender Wahrscheinlichkeit durch berufliche Tätigkeit als wesentlich verursacht oder verschlimmert angesehen werden.
Auch der nach §
109 SGG gehörte Dr.S. geht davon aus, dass mehr gegen als für die Annahme einer berufsbedingten Schädigung seitens der LWS spricht.
Bei dieser Sach- und Rechtslage bedurfte es keiner weiteren Beweiserhebung durch den Senat, weder durch Einvernahme des Zeugen
F.B. noch durch Einholung eines technischen Sachverständigengutachtens.
Die Kostenentscheidung beruht auf §
193 SGG.
Gründe für die Zulassung der Revison nach §
160 Abs
2 Nrn 1 und 2
SGG liegen nicht vor.