Versorgung nach dem OEG
Gesundheitliche und wirtschaftliche Folgen einer Schädigung
Freie gerichtliche Beweiswürdigung
Tatbestand
Der Kläger ist im Jahre 1963 geboren. Bis Ende in 2009 war er als Altenpfleger beschäftigt; anschließend hat er nach eigenen
Angaben nur noch kurzzeitig in der Gärtnerei eines Freundes ausgeholfen. Er bezieht Erwerbsminderungsrente.
Am 13.11.2014 wandte sich der Kläger telefonisch an den Beklagten und bat um Übersendung von Antragsformularen nach dem
OEG. Er möchte einen Antrag stellen, da ihm u.a. während seiner Kinderhortzeit von anderen Kindern Hundescheiße in den Mund gestopft
worden sei. Die Grausamkeit der Mitschüler führe er auf die sehr strenge Erzieherin dort zurück. Aktuell sei ihm eine Umschulung
zum Bestatter abgelehnt worden, da er dazu zu nervös sei, was er auf die strenge Hortzeit zurückführe.
In dem ihm übersandten Antragsformular gab der Kläger am 24.11.2014 Folgendes an: Er habe einen Artikel gelesen, in dem gestanden
sei, dass Hitler den deutschen Beamten den Auftrag gegeben habe, die Juden zu bestrafen und zu brechen. Eine Lehrerin älteren
Semesters habe gesehen, dass er seiner Mutter gleichgültig und nichts wert gewesen sei. So habe sie ihn eines Tages in einen
Raum eingesperrt und sadistisch gequält. Wie, könne er nicht sagen, da in seinen Erinnerungen eine Mauer sei. Die Kinder des
Horts hätten auf diese Lehrerin eine solche Wut gehabt, dass sie ihm Hundekot in den Mund geschoben hätten, so dass er fast
erstickt sei. Sein Bruder habe zusehen müssen und daher Albträume. Seiner Mutter habe er diesen Vorfall erzählt, sie habe
ihn aber nicht aus dieser Hölle befreit. Seit 1970 habe er demzufolge (ca. 3 bis 4 Jahre lang) Erniedrigungen, Demütigungen
und Misshandlungen ertragen. Zur Frage, welche Gesundheitsstörungen er erlitten habe, verwies er auf ein in einem Rentenstreitverfahren
erstelltes neurologisch-psychiatrisches Gutachten des Dr. H. vom 14.08.2014. Der Sachverständige war darin zu der Einschätzung
gekommen, dass beim Kläger eine kombinierte Persönlichkeitsstörung mit asthenischen, ängstlich-vermeidenden und emotional
instabilen Anteilen vorliege, die mit einer erheblichen Selbstwertproblematik verbunden sei und in Belastungs- und Konfliktsituationen
zu psychischen Reaktionen wie Depression und Ängsten führe. Die Persönlichkeitsstörung sei verbunden mit intellektuell-kognitiven
Defiziten, die einer Minderbegabung entsprächen. Im Rahmen der Anamnese hatte der Gutachter ausgeführt, dass der Kläger angegeben
habe, dass seine Mutter lebens- und erziehungsunfähig gewesen sei. Als er elf Jahre alt gewesen sei, habe sie seinen Stiefvater
geheiratet. Der Stiefvater habe Alkoholprobleme gehabt und ihn immer wieder verprügelt. Seiner Mutter sei er - so der Kläger
- scheißegal und gleichgültig gewesen. Für die Mutter sei er nichts wert gewesen; sie habe ihn nicht gefördert. Weiter habe
der Kläger über einen Vorfall berichtet, als er als Kind von seiner Patin vergewaltigt und missbraucht worden sei. Der Kläger
habe angegeben, damals sieben oder acht Jahre oder noch jünger gewesen zu sein. Seine Mutter habe sich nicht um ihn gekümmert
und ihn zu der Patin getan. Diese habe ihn umarmt, geküsst, dann betrunken gemacht und anschließend missbraucht. Beigefügt
war der Bericht des Diplom-Psychologen Dr. S. vom 01.08.2014 über eine psychodiagnostische Zusatzuntersuchung im Rahmen der
Begutachtung. Dort hatte der Kläger im Rahmen der Exploration angegeben, dass seine Mutter ihm gegenüber in der Kindheit gleichgültig
gewesen sei. Weiter hatte der Kläger angegeben, dass seine Mutter ihn oft beim Lernen gestört und viel mit dem Stiefvater
gestritten habe. Der Kläger hatte ein schlechtes häusliches Klima beschrieben. Dr. S. war zu der Einschätzung gekommen, dass
bei dem Kläger mit einem IQ von 72 eine leichte Intelligenzminderung vorliege.
Nachfragen im damaligen Hort des Klägers und seiner ehemaligen Schule blieben erfolglos, da keine Unterlagen mehr vorlagen
und der Kläger den jetzigen Beschäftigten nicht bekannt war.
Einem Leistungsauszug der Krankenkasse des Klägers sind psychische Erkrankungen seit 2006 zu entnehmen (akute Belastungsreaktion,
Anpassungsstörungen, rezidivierende depressive Störungen mit teilweise schweren Episoden).
Die vom Beklagten erbetene Benennung von Kinderarzt, Hausarzt und ärztlichen Therapeuten lehnte der Kläger mit Schreiben vom
30.12.2014 ab. Er gab aber an, dass er beim Wehrdienst als Stotterer aufgefallen und an eine Logopädin überwiesen worden sei.
Aus der Gesprächstherapie sei hervorgegangen, dass seine Mutter Gift für ihn sei.
Die Halbschwester des Klägers teilte, zu den vom Kläger angegebenen Geschehnissen vom Beklagten befragt, am 05.01.2015 mit,
der Kläger habe ihr nur berichtet, dass die Zeit im Hort keine schöne Zeit für ihn gewesen und dort Mobbing durch andere Kinder
erfolgt sei. Die Frage nach dem Familienklima und danach, ob der Kläger eine Patentante gehabt habe, zu der er öfter zur Betreuung
gebracht worden sei, könne sie nicht beantworten. Es bestehe seit längerer Zeit kein persönlicher Kontakt zum Kläger.
Auf Nachfrage teilte der Nervenarzt Dr. H. am 04.02.2015 dem Beklagten mit, dass sich der Kläger bei ihm einmalig am 20.02.2006
vorgestellt und damals angegeben habe, seit 18 Jahren in seinem Job als Altenpfleger gemobbt zu werden.
Ebenfalls auf Nachfrage des Beklagten teilte die Mutter des Klägers am 05.02.2015 mit, dass der Kläger sie von den Vorfällen
im Hort in Kenntnis gesetzt habe. Sie sei zur Hortleitung und habe sich beschwert. Auch der Bruder des Klägers R. habe ihr
von den Vorfällen 1972 berichtet. 1972 habe sie ihren jetzigen Mann K. R. geheiratet. Vermutlich habe sie den Kläger öfters
zu seiner Patentante, die bereits verstorben sei, gebracht.
Ebenfalls auf Nachfrage des Beklagten teilte der Bruder des Klägers R. A. am 05.02.2015 mit, dass er Vorfälle mit den Kindern
im Hort bestätigen könne, sich an das mit der Betreuerin aber nicht mehr erinnere. Auf die Frage nach dem Stand des Klägers
im Hort und ob er dort Freunde gehabt habe, antwortete der Bruder, dass der Kläger sehr oft von irgendwem geprügelt worden
sei. Er selbst sei der Stärkere gewesen und habe versucht, Schlägereien zu vermeiden. Der Kläger sei aber zierlich gewesen
und ein schwarzes Schaf. Er, der Bruder, habe nicht immer bei ihm sein und daher nicht immer Übles vermeiden können. Von diesen
Vorfällen habe der Kläger sicher immer wieder erzählt, auch im Zusammenhang, wenn es beruflich in Sackgassen gegangen sei.
Zu den Familienverhältnissen gab der Bruder an, dass die Mutter geschieden und in der Zeit, als es beim Kläger so heftig im
Hort gewesen sei, Alleinverdienende gewesen sei. Als sie wieder geheiratet habe, seien er und der Kläger aus dem Hort genommen
worden. Der Kläger und er seien des Öfteren bei der Patentante zur Betreuung gewesen. Er selbst sei öfter auch freiwillig
zu ihr gegangen, weil sie immer großzügig Taschengeld gegeben habe. Ansonsten könne er sich nur noch daran erinnern, dass
sie unangenehm aufdringlich gewesen sei. Sie habe ihn abküssen wollen, was er aber immer habe vermeiden können. Seit ca. eineinhalb
Jahren habe er keinen Kontakt mehr zum Kläger. Der Kläger habe einen besonderen Charakter. Er sei zwar zuverlässig und hilfsbereit,
benötige aber oftmals Unterstützung in seiner Hilflosigkeit. Oft stecke er sich vielleicht auch zu hohe Ziele, die er nicht
schaffe. Zuverlässigkeit und Hilfsbereitschaft würden aber bei seinen Eltern enden.
Die hausärztliche Praxis Dres. R. berichtete am 11.02.2015, dass der Kläger an einer schweren Depression leide und immer wieder
über traumatische Erlebnisse in der Kindheit berichtet habe, welche er bis heute nicht verarbeiten könne. Hierbei stehe besonders
das schwierige Verhältnis zu seiner Mutter im Vordergrund.
Mit Bescheid vom 10.06.2015 lehnte der Beklagte den Antrag auf Beschädigtenversorgung ab. Er begründete die Ablehnung damit,
dass ein vorsätzlicher, rechtswidriger tätlicher Angriff nicht nachgewiesen sei. Demütigungen, Erniedrigungen, Einsperren
im Kinderhort und Familie sowie die Gleichgültigkeit der Mutter seien von vornherein keine tätlichen Angriffe im Sinne des
OEG, da keine unmittelbare Einwirkung auf die körperliche Unversehrtheit stattgefunden habe. Soweit Prügeleien in der Kindheit
unter Gleichaltrigen vorgetragen worden seien, seien bis auf den Vorfall mit dem Hundekot keine Einzelfälle geschildert bzw.
von den Zeugen genannt worden. Es sei nicht mehr nachvollziehbar, wer mit den Streitigkeiten begonnen habe, wie oft es dazu
gekommen sei und wie schwer diese gewesen seien. Zu den vom Kläger angegebenen sadistischen Quälereien durch die Betreuerin
im Hort erinnere er sich nach eigenen Angaben nicht mehr an Einzelheiten. Die Angaben zum sexuellen Missbrauch durch die Patin
seien unsubstantiiert. Eine gewisse unangenehme Aufdringlichkeit erfülle noch keinen Straftatbestand. Körperliche Misshandlungen
durch den Stiefvater seien von Zeugen nicht bestätigt worden. Damit könne nicht überprüft werden, ob etwaige Schläge das damals
zulässige Maß erzieherisch motivierter körperlicher Züchtigungen überschritten hätten.
Am 22.06.2015 erhoben die Bevollmächtigten des Klägers Widerspruch und beantragten mit Schreiben vom 06.07.2015, die im Gutachten
des Dr. H. genannten Gesundheitsstörungen als Schädigungsfolgen mit einem Grad der Schädigungsfolgen (GdS) von wenigstens
80 anzuerkennen. Es müsse - so die Bevollmächtigten im weiteren Schriftsatz vom 24.08.2015 - davon ausgegangen werden, dass
die vom Kläger angegebenen Gewalttaten seines Stiefvaters ihm gegenüber tatsächlich so stattgefunden und zu erheblichen psychischen
und physischen Beeinträchtigungen geführt hätten. Unter Umständen könne sich der Kläger nicht mehr an jede einzelne Tat erinnern.
Den Kläger treffe jedoch dafür nicht die volle Beweislast. Vernünftige Zweifel an den Schilderungen des Klägers bestünden
nicht.
Mit Widerspruchsbescheid vom 10.09.2017 wurde der Widerspruch zurückgewiesen. Es wurde darauf hingewiesen, dass die angegebenen
Taten trotz aufwändiger Ermittlungen nicht im Rahmen des dafür erforderlichen Vollbeweises nachgewiesen seien. Aufgrund der
Tatsache, dass der Kläger keine substantiierten Tatsachen bezüglich einzelner oder einer Vielzahl von Vorfällen vorbringen
könne, könne auch der abgemilderte Beweismaßstab der Glaubhaftmachung im Sinne des § 15 Gesetz über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung (KOVVfG) keine Anwendung finden. Die schlechte Beweissituation sei sicherlich wesentlich auch dadurch begründet, dass der Kläger
erst ca. 40 Jahre nach Beendigung der behaupteten Vorfälle einen Antrag auf Leistungen nach dem
OEG gestellt habe. Von gesundheitlichen Störungen können nicht auf ein bestimmtes zu Grunde liegendes Ereignis geschlossen werden.
Am 18.09.2015 haben die Bevollmächtigten des Klägers Klage zum Sozialgericht (SG) Nürnberg erhoben. Der Kläger gebe - so seine Bevollmächtigten - an, in seiner Kindheit von seinem Schwiegervater massiv
körperlich gezüchtigt worden zu sein. Dadurch seien gravierende Erkrankungen auf psychiatrischem Fachgebiet aufgetreten. Der
Kläger habe die Misshandlungen in seiner Kindheit durch seinen Stiefvater und gegebenenfalls auch die Vernachlässigung durch
seine Mutter gegenüber mehreren medizinischen Sachverständigen geschildert und wiederholt, wobei die jeweiligen Gutachter
keinerlei Zweifel an der Darstellung des Klägers gehabt hätten. Die Beeinträchtigungen würden einen GdS von wenigstens 30
bedingen. Aufgrund der Misshandlungen, welche im Kindesalter stattgefunden hätten, habe der Kläger keine Strafanzeige erstattet.
Es werde angeregt, gegebenenfalls die Mutter des Klägers umgehend zu befragen.
Neben dem Gutachten des Dr. H. haben die Bevollmächtigten des Klägers mit Schriftsatz vom 19.01.2016 ein nervenärztliches
Gutachten des Dr. M. vom 30.09.2015 vorgelegt, das für die Bundesversicherungsanstalt für Angestellte erstellt worden war.
Bei der Begutachtung hatte der Kläger angegeben, dass er sich im Hort durch die Leiterin, die er als Nazi-Frau bezeichnet
habe, misshandelt und missbraucht gefühlt habe. Weitergehende Angaben zu Gewalttaten oder sonstigen belastenden Umständen
in der Kindheit und Jugend enthält das Gutachten nicht. Der Sachverständige war zu der Einschätzung gekommen, dass es außerordentlich
rätselhaft sei, wie es dem Kläger möglich gewesen sei, über einen so langen Zeitraum eine berufliche Tätigkeit auszuüben;
das Leistungsvermögen hatte er für leichte berufliche Tätigkeiten auf unter 3 Stunden geschätzt. Im Rahmen der psychiatrischen
Diagnosen hatte der Gutachter u.a. den Verdacht auf eine posttraumatische Belastungsstörung aufgeführt.
Die Bevollmächtigten des Klägers haben mit Schreiben vom 07.03.2016 angeregt, den Bruder des Klägers, R. A., als Zeuge zu
vernehmen. Nach Mitteilung des Klägers habe dieser ebenfalls das Verhalten der Nazi-Lehrerin wahrgenommen, durch das der Kläger
nach eigener Schilderung erheblich geschädigt worden sei. Er sei mehrfach in dunkle Zimmer eingesperrt und auch körperlich
misshandelt worden.
Am 23.03.2016 hat vor dem SG ein Termin zur Beweisaufnahme stattgefunden:
* Der Stiefvater des Klägers, K. R., hat dort angegeben, dass es schon sein könne, dass er den Kläger geschlagen habe, schließlich
habe er ja auch für seine beiden Stiefsöhne gesorgt. Auf die Frage des Vorsitzenden, ob es sich eher um einen Klaps gehandelt
habe oder ob der Kläger heftiger verprügelt worden sei, hat der Zeuge angegeben, der Kläger habe eher einen Klaps bekommen.
Der ihm vorgeworfene Alkoholkonsum könne - so der Zeuge - schon aufgrund seiner damaligen beruflichen Tätigkeit so nicht stattgefunden
haben, da er u.a. für Fahrtätigkeiten eingesetzt gewesen sei und auch Bereitschaftsdienste gehabt habe. An welchen Körperstellen
er den Kläger mit seinen Schlägen getroffen habe und wie oft das vorgekommen sei, könne er nicht mehr sagen, das sei schon
zu lange her. Auch er selbst habe, als er in die Schule gekommen sei, Ohrfeigen bekommen. Schlagen passiere immer mal wieder.
* Anschließend hat sich der Kläger dahingehend geäußert, dass er ein eher unruhiges Kind gewesen sei. Bei einem Gottesdienst
sei er nicht ruhig sitzen geblieben, woraufhin seine Mutter vom Gemeindeoberhaupt der Kirche angesprochen worden sei. Sie
habe ihn dann an den Haaren gepackt und bis zur Toilette gezogen. Dort habe sie ihn verprügelt und zwar so sehr, dass er nicht
mehr gewusst habe, ob er Männlein oder Weiblein sei. Damals sei er etwa in der Grundschule gewesen.
* Der Bruder des Klägers, R. A., hat erläutert, dass er aus der Zeit im Hort vieles aus seinem Gedächtnis gestrichen habe,
an einiges erinnere er sich aber schon noch. So hätten sie nach draußen gehen müssen, wenn auf dem Gelände des Horts Ruhe
habe sein müssen. Der Kläger sei zu diesem Zeitpunkt ein zierliches Kind gewesen und er, der Bruder, habe versucht, diesen
zu schützen. Er sehe noch, wie die Meute auf seinen Bruder losgegangen sei. Er erinnere sich auch noch daran, wie seinem Bruder
etwas in den Mund gestopft worden sei. Was, könne er nicht mehr genau sagen. Sein Bruder sei weinend am Boden gelegen. Er
habe seinem Bruder nicht helfen können. Daran, ob die Initiative zu Prügeleien ausschließlich von den anderen Kindern ausgegangen
sei, könne er sich nicht mehr erinnern. Auf Nachfrage nach der Nazilehrerin hat der Zeuge erklärt, er wisse zwar, dass es
eine sehr strenge Frau gegeben habe, an mehr erinnere er sich jedoch nicht. Zuhause sei sicherlich viel über die Situation
im Hort gesprochen worden. Seine Mutter habe sich dann entschieden, den Kläger und ihn nach einem Jahr wieder aus dem Hort
herauszunehmen. Es sei keine schöne Zeit für ihn und seinen Bruder gewesen; er habe viele Erinnerungen aus dieser Zeit aus
seinem Gedächtnis gelöscht. Auch zu Hause habe es unschöne Situationen gegeben, an die er sich jetzt nicht mehr gerne erinnere.
Seiner Ansicht nach sei der Stiefvater ein Alkoholiker gewesen. Es sei öfters vorgekommen, dass er bereits nach der Arbeit
betrunken nach Hause gekommen sei. Die Situation habe sich verschlechtert, als ihre Mutter und der Stiefvater ein gemeinsames
Kind bekommen hätten. Der Stiefvater habe ihn und den Kläger geschlagen, Es seien richtige Schläge gewesen. Der Stiefvater
sei durch den Alkohol sicherlich enthemmt gewesen. Geblutet habe er nach den Schlägen allerdings nie. Er habe sich auch nicht
misshandelt gefühlt. Auf Nachfrage, ob er das Gefühl gehabt habe, die Schläge seien zur Erziehung erfolgt, hat der Zeuge erklärt,
dass dies nicht der Fall gewesen sei. Vielmehr habe ein falsches Wort genügt, dass sein Stiefvater zugeschlagen habe. Er könne
sich nicht mehr daran erinnern, dass es den Kläger häufiger erwischt habe als ihn. Seine Kindheit sei ein einziges Drama gewesen.
Befragt nach der Patentante, hat der Zeuge erklärt, dass diese eine sehr aufdringliche Person gewesen sei. Sie habe einen
auch immer gleich abschmatzen wollen. Er sei kräftiger gewesen und habe sie auf Distanz halten können. Er habe dies über sich
ergehen lassen, weil sie ihm ein großzügiges Taschengeld gegeben habe. Er habe die Frau furchtbar aufdringlich gefunden, aber
nicht mehr. Manchmal sei er auch alleine hingefahren. Ob sein Bruder auch alleine hingefahren sei, könne er nicht mehr sagen.
Auf Nachfrage hat er angegeben, dass er sich noch daran erinnere, dass sein Bruder ihm einmal etwas erzählt habe, er wisse
aber nicht mehr was und wann. Er könne sich aber vorstellen, dass irgendetwas passiert sei, weil er ja später immer alleine
hin gegangen sei und sein Bruder somit auch auf das Taschengeld verzichtet habe.
Die ebenfalls als Zeugin geladene Mutter des Klägers ist zu diesem Termin nicht erschienen; es ist aber ein ärztliches Attest
vorgelegt worden, wonach es sich bei der Mutter des Klägers um eine multimorbide, pflegebedürftige und immobile Patientin
handle, die nur im Rollstuhl geschoben werden könne. Ein Verlassen der Wohnung sei seit Jahren nicht mehr möglich.
Zwischenzeitlich ist in das Verfahren ein in einer schwerbehindertenrechtlichen Streitsache des Klägers erstelltes psychiatrisches
Gutachten des Dr. B. vom 24.02.2017 eingeführt worden, das auf einer ambulanten Untersuchung des Klägers am 20.02.2017 beruht.
Der Sachverständige hatte darauf hingewiesen, dass wegen einer starken Denkeinengung des Klägers auf seine Opferrolle eine
geordnete Anamneseerhebung nur äußerst mühsam möglich gewesen sei. Der Kläger habe angegeben, dass sich die Eltern getrennt
hätten, nachdem sein Bruder auf die Welt gekommen sei. Seinen leiblichen Vater habe er wohl nur einmal im Jahr 1968 gesehen.
Dieser sei - so der Kläger - Opfer seiner Mutter gewesen, da er von ihr keinerlei Liebe erhalten habe. Auch er selbst habe
von seiner Mutter keine Liebe oder Zuwendung erhalten; er sei ihr gleichgültig gewesen. Der Stiefvater habe ihn wegen Kleinigkeiten
verprügelt. Es hätten früher neurotische Störungen vorgelegen; er, der Kläger, habe Nägel gebissen, bettgenässt und schon
als Kind gestottert. Etwa 1971 sei er von seiner Mutter über 3 bis 4 Jahre hinweg in einen Kinderhort geschickt worden, währenddessen
er von einer Nazilehrerin in einen Raum gesperrt und sadistisch gequält worden sei. In seiner Kindheit sei er zudem von seiner
Patin missbraucht worden. Diese habe ihn umarmt, geküsst, dann betrunken gemacht und letztendlich vergewaltigt. Befragt zu
seinen jetzigen Beschwerden habe der Kläger angegeben, dass er sich als Naziopfer erlebe. Der Staat wolle ihn verarschen und
in den Selbstmord treiben. Die Behörde sowie die Staatsanwaltschaft wüssten Bescheid. Alle Ärzte, die wegschauen würden, auch
der Gutachter, würden einen Bürgerkrieg wollen. Die Gleichgültigkeit in der Gesellschaft nehme immer mehr zu. Er lasse sich
jedoch nicht in den Selbstmord treiben und sei ein Kämpfer. Der Sachverständige hat den Kläger als beinahe wahnhaft auf seine
Opferrolle eingeengt beschrieben. Inwieweit bei der Begutachtung bewusstseinsnahe oder bewusstseinsferne Verdeutlichungstendenzen
vorgelegen hätten, könne nicht sicher beurteilt werden. Eine gewisse Beschwerdeaggravation sei jedoch dringend anzunehmen.
Der Gutachter hat eine kombinierte Persönlichkeitsstörung mit emotional-instabilen und paranoid-anmutenden Anteilen diagnostiziert.
Von einer Intelligenzminderung sei nicht auszugehen, da es dem Kläger möglich gewesen sei, zwei Berufsausbildungen (zunächst
zum Bäcker, später zum Altenpfleger) erfolgreich zu absolvieren. Einen Grad der Behinderung von 60 auf psychiatrischem Fachgebiet
hatte der Sachverständige für zutreffend erachtet.
Die Mutter des Klägers, die schriftlich als Zeugin befragt worden ist, hat am 19.04.2017 mitgeteilt, dass sie von ihrem Zeugnisverweigerungsrecht
Gebrauch mache.
Mit Urteil vom 27.07.2017 ist die Klage abgewiesen worden. Was die Schläge durch den Stiefvater betreffe, sei - so das SG - letztlich auch nach der Vernehmung der Zeugen R. A. und K. R. nicht mehr aufzuklären, ob die Schläge das nach damaliger
Rechtslage noch bestehende elterliche Züchtigungsrecht überschritten hätten. Auch der Vorfall im Hort lasse sich nicht mehr
aufklären. Der Bruder des Klägers habe hierzu in der Beweisaufnahme keine näheren Angaben machen können. Hinsichtlich der
Vorfälle mit der "Nazi-Lehrerin" sei der Kläger stets pauschal geblieben und könne keine Einzelheiten schildern. Sein Bruder,
der mit ihm den Kinderhort besucht habe, erinnere sich nur noch daran, dass es eine "strenge Lehrerin" gegeben habe, ohne
die Schilderungen des Klägers bestätigen zu können. Bei den sonstigen geschilderten Vorfällen handle es sich zwar um einen
zweifelhaften Umgang mit Kindern, aber nicht um rechtswidrige tätliche Angriffe.
Gegen das am 07.11.2017 zugestellte Urteil hat der Kläger mit Schriftsatz seiner Bevollmächtigten vom 21.11.2017 Berufung
zum Bayer. Landessozialgericht (LSG) eingelegt und die Berufung wie folgt begründet:
Das SG sei in unzutreffender Weise davon ausgegangen, dass die Übergriffe des Stiefvaters auf den Kläger vom damals noch zulässigen
elterlichen Züchtigungsrecht umfasst gewesen seien. Insbesondere habe das SG übersehen, dass körperliche Bestrafungen auch damals nur als zulässig erachtet worden seien, sofern ein konkretes Fehlverhalten
des Kindes vorgelegen habe, die Züchtigung zur Erreichung des Ziels erforderlich und angemessen gewesen sei und der Täter
mit Erziehungswillen gehandelt habe. Ein konkretes Fehlverhalten des Klägers sei auch von dem als Zeugen angehörten Täter
nicht dargelegt und im Urteil nicht thematisiert worden. Für eine Züchtigung zur Erreichung des Erziehungsziels sei zumindest
das erstrebte Erziehungsziel darzustellen und sowohl die Erforderlichkeit als auch die Angemessenheit der Züchtigung zu prüfen.
Es sei auch nicht bewiesen, ob der Täter vorliegend überhaupt mit Erziehungswillen, geschweige denn mit welchem konkreten
Erziehungsziel, gehandelt habe. Selbst nach den Ausführungen des angegriffenen Urteils sei nicht davon auszugehen, dass nach
damaliger Rechtslage ein zulässiger Fall des elterlichen Züchtigungsrechts gegeben gewesen sei. Weiter sei zu berücksichtigen,
dass das elterliche Züchtigungsrecht allenfalls den Eltern zugestanden habe, nicht aber dem Täter, der nicht der leibliche
Vater und insbesondere auch gegenüber dem Kläger nicht erziehungsberechtigt gewesen sei. Zudem seien auch damals schon quälerische,
gesundheitsschädliche oder demütigende Züchtigungen nicht erlaubt gewesen. Ebenso habe die Beweisaufnahme ergeben, dass der
Stiefvater die Züchtigungen regelmäßig in alkoholisiertem Zustand vorgenommen habe. Schon deshalb fehle es an einem konkreten
Erziehungsziel.
Zu einem Erörterungstermin am 30.05.2018 ist der Kläger trotz Anordnung des persönlichen Erscheinens nicht erschienen und
hat das Ladungsschreiben ungeöffnet mit der handschriftlichen Anmerkung, dass er sich nicht in den Selbstmord treiben lasse,
zurückgeschickt.
Der Kläger beantragt (Schriftsatz vom 21.11.2017),
das Urteil des SG Nürnberg vom 27.07.2017 sowie den Bescheid vom 10.07.2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 10.09.2015
abzuändern und den Beklagten zu verurteilen, dem Kläger ab Antragstellung Versorgungsrente nach einem GdS von wenigstens 30
aufgrund der Misshandlung und Vernachlässigung im Kindesalter zu gewähren.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Beigezogen worden sind die Klageakten des SG sowie die Verwaltungsakte des Beklagten. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt dieser Akten und der Berufungsakte,
die allesamt der Entscheidungsfindung des Senats zugrunde gelegen haben, Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Der Senat kann gemäß §§
153 Abs.
1,
124 Abs.
2 Sozialgerichtsgesetz (
SGG) ohne mündliche Verhandlung entscheiden, da beide Beteiligten hierzu im Erörterungstermin vom 30.05.2018 ihr Einverständnis
erklärt haben.
Die Berufung ist zulässig, aber unbegründet.
Ein Versorgungsanspruch besteht nicht. Wie auch das SG im angefochtenen Urteil vom 27.07.2017 kommt der Senat zu der Einschätzung, dass der Bescheid vom 10.06.2015 in der Gestalt
des Widerspruchsbescheides vom 10.09.2015 nicht zu beanstanden ist und den Kläger nicht in seinen Rechten verletzt.
Ein vorsätzlicher, rechtswidriger tätlicher Angriff gegen den Kläger ist nicht nachgewiesen.
Rechtsgrundlage für den vom Kläger geltend gemachten Anspruch ist §
1 Abs.
1 Satz 1
OEG. Danach erhält u.a. derjenige, der im Geltungsbereich des
OEG infolge eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs gegen seine Person eine gesundheitliche Schädigung erlitten
hat, wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften
des Bundesversorgungsgesetzes (BVG).
Diese Voraussetzungen liegen hier nicht vor. Ein vorsätzlicher, rechtswidriger tätlicher Angriff gegen den Kläger in der Zeit
seiner Kindheit und Jugend ist nicht nachgewiesen.
Grundsätzlich bedürfen die drei Glieder der Kausalkette des §
1 Abs.
1 Satz 1
OEG (schädigender Vorgang, [Primär-]Schädigung und Schädigungsfolgen) des Vollbeweises. Nur für die Kausalität (d.h. den ursächlichen
Zusammenhang zwischen den drei Gliedern) selbst genügt gemäß § 1 Abs. 3 BVG die Wahrscheinlichkeit, wonach (nur) mehr für als gegen einen Kausalzusammenhang sprechen muss.
Vollbeweis bedeutet, dass der Nachweis mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, geführt sein muss (ständige Rspr.,
vgl. z.B. Bundessozialgericht - BSG -, Urteile vom 15.12.1999, B 9 VS 2/98 R, und vom 07.04.2011, B 9 VJ 1/10 R). Für diesen Beweisgrad ist es zwar nicht notwendig, dass die erforderlichen Tatsachen mit absoluter Gewissheit feststehen.
Ausreichend, aber auch erforderlich ist indessen ein so hoher Grad der Wahrscheinlichkeit, dass bei Abwägung des Gesamtergebnisses
des Verfahrens kein vernünftiger, den Sachverhalt überschauender Mensch mehr am Vorliegen der Tatsachen zweifelt (vgl. BSG, Urteil vom 28.06.2000, B 9 VG 3/99 R), d.h. dass die Wahrscheinlichkeit an Sicherheit grenzt (vgl. BSG, Urteil vom 05.05.1993, 9/9a RV 1/92). Dies bedeutet, dass verbleibende Restzweifel bei der Überzeugungsbildung unschädlich sind, solange sie sich nicht zu gewichtigen
Zweifeln verdichten (vgl. BSG, Urteil vom 17.04.2013, B 9 V 1/12 R).
Wenn Unterlagen nicht vorhanden oder nicht zu beschaffen oder ohne Verschulden des Antragstellers oder seiner Hinterbliebenen
verlorengegangen sind, gilt nach § 15 Satz 1 KOVVfG ein gegenüber dem Vollbeweis abgeschwächter Beweismaßstab. In diesem Fall sind nach Maßgabe des § 15 Satz 1 KOVVfG, der gemäß §
6 Abs.
3 OEG auch im Bereich der Opferentschädigung anzuwenden ist (vgl. auch BSG, Urteil vom 31.05.1989, 9 RVg 3/89), bei der Entscheidung die Angaben des Antragstellers, die sich auf die mit der Schädigung (also insbesondere auch mit dem
tätlichen Angriff) im Zusammenhang stehenden Tatsachen beziehen, zugrunde zu legen, wenn sie nach den Umständen des Falles
"glaubhaft erscheinen".
Voraussetzung ist dabei, dass die Anwendungsvoraussetzungen des § 15 Satz 1 KOVVfG, nämlich Beweisnotstand und Fehlen von Verschulden für den Beweisnotstand, im Vollbeweis erwiesen sind (vgl. Bayer. LSG,
Urteile 17.08.2011, L 15 VG 21/10, und vom 18.01.2018, L 20 VG 84/16).
Die Beweiserleichterung des § 15 Satz 1 KOVVfG ist auch dann anwendbar, wenn für den schädigenden Vorgang Zeugen nicht vorhanden sind (vgl. BSG, Urteil vom 31.05.1989, 9 RVg 3/89). Mit Zeugen im Sinne des § 15 Satz 1 KOVVfG sind jedenfalls Tatzeugen gemeint, die zu den zu beweisenden Tatsachen aus eigener Wahrnehmung Angaben machen können. Personen,
die von einem ihnen gemäß §§
383 ff
Zivilprozessordnung zustehenden gesetzlichen Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch gemacht haben, sind dabei nicht als Zeugen anzusehen. Ob das
Gleiche für eine als Täter in Betracht kommende Person gilt, die eine schädigende Handlung bestreitet, ist streitig. Einerseits
ist die Beweisnot des Opfers, auf die sich § 15 Satz 1 KOVVfG bezieht, in diesem Fall oft nicht geringer, als wenn der Täter unerkannt geblieben oder flüchtig ist (vgl. BSG, Beschluss vom 28.07.1999, B 9 VG 6/99 B, und Urteile vom 17.04.2013, B 9 V 1/12 R, sowie vom 15.12.2016, B 9 V 3/15 R; Dau, jurisPR-SozR 5/2014, Anm. 3). Andererseits ist zu bedenken, dass selbst der leugnende Täter in vielen Fällen (unbewusst)
Angaben machen wird, die eine Beurteilung seiner Glaubwürdigkeit zulassen oder die für den Anspruch der Kläger des sozialgerichtlichen
Verfahrens durchaus förderlich sein können. Auch ist die Beschränkung auf "Tatzeugen" nicht nachvollziehbar. So ist der Begriff
des "Tatzeugen" aufgrund der Vielfältigkeit der möglichen Tatumstände nicht klar definierbar. Zudem liegt zwar nahe, dass
eine vergleichbare Beweisnot des Opfers besteht, wenn überhaupt kein Zeuge im Umfeld der Tat vorhanden ist. Wenn jedoch z.B.
Zeugen vorhanden sind, die unmittelbar Wahrnehmungen aus eigener Anschauung bezüglich unmittelbar im Anschluss an die strafrechtliche
Tatbeendigung erfolgter Geschehensabläufe wiedergeben können oder die während der Tat diese selbst zwar nicht beobachtet,
jedoch entsprechende eindeutige Beobachtungen gemacht haben, kann von einer vergleichbaren Beweisnot nicht die Rede sein (vgl.
Bayer. LSG, Urteile vom 05.02.2013, L 15 VG 22/09, vom 21.04.2015, L 15 VG 24/09, und vom 26.01.2016, L 15 VG 30/09; LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 22.09.2016, L 6 VG 1927/15). Unabhängig von diesem Streit ist es jedenfalls Konsens, dass Aussagen leugnender (mutmaßlicher) Täter nicht unbeachtlich
sind, sondern durchaus Hinweise und Anhaltspunkte enthalten können, die den nach § 15 Satz 1 KOVVfG erleichterten Beweis scheitern lassen können, weil die Angaben des Antragstellers danach nicht glaubhaft erscheinen (vgl.
Dau, jurisPR-SozR 5/2014, Anm. 3).
Bei dem "Glaubhafterscheinen" im Sinne des § 15 Satz 1 KOVVfG handelt es sich um den dritten, mildesten Beweismaßstab des Sozialrechts. Glaubhaftmachung bedeutet das Dartun einer überwiegenden
Wahrscheinlichkeit (vgl. BSG, Urteil vom 17.04.2013, B 9 V 1/12 R; Keller, in: Meyer-Ladewig/ders./Leitherer/A.,
SGG, 12. Aufl. 2017, §
128, Rdnr. 3d - m.w.N.), d.h. der guten Möglichkeit, dass sich der Vorgang so zugetragen hat, wobei durchaus gewisse Zweifel
bestehen bleiben können (vgl. BSG, Urteil vom 17.04.2013, B 9 V 1/12 R). Dieser Beweismaßstab ist durch seine Relativität gekennzeichnet. Es muss nicht, wie bei der Wahrscheinlichkeit des ursächlichen
Zusammenhangs, absolut mehr für als gegen die glaubhaft zu machende Tatsache sprechen. Es reicht die gute Möglichkeit aus,
d.h. es genügt, wenn bei mehreren ernstlich in Betracht zu ziehenden Möglichkeiten das Vorliegen einer davon relativ am wahrscheinlichsten
ist (vgl. Keller, a.a.O., § 128, Rdnr. 3d - m.w.N.), weil nach Gesamtwürdigung aller Umstände besonders viel für diese Möglichkeit
spricht. Von mehreren ernstlich in Betracht zu ziehenden Sachverhaltsvarianten muss einer den übrigen gegenüber ein gewisses
(kein deutliches) Übergewicht zukommen. Die bloße Möglichkeit jedoch reicht nicht aus, um die Beweisanforderungen des § 15 Satz 1 KOVVfG zu erfüllen. Das Gericht ist allerdings im Einzelfall grundsätzlich darin frei, ob es die Beweisanforderungen als erfüllt
ansieht (Freiheit der richterlichen Beweiswürdigung, §
128 Abs.
1 Satz 1
SGG) (vgl. BSG, Urteil vom 17.04.2013, B 9 V 1/12 R).
Zu beachten bei der Anwendung des abgesenkten Beweismaßstabs des § 15 Satz 1 KOVVfG ist schließlich, dass damit keine Verringerung der Vortragslast des Antragstellers dahingehend verbunden ist, dass nur noch
eine vergleichsweise oberflächliche und detailarme Schilderung des als Gewalttat angegebenen Geschehens ausreichend wäre.
Vielmehr muss der Antragsteller selbst Angaben zu den entscheidungserheblichen Fragen aus eigenem Wissen machen und dazu widerspruchsfrei
vortragen (vgl. LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 20.12.2006, L 10 VG 17/02; LSG Baden-Württemberg, Urteile vom 21.04.2015, L 6 VG 2096/13, und vom 23.06.2016, L 6 VG 4400/15). Kann der Antragsteller keine Angaben aus eigenem Wissen oder überhaupt keine Angaben machen, können mit § 15 Satz 1 KOVVfG Beweisschwierigkeiten bei dem zugrunde zu legenden Sachverhalt nicht behoben werden (vgl. BSG, Urteil vom 28.06.2000, B 9 VG 3/99 R). Damit wird auch deutlich, dass § 15 Satz 1 KOVVfG den Antragsteller nicht von der Verpflichtung entbindet, so klare und detailreiche Angaben zu machen, dass sich aus diesen
Angaben der vollständige Sachverhalt so weit konkretisieren lässt, wie es für die Annahme eines vorsätzlichen, rechtswidrigen
tätlichen Angriffs gegen seine Person im Sinne des §
1 Abs.
1 Satz 1
OEG erforderlich ist. Denn im Gegensatz zu den Fällen, in denen andere Beweismittel zur Verfügung stehen, stellen im Falle des
§ 15 Satz 1 KOVVfG die Angaben des Betroffenen weitestgehend die einzige Möglichkeit zur Rekonstruktion des Sachverhalts dar.
Wie hoch - sowohl im Rahmen des Vollbeweises als auch des abgemilderten Beweismaßstabs des § 15 Satz 1 KOVVfG - die Anforderungen an die zeitlich, aber auch der Art nach bestimmte Konkretheit des als schädigenden Ereignisses geltend
gemachten vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs sind, lässt sich abstrakt nicht beantworten. Denn "an die Feststellung
eines detaillierten Geschehensablaufs sind versorgungsrechtlich keine Rechtsfolgen geknüpft", sondern der GdS bemisst sich
"anhand der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen der Schädigung" (BSG, Urteil vom 18.11.2015, B 9 V 1/14 R). Das Gericht hat daher gemäß §
128 Abs.
1 Satz 1
SGG nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung zu entscheiden, wobei es ist in seiner Beweiswürdigung
frei und lediglich an die Regeln der Logik und der Erfahrung gebunden ist. Die freie Beweiswürdigung des Tatsachengerichts,
die eine umfassende Berücksichtigung des Gesamtergebnisses des Verfahrens voraussetzt, findet ihre Grenzen erst in den allgemeinen
Erfahrungssätze und Denkgesetzen (ständige Rspr., vgl. z.B. BSG, Urteil vom 15.12.2016, B 9 V 3/15 R - m.w.N.). So hat beispielsweise das BSG im Urteil vom 18.11.2015, B 9 V 1/14 R, darauf hingewiesen, dass es der tatrichterlichen Annahme einer Schädigung im Sinne des §
1 OEG angesichts einer missbrauchsbedingten Schwangerschaft nicht entgegen stehe, dass die einzelnen Missbrauchshandlungen im Übrigen
zeitlich nicht mehr genau fixierbar gewesen seien und der Tathergang nicht mehr bis ins Detail habe rekonstruiert werden können.
Gerade im Zusammenhang mit § 15 Satz 1 KOVVfG wird aber oft eine geringe oder fehlende Detailtiefe die Beweisführung erschweren, da es dem Gericht im Rahmen der freien
Beweiswürdigung umso schwerer fallen wird, sich die Überzeugung davon zu verschaffen, dass ein geltend gemachtes Geschehen
glaubhaft erscheint, umso weniger konkret die Umstände des Geschehens vorgetragen werden. Diese bedeutet aber nicht gleichzeitig,
dass einer über die Maßen detailreichen Schilderung quasi automatisch der höchste Beweiswert zuzuschreiben wäre. Vielmehr
ist die Beweiswürdigung im Einzelfall unter Berücksichtigung der Gesamtumstände vorzunehmen.
Ausgehend von diesen rechtlichen Vorgaben ist dem Kläger keine Versorgung nach dem
OEG wegen der von ihm angegebenen Geschehnisse in seiner Kindheit und Jugend zu gewähren.
Keiner der vom Kläger vorgetragenen Sachverhalte begründet eine Versorgung nach dem
OEG, weder die von ihm geschilderten Erlebnisse im Hort noch das von ihm als aufdringlich und mit sexuellem Missbrauch verbunden
beschriebene Verhalten seiner Patin noch die von ihm angegebenen Prügel durch seinen Stiefvater noch die nur einmal im Beweiserhebungstermin
vor dem SG am 23.03.2016 beschriebenen Prügel durch seine Mutter noch die von ihm zuletzt im Berufungsantrag erneut geltend gemachte
Vernachlässigung im Kindesalter durch seine Mutter.
1. Erlebnisse im Hort
Der Kläger hat angegeben, dass er im Hort von anderen Kindern verprügelt worden sei, ihm von anderen Kindern Kot in den Mund
gestopft worden sei und er von einer von ihm als Nazilehrerin beschriebenen Lehrerin gequält und eingesperrt worden sei.
1.1. Prügeleien
Der Senat geht - mit Blick auf die Beweisanforderungen zu Gunsten des Klägers - davon aus, dass nicht für alle Prügeleien,
in die der Kläger verwickelt war, heute noch Zeugen zur Verfügung stehen. Aber auch bei Zugrundelegung des abgemilderten Beweismaßstabs
des § 15 Satz 1 KOVVfG erscheinen dem Senat keine Gewalttaten im Sinne des
OEG glaubhaft. Dies zum einen deshalb, weil keine Prügeleien glaubhaft erscheinen, die über das unter Kinder in diesem Alter
übliche Maß hinausgehen würden, zum anderen deshalb, weil unklar ist, ob die Prügeleien von den anderen Kindern oder (auch)
vom Kläger selbst ausgegangen sind. So hat auch der Bruder des Klägers im Beweisaufnahmetermin vom 23.03.2016 angegeben, dass
er sich nicht mehr daran erinnern könne, dass die Initiative zu den Prügeleien ausschließlich von anderen Kindern ausgegangen
sei.
1.2. Kot in den Mund gestopft
Der Senat geht davon aus, dass ein Ereignis im Kinderhort stattgefunden hat, bei dem dem Kläger von anderen Kindern etwas
in den Mund gestopft worden ist. Dies hat auch der Bruder des Klägers bestätigt. Nicht nachgewiesen im Sinne des dafür erforderlichen
Vollbeweises ist für den Senat aber, dass dem Kläger Kot in den Mund gestopft worden ist und damit ein Geschehen vorgelegen
hat, das über das unter Kindern in diesem Alter übliche Maß tätlicher Auseinandersetzungen hinausgegangen ist. Dabei stützt
sich der Senat auf die Angaben des Bruders des Klägers, der zwar das Ereignis an sich bestätigt hat, nicht aber angeben konnte,
was dem Kläger in den Mund gestopft worden ist. Dass dem Kläger tatsächlich Kot - und nicht etwas anderes, weniger Ekelhaftes
- in den Mund gestopft worden ist, erscheint dem Senat sehr zweifelhaft. Der Senat geht davon aus, dass sich der Bruder des
Klägers daran erinnern würde, wenn dem Kläger tatsächlich Kot in den Mund gestopft worden wäre. Denn es würde sich dabei um
ein derart außergewöhnliches Ereignis handeln, das mit großer Wahrscheinlichkeit im Gedächtnis bleiben würde, zumal auch der
restliche Vorgang in der Erinnerung des Bruders des Klägers abrufbar gewesen ist.
Der erleichterte Beweismaßstab des § 15 Satz 1 KOVVfG kann insofern nicht zur Anwendung kommen, da mit dem Bruder ein Zeuge für das Geschehen vorhanden ist. Dass dem Senat die
Angaben des Klägers im Übrigen insofern auch nicht als glaubhaft erscheinen, sei lediglich der Vollständigkeit halber angemerkt.
1.3. Quälereien und Eingesperrtwerden durch die "Nazilehrerin"
Es kann dahingestellt bleiben, ob der Vortrag des Klägers des Vollbeweises oder nur des Glaubhafterscheinens im Sinne des
§ 15 Satz 1 KOVVfG, wobei dessen Anwendung schon wegen der geringen Detailreiche der klägerischen Angaben zweifelhaft ist, bedarf. Denn abgesehen
von den Behauptungen des Klägers sind keinerlei Umstände ersichtlich, die das Vorbringen des Klägers stützen würden. So hat
auch der Bruder nur bestätigen können, dass es zwar eine Lehrerin gegeben habe, die sehr streng gewesen sei, nicht aber, dass
diese irgendwelche Gewalttätigkeiten gegenüber dem Kläger begangen hätte. Es erscheint dem Senat daher sehr naheliegend, dass
sich der Eindruck einer sehr strengen Lehrerin im Laufe der Zeit in der Erinnerung des Klägers dramatisiert hat und der Kläger
daher von Gewalttätigkeiten ausgeht, die so überhaupt nicht stattgefunden haben. Von einem Glaubhafterscheinen der im Übrigen
sehr unpräzisen Angaben des Klägers kann daher insofern nicht ausgegangen werden.
2. Geschehnisse bei der Patin
Der Kläger hat angegeben, dass seine Patin sehr aufdringlich gewesen sei, ihn auch betrunken gemacht und sexuell missbraucht
habe. Glaubhaft erscheint dies dem Senat jedoch nicht, wobei der Senat die Frage dahingestellt lässt, ob der Anwendung des
§ 15 KOVVfG nicht schon die Detailarmut des klägerischen Vortrags entgegensteht.
Das auch vom Bruder des Klägers allgemein bestätigte unangenehm-aufdringliche Verhalten der Patin begründet keinen tätlichen
Angriff im Sinne des
OEG, so dass dieses Verhalten vorliegend außer Betracht zu bleiben hat.
Sofern der Kläger einen sexuellen Missbrauch durch die Patin angibt, würde es ausreichen, wenn ein derartiger Missbrauch im
Sinne des § 15 Satz 1 KOVVfG glaubhaft erscheinen würde. Nicht erforderlich ist der Nachweis im Sinne des Vollbeweises, weil dafür keine Tatzeugen bestehen
und auch sonst keinerlei Unterlagen vorhanden sind.
Der Senat kann sich jedoch nicht die Überzeugung davon verschaffen, dass der vom Kläger behauptete sexuelle Missbrauch tatsächlich
glaubhaft erscheint. Die vom Kläger in diesem Zusammenhang gemachten Angaben bewegen sich durchwegs auf völlig abstrakter
Ebene, so dass sich schon aus den Angaben des Klägers kein hinreichend konkreter Sachverhalt ableiten lässt, für den ein Glaubhafterscheinen
ausreichen würde. Denn die Beweiserleichterung des § 15 Satz 1 KOVVfG entbindet den Betroffenen nicht von einer zumindest einigermaßen konkreten Darstellung des von ihm behaupteten Sachverhalts,
die dem Gericht eine Überzeugungsbildung im Sinne eines Glaubhafterscheinens ermöglicht, ob die behauptete Tat überhaupt (so)
stattgefunden hat, sondern erleichtert dem Betroffenen nur die Nachweisführung hinsichtlich des konkreten Sachverhalts. Der
Kläger hat das Geschehen aber lediglich als sexuellen Missbrauch bezeichnet, ohne irgendwelche Details zu nennen, die einem
Glaubhafterscheinen zugänglich wären. Im Übrigen ergibt sich auch aus der vom SG vorgenommenen Befragung des Bruders des Klägers als Zeugen nichts, was konkrete Hinweise auf einen sexuellen Missbrauch liefern
würde. So hat der Bruder lediglich angegeben, dass ihm sein Bruder einmal etwas erzählt habe, ohne sich noch daran erinnern
zu können, was und wann das gewesen sei. Allein die Angabe des Bruders, er könne sich vorstellen, dass "irgendetwas passiert"
sei, lässt einen sexuellen Missbrauch nicht als naheliegend erscheinen. Auch der schriftlichen Zeugenaussage der Mutter des
Klägers im Verwaltungsverfahren sind keine Hinweise auf einen potentiellen sexuellen Missbrauch durch die Patin zu entnehmen,
auch wenn die Angabe der Mutter insofern keinen großen Erkenntniswert liefert, da sie nicht gezielt nach einem sexuellen Missbrauch
gefragt worden ist. Auffällig und nicht unerhebliche Zweifel an den Angaben des Klägers weckend ist schließlich, dass der
Kläger bei mehreren Begutachtungen nur teilweise einen sexuellen Missbrauch angegeben hat, wiederum ohne irgendwelche näheren
Angaben dazu zu machen. Der Umstand, dass nicht bei jeder Begutachtung der sexuelle Missbrauch vorgetragen worden ist, obwohl
der Kläger diesen im Verfahren nach dem
OEG als ganz wesentlich betrachtet hat, legt es nahe, dass ein sexueller Missbrauch vermutlich überhaupt nicht stattgefunden
hat und der Kläger sich erst im Laufe der Zeit aus dem auch für den Senat nachgewiesenen aufdringlichen Verhalten der Patin
und unter dem sich verfestigenden Gedanken, er befinde sich in einer Opferrolle, einen sexuellen Missbrauch ausgedacht hat,
den er möglicherweise jetzt sogar in seinem subjektiven Empfinden als tatsächlich durchlebt betrachtet. Ganz allgemein ergeben
sich auch deshalb Zweifel am Wahrheitsgehalt der Angaben des Klägers, weil der Eindruck nicht fern liegt, dass seine Angaben
nicht immer den Tatsachen, sondern möglicherweise nur seiner subjektiven, durch das Einnehmen der Opferrolle, wie dies der
Sachverständige Dr. B. festgestellt hat, geprägten Sichtweise entsprechen. So hat der Kläger beispielsweise angegeben, dass
er im Hort über mehrere Jahre hinweg, er spricht von drei bis vier Jahren, massiven Belastungen ausgesetzt gewesen sei und
seine Mutter trotz entsprechender Kenntnis dagegen nichts übernommen habe. Dies ist durch die Zeugenaussage des Bruders des
Klägers und auch die Angaben der Mutter im Verwaltungsverfahren widerlegt. So hat der Bruder R. A. bei der Befragung vor dem
SG am 23.03.2016 angegeben, dass zuhause viel über die Situation im Hort gesprochen worden sei und sich dann die Mutter entschieden
habe, den Kläger und seinen Bruder nach einem Jahr - und nicht erst nach drei bis vier Jahren, wie dies der Kläger behauptet!
- wieder aus dem Hort herauszunehmen. Die Mutter hat am 05.02.2015 schriftlich gegenüber dem Beklagten auf die Frage, ob ihr
der Kläger von Vorfällen im Hort berichtet habe, mitgeteilt, dass sie sich deshalb mit der Hortleitung in Verbindung gesetzt
und sich dort beschwert habe. Die Angaben des Klägers, dass ihn seine Mutter trotz Kenntnis der Vorfälle im Hort drei bis
vier Jahre dort gelassen habe, sind somit nach der Überzeugung des Senats falsch. Dies legt den Schluss nahe, dass auch andere
Angaben des Klägers nicht den objektiven Tatsachen entsprechen. Jedenfalls besteht für den Senat für einen sexuellen Missbrauch
durch die Patin allenfalls eine bloße, keinesfalls aber eine gute Möglichkeit.
3. Prügel durch den Stiefvater des Klägers
Der Kläger hat angegeben, oft und aus teilweise völlig nichtigem Anlass von seinem Stiefvater massiv verprügelt worden zu
sein. Für den Senat ist jedoch nicht nachgewiesen, dass darin eine Gewalttat im Sinne des
OEG liegt.
Zu körperlichen Misshandlungen von Kindern durch ihre Eltern hat das BSG im Urteil vom 17.4.2013, B 9 V 1/12 R, Folgendes ausgeführt:
"Soweit Kinder Opfer körperlicher Gewalt ihrer Eltern werden, die die Erheblichkeitsschwelle überschreitet, liegt regelmäßig
eine Körperverletzung iSd §
223 StGB und damit auch ein tätlicher Angriff nach §
1 I 1
OEG vor. Nach §
1631 II
BGB haben Kinder ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende
Maßnahmen sind unzulässig. Daraus folgt jedoch nicht, dass jede Vernachlässigung von Kindern und jede missbräuchliche Ausübung
der elterlichen Sorge, die das körperliche, geistige oder seelische Wohl des Kindes gefährdet, als Gewalttat angesehen werden
kann (Rademacker in Knickrehm, Gesamtes Soziales EntschädigungsR, 2012, §
1 OEG Rn. 51) ... Derartige schädigende Vorgänge" - Anmerkung des Senats: gemeint sind damit körperliche Misshandlungen - "werden
zwar von §
1 Abs
1 S 1
OEG erfasst, soweit sie nicht von dem seinerzeit noch anerkannten elterlichen Züchtigungsrecht (vgl BGH Beschluss vom 25.11.1986
- 4 StR 605/86 - JZ 1988, 617) gedeckt waren."
Bei den vom Kläger angegebenen Schlägen ist, was den Beweismaßstab betrifft, zu differenzieren. Teilweise gibt es für die
Prügel einen Zeugen, nämlich den Bruder des Klägers. Teilweise ist davon auszugehen, dass der Kläger auch verprügelt worden
ist, ohne dass dieser Zeuge oder andere Zeugen dafür vorhanden sind.
3.1. Schläge in Anwesenheit des Zeugen R. A.
Für den Senat ist nicht im Rahmen des Vollbeweises nachgewiesen, dass der Kläger von seinem Stiefvater Prügel erhalten hat,
die die Erheblichkeitsschwelle überschritten haben bzw. nicht vom elterlichen Züchtigungsrecht gedeckt gewesen sind.
Die Beweiserleichterung des § 15 Satz 1 KOVVfG kann nicht zur Anwendung kommen, wenn der Bruder des Klägers als Zeuge für die Prügel zur Verfügung steht. Vielmehr ist der
Vollbeweis erforderlich.
Für den Senat ist nachgewiesen, dass der Kläger Schläge von seinem Stiefvater erhalten hat. Zwar ist nicht auszuschließen,
dass diese Schläge die Erheblichkeitsschwelle überschritten haben. Dabei stützt sich der Senat insbesondere auf die Angaben
des Bruders im Beweiserhebungstermin vor dem SG am dann 23.03.2016. Zwar hat der Zeuge angegeben, dass es "richtige Schläge" gewesen seien. Demgegenüber hat der ebenfalls
als Zeuge befragte Stiefvater angegeben, dass der Kläger von ihm eher einen Klaps bekommen habe, nicht aber Schläge. Dem Senat
erscheint es zwar durchaus nicht fernliegend, dass die Aussage des Stiefvaters auch von einer gewissen Tendenz zur Verharmlosung
und Selbstentlastung getragen war. Dass er aber zwischen Schlägen und Klapsen differenziert hat, ergibt sich schon daraus,
dass der Zeuge die von ihm selbst in der Schule erlittenen Züchtigungen eher als Schläge und nicht als Klaps bezeichnet hat.
Zweifel daran, dass die Schläge durch den Stiefvater die Erheblichkeitsschwelle überschritten haben, ergeben sich auch daraus,
dass der als Zeuge gehörte Bruder trotz der von ihm beschriebenen Schläge angegeben hat, dass er sich nicht misshandelt gefüllt
habe. Dies legt den Eindruck nicht fern, dass die Schläge doch nicht so erheblich waren, wie sie vom Kläger dargestellt werden.
Denn es ist aufgrund der Zeugenaussagen nicht davon auszugehen, dass die Schläge gegenüber dem Kläger heftiger gewesen wären
als die beim Bruder. Auch sind offenbar keine ärztlichen Behandlungen nach den behaupteten Prügeln nötig gewesen. Zudem hat
der Bruder als Zeuge angegeben, dass er nie nach den Schlägen geblutet habe. Insofern verbleiben nicht unerhebliche Zweifel
daran, dass die vom Kläger vorgetragenen Prügel die Erheblichkeitsschwelle zu einer Körperverletzung überschritten haben und
nicht vom Züchtigungsrecht gedeckt gewesen sind.
3.2. Schläge, ohne dass es dafür einen Zeugen gibt
Es ist davon auszugehen, dass dem Kläger auch Schläge verabreicht worden sind, ohne dass außer dem vom Kläger angegebenen
Täter, seinem Stiefvater, und dem Kläger selbst weitere Personen als Zeugen anwesend gewesen sind. Es erscheint dem Senat
aber nicht glaubhaft, dass dabei die Erheblichkeitsschwelle überschritten worden ist.
Ob bei einer derartigen Konstellation, bei der der Täter - hier der Stiefvater - Angaben macht, der Anwendungsbereich des
§ 15 Satz 1 KOVVfG eröffnet ist, ist diskussionswürdig (vgl. oben), kann aber vorliegend offen bleiben, da es für den Senat auch bei Zugrundelegung
des reduzierten Beweismaßstabs des § 15 Satz 1 KOVVfG nicht glaubhaft erscheint, dass die vom Kläger angegebenen Schläge die Erheblichkeitsschwelle überschritten haben.
Dem Senat erscheint es zwar möglich, dass die vom Kläger behaupteten Schläge die Erheblichkeitsschwelle überschritten haben;
eine gute Möglichkeit sieht er dafür aber nicht. Seine Zweifel an den Angaben des Klägers stützt der Senat dabei einerseits
auf den Umstand, dass die Angaben des Klägers auch zu anderen Gesichtspunkten nicht konsistent erscheinen und der Kläger in
seinem Verhalten offenkundig durch die Fixierung auf eine Opferrolle geprägt ist (vgl. auch oben). Andererseits hat der Senat
auch wegen der Angaben des Stiefvaters im Beweisaufnahmetermin vom 23.03.2016 Zweifel daran, dass die Schläge tatsächlich
so ausgeprägt waren, wie dies der Kläger jetzt vorgibt. Auch wenn der Stiefvater der potentielle Täter hinsichtlich der Prügel
ist, steht dennoch einer Verwertung der von ihm gemachten Angaben zu den vom Kläger behaupteten Geschehnissen nichts entgegen.
Die Erheblichkeitsschwelle überschreitende Schläge durch den Stiefvater erscheinen dem Senat daher nicht glaubhaft im Sinne
des § 15 Satz 1 KOOVfG.
4. Schläge durch die Mutter
Der Kläger hat ein einziges Mal, nämlich im Beweisaufnahmetermin vor dem SG am 23.03.2016, die Ausübung körperlicher Gewalt durch seine Mutter ihm gegenüber vorgetragen.
Selbst bei Zugrundelegung der reduzierten Beweisanforderungen des § 15 Satz 1 KOVVfG ist für den Senat damit jedoch eine Gewalttat im Sinn des §1
OEG nicht nachgewiesen. Zwar hat der Kläger bei der Beschreibung dieses Ereignisses - im Vergleich zu allen anderen Geschehnissen,
die er mehrfach behauptet hat - vergleichsweise detaillierte Angaben gemacht, was für eine Realitätsnähe der Angaben spricht.
So geht der Senat auch davon aus, dass sich tatsächlich während eines Gottesdienstes ein Ereignis zugetragen hat, das dem
ähnelt, was der Kläger beschrieben hat. Angesichts der vom Kläger gemachten Angaben geht der Senat aber davon aus, dass der
Kläger mit seinem unruhigen Verhalten im Gottesdienst auch einen Anlass für erzieherische Maßnahmen durch seine Mutter gesetzt
hat. Dem Senat erscheint es zudem nicht glaubhaft, dass die Mutter den Kläger so stark verprügelt hätte, dass er nicht mehr
gewusst hat, ob er "Männlein oder Weiblein" sei, wobei der Kläger für den Senat mit dieser Formulierung außerordentlich heftige
Schläge zum Ausdruck bringen will. Diese Ausprägung der vom Kläger vorgetragenen Schläge erscheint dem Senat nicht glaubhaft.
Wäre es tatsächlich zu einem so schlimmen Vorfall gekommen, wäre dies beim Kläger nach der Überzeugung des Senats viel eindrücklicher
in Erinnerung geblieben und von ihm auch bereits früher in Zusammenhang mit seinen Angaben zu Misshandlungen vorgebracht worden.
Der Kläger hat aber bis dato immer nur von einer seelischen Vernachlässigung und fehlender Wertschätzung seiner Mutter gesprochen,
seiner Mutter aber nie körperliche Gewalttätigkeiten vorgeworfen. Insofern erscheinen die Angaben des Klägers im Beweisaufnahmetermin
vom 23.03.2016 dem Senat überraschend und mit Blick auf die Vorgeschichte nicht als glaubhaft.
5. Vernachlässigung durch die Mutter des Klägers
Die Vernachlässigung von Kindern und auch eine missbräuchliche Ausübung der elterlichen Sorge, selbst wenn sie das körperliche,
geistige oder seelische Wohl des Kindes gefährden oder schädigen, können nicht als Gewalttat im Sinne des
OEG angesehen werden (vgl. Rademacker, in: Knickrehm, Gesamtes Soziales Entschädigungsrecht, 1. Aufl. 2012, §
1 OEG, Rdnr. 51; vgl. auch BSG, Beschluss vom 10.05.2017, B 9 V 75/16 B - zu "desolaten Familienverhältnissen"). Eine erweiternde Auslegung des Begriffs des tätlichen Angriffs auf die Fälle rein
seelischer Misshandlungen verbietet sich. Im Gegensatz zum sexuellen Missbrauch von minderjährigen Kindern, bei dem das BSG eine erweiternde Auslegung zugelassen hat, fehlt es bei rein seelischen Misshandlungen an Tätlichkeiten, die gegen den Körper
des Kindes gerichtet sind (vgl. BSG, Urteil vom 17.04.2013, B 9 V 1/12 R).
Anlass für weitere Ermittlungen hat der Senat nicht gesehen. Andere Zeugen als die bereits vom SG vernommenen stehen nicht zur Verfügung. Eine Befragung der Mutter des Klägers ist angesichts der von ihr schriftlich gegebenen
Auskünfte und des Umstandes, dass sich ihr Gesundheitszustand seitdem offenbar maßgeblich verschlechtert hat, nicht angebracht,
zumal sie auch gegenüber dem SG von ihrem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch gemacht hat. Eine aussagepsychologische Begutachtung des Klägers war nicht angezeigt;
die Bewertung von Zeugenaussagen und Angaben des Betroffenen ist ureigene Sache des Gerichts; irgendein Anlass für eine aussagepsychologische
Begutachtung bestand im vorliegenden Fall nicht.
Es hat auch für den Senat kein Anlass bestanden, den Kläger nochmals zu befragen, zumal er sich dem Erörterungstermin am 30.05.2016
dadurch entzogen hat, dass er die Ladung ungeöffnet zurückgeschickt hat und beim Gerichtstermin nicht erschienen ist.
Nach alledem hält es der Senat zwar nicht für völlig ausgeschlossen, dass der Kläger in seiner Kindheit und Jugend tätlichen
Angriffen und möglicherweise auch sexuellem Missbrauch ausgesetzt gewesen ist. Es mangelt jedoch am notwendigen Beweis im
Sinne des Vollbeweises, aber auch im Sinne des Glaubhafterscheinens gemäß § 15 Satz 1 KOVVfG.
Die Frage, wie mit Blick auf §
10a OEG damit umzugehen ist, wenn ein Komplex mehrerer tätliche Angriffe vorliegt, die zum Teil vor Inkrafttreten des
OEG, teilweise danach stattgefunden haben, stellt sich im vorliegenden Verfahren nicht, da bereits die tätlichen Angriffe nicht
nachgewiesen sind. Ebenso stellt sich nicht die Frage der Abgrenzung einer psychischen Erkrankung, die möglicherweise durch
eine vernachlässigende Erziehung bedingt ist, mit potentiellen psychischen Schädigungsfolgen, da es schon am Nachweis der
schädigenden Handlung fehlt.
Die Berufung kann daher keinen Erfolg haben.
Die Kostenentscheidung beruht auf §
193 SGG.
Ein Grund für die Zulassung der Revision liegt nicht vor (§
160 Abs.
2 Nrn. 1 und 2
SGG).