Pflegegeldanspruch unter Berufung auf die UN-BRK
Zeitpunkt der Rechtswidrigkeit eines Verwaltungsakts
Unterschiedliche Höhe von Pflegegeld und Pflegesachleistungen
Tatbestand
Die Parteien streiten über höhere Leistungen zur Pflege nach dem
Elften Buch Sozialgesetzbuch (
SGB XI) und dem Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-Behindertenrechtskonvention - UN-BRK).
Der 1996 geborene Kläger leidet an hyperkinetischen Störungen, einem ADHS-Syndrom, Aggressionen, Vergesslichkeit und Wahrnehmungseinschränkungen.
Der Kläger wird von seiner Mutter, R. A., gepflegt.
Am 20.04.2009 stellte der Kläger erstmals einen Antrag auf Pflegegeld. Eine Begutachtung durch den Medizinischen Dienst der
Krankenversicherung in Bayern (MDK) vom 21.08.2009 ergab einen Grundpflegebedarf von 56 Minuten täglich; außerdem wurde festgestellt,
dass die Alltagskompetenz nach §
45a SGB XI in erhöhtem Maße eingeschränkt sei. Die Beklagte bewilligte mit Bescheid vom 27.08.2009 erstmals Pflegegeld der Pflegestufe
I in Höhe von monatlich 215 EUR ab dem 01.04.2009. Mit weiterem Bescheid ebenfalls vom 27.08.2009 bewilligte die Beklagte
Betreuungsleistungen mit erhöhtem Betrag ab 01.04.2009, im Kalenderjahr 2009 bis 1800 EUR und ab 2010 bis 2400 EUR.
Am 27.04.2011 stellte die Mutter des Klägers für diesen einen Überprüfungsantrag gemäß § 44 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X). Die Höhe des bewilligten Pflegegeldes berücksichtige nicht die UN-Behindertenrechtskonvention, die seit dem 26.03.2009
in Deutschland gelte, gemäß Art.
25 Grundgesetz (
GG) Verfassungsrang habe und deshalb über dem
SGB XI stehe. Dementsprechend seien die Höchstsätze nach dem
SGB XI nicht mehr anzuwenden. Auch seien das System der "Minutenpflege" nicht mehr anzuwenden und der Hilfebedarf für Demenz bei
der Ermittlung des Pflegebedarfs mit einzubeziehen. Daraus ergebe sich für den Kläger ein Hilfebedarf von 40 Stunden pro Woche.
Die zusätzlichen Leistungen für die Einschränkung der Alltagskompetenz in Höhe von 200 EUR je Kind und Monat müssten zur freien
Verfügung ausbezahlt werden und nicht nur zur Verwendung über niedrigschwellige Betreuungsdienste. Für den Kläger werde deshalb
ein monatlicher Betrag in Höhe von 1470 EUR bzw. 1510 EUR gefordert.
Mit Schreiben vom 23.05.2011 teilte die Beklagte dem Kläger unter Bezugnahme auf seinen Überprüfungsantrag nach § 44 SGB X mit, dass er laufend Pflegegeld der Pflegestufe I erhalte und eine höhere Pflegegeldzahlung nach deutschem Recht nicht möglich
sei.
Mit Schreiben vom 23.06.2011, bei der Beklagten eingegangen am 24.06.2011, legte die Klägerin gegen diesen Ablehnungsbescheid
Widerspruch ein. Nach der UN-Behinderten- rechtskonvention dürfe es keinen Unterschied geben zwischen körperlich, geistig
und seelisch Behinderten. Ebenso wenig dürfe es weniger Geld für die ambulante als für die stationäre Pflege geben. Auch dürfe
hinsichtlich der Höhe der Leistungen nicht differenziert werden zwischen der Pflege durch Angehörige und der Pflege durch
Pflegedienste.
Mit Widerspruchsbescheid vom 29.07.2011, zur Post gegeben am 01.08.2011, wies die Beklagte den Widerspruch als unbegründet
zurück. In der Begründung hieß es, die Anwendung übernationalen Rechts sei nicht Aufgabe der Beklagten. Dazu müsste der Gesetzgeber
eine Überführung in national bindendes Recht vornehmen.
Dagegen richtet sich die vom Kläger am 01.09.2011 beim Sozialgericht (SG) Landshut erhobene Klage.
Bei einer Wiederholungsbegutachtung durch den MDK Bayern vom 11.11.2011 wurde ein Grundpflegebedarf von 135 Minuten täglich
ermittelt. Die Voraussetzungen der Pflegestufe II lägen seit Oktober 2011 vor. Die Alltagskompetenz sei nach wie vor in erhöhtem
Maße eingeschränkt.
Daraufhin bewilligte die Beklagte mit Bescheid vom 15.11.2011 dem Kläger Pflegegeld der Pflegestufe II in Höhe von 430 EUR
monatlich ab dem 01.10.2011.
Eine weitere Begutachtung durch den MDK Bayern vom 07.12.2012 ergab einen Grundpflegebedarf von nur noch 23 Minuten täglich
und einen Bedarf an hauswirtschaftlicher Versorgung in Höhe von nur noch 50 Minuten täglich. Die Alltagskompetenz sei nur
noch erheblich und nicht mehr in erhöhtem Maße eingeschränkt. Im Vergleich zum Vorgutachten habe sich eine wesentliche Veränderung
ergeben.
Die Beklagte hörte den Kläger mit Schreiben vom 07.12.2012 zur Einstellung der Pflegeleistungen an. Zu den Einwänden des Klägers
äußerte sich der MDK Bayern am 05.02.2013 nach Aktenlage. Mit Bescheid vom 07.02.2013 hob die Beklagte ihren "Bescheid vom
16.11.2011", mit dem Leistungen der "Pflegestufe I" zugesagt worden seien, auf. Die Pflegeleistungen wurden mit dem 28.02.2013
eingestellt. Als Rechtsgrundlage wurde § 48 Abs. 1 SGB X angegeben. Mit weiterem Bescheid vom 07.02.2013 wurde ein Antrag vom 01.02.2013 auf Betreuungsleistungen dahingehend beschieden,
dass ab dem 01.02.2013 Leistungen bis zu einem Betrag von 1100 EUR und ab dem Folgejahr bis zu 1200 EUR bewilligt wurden.
Gegen die Bescheide vom 07.02.2013 legte der Kläger am 05.03.2013 Widerspruch ein. Bei einer Nachbegutachtung durch den MDK
Bayern vom 03.07.2013 ergab sich ein Grundpflegebedarf von nur 20 Minuten, aber eine in erhöhtem Maße eingeschränkte Alltagskompetenz
seit April 2009. Am 04.07.2013 erließ die Beklagte einen Teilabhilfebescheid hinsichtlich der Betreuungsleistungen, die ab
dem 01.03.2013 weiterhin in einer Höhe von 200 EUR monatlich gezahlt wurden. Hinsichtlich der Herabsetzung der Pflegestufe
wurde jedoch eine Abhilfe abgelehnt. Ein Widerspruchsbescheid ist hierzu nicht ergangen.
Das SG hat mit Urteil vom 21.02.2013 (Az. S 6 P 89/11) die Klage gegen den Bescheid vom 23.05.2011 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29.07.2011 abgewiesen. Der Kläger
hatte schriftsätzlich keinen ausdrücklichen Antrag gestellt und war in der mündlichen Verhandlung weder persönlich anwesend
noch vertreten. Das SG hat im Urteil die Klage so ausgelegt, dass sie darauf gerichtet war, die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 23.05.2011
in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29.07.2011 zu verurteilen, den Bescheid aus 2009 dahin abzuändern, dass ihm ab April
2009 monatlich 1470 EUR bzw. 1510 EUR an Pflegegeld gewährt werden. Das SG hat die so interpretierte Klage als zulässig, aber nicht begründet angesehen. Der vom Kläger geltend gemachte Verstoß der
Regelungen des
SGB XI gegen Bestimmungen der UN-Behindertenrechtskonvention liege nicht vor. Insbesondere liege kein Verstoß gegen Art. 5 UN-BRK
(Gleichberechtigung und Nichtdiskriminierung) vor. Die unterschiedliche Leistungshöhe bei der Pflege durch Angehörige einerseits
und bei der Pflege durch ambulante Pflegedienste andererseits knüpfe nicht an eine Behinderung im verfassungsrechtlichen oder
konventionsrechtlichen Sinn an, sondern behandle alle Pflegebedürftigen und Behinderten insoweit gleich. Die finanziell höheren
Leistungen für ambulante Pflegedienste sollten es einem Behinderten, der keine Angehörigen habe, die ihn pflegten, ermöglichen,
seine Pflege sicherzustellen. Auch sei kein Verstoß gegen Art. 7 UN-BRK erkennbar.
Der Kläger hat gegen das Urteil des SG, das ihm am 28.03.2013 zugestellt worden war, am 24.04.2013 beim Bayerischen Landessozialgericht (LSG) Berufung eingelegt.
Mit seiner Berufung macht der Kläger erneut eine Diskriminierung der Pflege durch Angehörige gegenüber der Pflege durch Pflegedienste
bezüglich der Höhe der Leistungen sowie eine Diskriminierung von Erkrankungen mit hohem allgemeinen Beaufsichtigungsbedarf
und geringem Grundpflegeanteil geltend.
In der mündlichen Verhandlung vom 30.09.2015 hat der Kläger geltend gemacht, dass die Argumentation im Nichtannahmebeschluss
des Bundesverfassungsgerichts vom 26.03.2014 (Az. 1 BvR 1133/12) betreffend die Verfassungsmäßigkeit der unterschiedlichen finanziellen Ausgestaltung der Leistungen der gesetzlichen Pflegeversicherung
bei häuslicher Pflege durch Familienangehörige einerseits und beim Einsatz bezahlter Pflegekräfte andererseits auf den vorliegenden
Fall nicht anwendbar sei, da es ihm nicht um die Finanzierung der Pflege durch Familienangehörige gehe, sondern um die Finanzierung
des Einsatzes professioneller Pflegekräfte im Wege des Arbeitgebermodells, also im Wege der Anstellung dieser Pflegekräfte
durch den Pflegebedürftigen selbst. Auf die Niederschrift der mündlichen Verhandlung wird verwiesen.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des SG Landshut vom 21.02.2013 und den Bescheid der Beklagten vom 23.05.2011 in Gestalt des Widerspruchsbescheid
vom 29.07.2011 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, die Bescheide vom 27.08.2009 abzuändern und dem Kläger Pflegegeld
- ab dem 01.04.2009 in Höhe von 1.470 EUR - ab dem 01.01.2010 in Höhe von 1.510 EUR - ab dem 01.01.2012 in Höhe von 1.550
EUR - ab dem 01.01.2015 in Höhe von 1.612 EUR monatlich zu bezahlen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Zur Ergänzung des Tatbestands wird auf die Prozessakten beider Rechtszüge sowie auf die beigezogene Akte der Beklagten verwiesen.
Entscheidungsgründe
Die Berufung ist zulässig, insbesondere wurde sie form- und fristgerecht eingelegt (§§
143,
151 Sozialgerichtsgesetz -
SGG). Die Berufung bedarf gemäß §
144 SGG keiner Zulassung.
Die Berufung ist nicht begründet. Zu Recht hat das SG die Klage abgewiesen.
Die Klage ist zulässig. Prozessual macht der Kläger seinen am 27.04.2011 bei der Beklagten gestellten Überprüfungsantrag nach
§ 44 SGB X hinsichtlich der Bescheide vom 27.08.2009 in statthafter Weise in Form einer dreifach gestuften kombinierten Anfechtungs-,
Verpflichtungs- und Leistungsklage gemäß §
54 Abs.
1 in Verbindung mit Abs.
4 SGG, gerichtet sowohl auf die Aufhebung des den Überprüfungsantrag ablehnenden Bescheides in Gestalt des entsprechenden Widerspruchsbescheides
- hier also des Bescheides der Beklagten vom 23.05.2011 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29.07.2011 - als auch auf
Verurteilung der Beklagten, die für rechtswidrig erachteten Verwaltungsakte - also hier die Bescheide der Beklagten vom 27.08.2009
- zurückzunehmen und Pflegegeld in einer Höhe zu bezahlen, wie sie den Leistungen der Pflegestufe III bei ambulanten Pflegesachleistungen
nach §
36 Abs.
3 Nr.
3 SGB XI oder bei vollstationärer Pflege gemäß §
43 Abs.
2 Nr.
3 SGB XI entspricht.
Die Klage ist unbegründet. Der angefochtene Bescheid der Beklagten vom 23.05.2011 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom
29.07.2011 ist rechtmäßig. Der Kläger hat keinen Anspruch gegen die Beklagte auf Rücknahme ihrer Bescheide vom 27.08.2009
nach § 44 SGB X. Ein Anspruch auf Rücknahme nach § 44 Abs. 1 oder Abs. 2 SGB X setzt voraus, dass der aufzuhebende Verwaltungsakt in rechtlicher oder tatsächlicher Hinsicht unrichtig ist. Beides war bezüglich
der Verwaltungsakte vom 27.08.2009 nicht der Fall.
Nicht Gegenstand des Verfahrens wurden gemäß §
96 SGG die Bescheide vom 15.11.2011 über die Bewilligung von Pflegegeld der Pflegestufe II ab dem 01.10.2011, vom 07.02.2013 betreffend
die Halbierung der zusätzlichen Betreuungsleistungen gemäß §
45b SGB XI, vom 07.02.2013 über die Einstellung des Pflegegeldes zum 28.02.2013 und vom 04.07.2013 über die Bewilligung von zusätzlichen
Betreuungsleistungen in Höhe des erhöhten Betrages. Durch diese Bescheide wurden zwar die Bescheide vom 27.08.2009, deren
Änderung der Kläger nach § 44 SGB X begehrt, im Sinne des §
96 Abs.
1 SGG abgeändert oder ersetzt, nicht jedoch der Bescheid vom 23.05.2011 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29.07.2011, mit
dem ein Überprüfungsantrag nach § 44 SGB X bezüglich der Bescheide vom 27.08.2009 abgelehnt wurde. Hat die Behörde einen Antrag auf Rücknahme des Ausgangsverwaltungsaktes
nach § 44 SGB X abgelehnt, so wird ein Verwaltungsakt, der den Ausgangsverwaltungsakt für spätere Zeiträume abändert oder ersetzt, nicht
gemäß §
86 oder §
96 SGG Gegenstand des Verfahrens. Bei der Entscheidung über die Rücknahme nach § 44 SGB X beurteilt sich nämlich die Rechtswidrigkeit nach der damaligen Sach- und Rechtslage aus der Sicht im Zeitpunkt der Überprüfungsentscheidung
(Schütze, in von Wulffen, SGB X, 7. Aufl. 2010, § 44 Rdnr. 10). Spätere Entwicklungen der Sach- und Rechtslage, die die Zeit nach Erlass des Ausgangsverwaltungsaktes betreffen,
sind für die Entscheidung nach § 44 SGB X nicht von Belang. Würde man die sich auf spätere Zeiträume beziehenden Änderungsverwaltungsakte bezüglich des Ausgangsbescheides
als Folgebescheide im Sinne der §§
86 und
96 SGG ansehen, würde auf diesem Wege die Prüfung der Sach- und Rechtslage für spätere Zeiträume in die Überprüfung nach § 44 SGB X einbezogen werden, obwohl dafür ausschließlich das Verfahren nach § 48 SGB X vorgesehen ist.
Dementsprechend kommt es im vorliegenden Fall für die Beurteilung der Frage, ob die Beklagte im streitgegenständlichen Verwaltungsakt
zu Recht die Rücknahme ihrer Bescheide vom 27.08.2009 abgelehnt hat, ausschließlich darauf an, ob diese Bescheide im Zeitpunkt
ihres Erlasses auch unter Berücksichtigung der zwischenzeitlich gewonnenen Erkenntnisse rückblickend rechtmäßig waren, wobei
ohne Bedeutung ist, ob sich die Sach- und Rechtslage bezüglich dieser Dauerverwaltungsakte zu einem späteren Zeitpunkt geändert
hat. Dies war der Fall. Die Verwaltungsakte vom 27.08.2009 waren im Zeitpunkt ihres Erlasses auch aus heutiger Sicht rechtmäßig.
Die Bewilligung von Pflegegeld der Pflegestufe I in Höhe von 215 EUR monatlich entsprach den Rechtsvorschriften der §§
14,
15 und §
37 Abs.
1 Satz 3 Nr.
1 SGB XI in der damals geltenden Fassung. Die Bewilligung von zusätzlichen Betreuungsleistungen in Höhe von 200 EUR monatlich entsprach
dem §
45b SGB XI in der damals geltenden Fassung. Es lagen sowohl die Voraussetzungen der Pflegestufe I, nicht aber der Pflegestufe II im
Sinne der §§
14,
15 SGB XI, als auch die Voraussetzungen einer erheblichen Einschränkung der Alltagskompetenz im Sinne des §
45a SGB XI vor. Der Senat ist der Überzeugung, dass entsprechend dem Gutachten des MDK Bayern vom 21.08.2009 der Kläger einen Grundpflegebedarf
in Höhe von 56 Minuten täglich und einen Bedarf an hauswirtschaftlicher Versorgung in Höhe von 45 Minuten täglich hatte und
dass seine Alltagskompetenz erheblich und in erhöhtem Maße eingeschränkt war. §
45b SGB XI ließ auch bei einer in erhöhtem Maße eingeschränkten Alltagskompetenz keinen höheren Umfang der Bewilligung zu. Das Gutachten
des MDK Bayern vom 21.08.2009 ist in sich schlüssig und nachvollziehbar; Verstöße gegen Rechtsvorschriften oder gegen die
Begutachtungsempfehlungen sind in dem Gutachten nicht erkennbar, so dass von Amts wegen kein Anlass zu weiteren Ermittlungen
bezüglich des Umfangs der Pflegebedürftigkeit, insbesondere des Grundpflegebedarfs, bestand. Einwendungen gegen die Feststellungen
des MDK Bayern in seinem Gutachten vom 21.08.2009 sind auch von Klägerseite nicht vorgebracht worden.
Keine Zweifel bestehen bezüglich der Verfassungsmäßigkeit der Vorschriften der §§
14,
15,
37 und
45b SGB XI. Soweit der Kläger geltend macht, dass die unterschiedliche Bewertung von Pflegezeiten aufgrund des eingeschränkten Grundpflegebegriffs
eine Diskriminierung insbesondere von Demenzkranken bedeute, hat das Bundesverfassungsgericht bereits mit Nichtannahmebeschluss
vom 22.05.2003 (Az. 1 BvR 452/99) entschieden, dass kein Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitssatz des Art.
3 Abs.
1 GG vorliegt. Die darin bestehende Ungleichbehandlung, dass bei Menschen mit somatischen Erkrankungen oder Behinderungen aufgrund
des verrichtungsbezogenen Begriffs des Pflegebedarfs der Betreuungsbedarf insgesamt in höherem Maß bei der Ermittlung der
Pflegebedürftigkeit relevant ist als der von Menschen mit demenzbedingten Fähigkeitsstörungen, geistigen Behinderungen oder
psychischen Erkrankungen, ist durch sachlich einleuchtende Gründe gerechtfertigt. Mit Nichtannahmebeschluss vom 26.03.2014
(Az. 1 BvR 1133/12) hat das Bundesverfassungsgericht darüber hinaus entschieden, dass die unterschiedliche Höhe von Leistungen der gesetzlichen
Pflegeversicherung bei häuslicher Pflege durch Familienangehörige einerseits (Pflegegeld nach §
37 SGB XI) und beim Einsatz bezahlter Pflegekräfte andererseits (Pflegesachleistungen nach §
36 SGB XI) durch hinreichende Sachgründe gerechtfertigt ist und weder Art.
3 Abs.
1 GG noch Art.
6 Abs.
1 GG verletzt.
Die Verwaltungsakte vom 27.08.2009 verstießen auch nicht gegen das Übereinkommen der Vereinten Nationen vom 13.12.2006 über
die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-Behindertenrechtskonvention - UN-BRK), dem der Deutsche Bundestag mit Zustimmung
des Bundesrates durch Gesetz vom 21.12.2008 (BGBl. II, S. 1419) zugestimmt hat.
Zum einen trifft die Auffassung des Klägers nicht zu, dass dieses Übereinkommen gemäß Art.
25 GG Vorrang vor dem
SGB XI hätte. Gemäß Art.
25 GG sind die allgemeinen Regeln des Völkerrechts Bestandteil des Bundesrechts und gehen den Gesetzen vor und erzeugen Rechte
und Pflichten unmittelbar für die Rechte des Bundesgebietes. Bei der UN-Behindertenrechtskonvention handelt es sich jedoch
um keine allgemeine Regel des Völkerrechts, wie auch das BSG mit Urteil vom 06.03.2012 (Az. B 1 KR 10/11 R, BSGE 110, 194, Rdnrn. 20 f. bei [...]) entschieden hat. Bei den allgemeinen Regeln des Völkerrechts handelt es sich um Regeln des universell
geltenden Völkergewohnheitsrechts, ergänzt durch aus den nationalen Rechtsordnungen tradierte allgemeine Rechtsgrundsätze.
Das Bestehen von Völkergewohnheitsrecht setzt eine gefestigte Praxis zahlreicher Staaten voraus, die in der Überzeugung geübt
wird, hierzu aus Gründen des Völkerrechts verpflichtet zu sein. Darum handelt es sich bei den Regelungen der UN-Behindertenrechts-
konvention gerade nicht, vielmehr sollen den Behinderten Rechte eingeräumt werden, die sie zuvor durch gefestigte Praxis noch
nicht hatten. Innerstaatliche Geltung hat die UN-Behindertenrechtskonvention durch das nach Art.
59 Abs.
2 GG vorgeschriebene innerstaatliche Zustimmungsgesetz erlangt, das am 01.01.2009 in Kraft getreten ist. Es erteilt innerstaatlich
den Befehl zur Anwendung der UN-Behindertenrechtskonvention und setzt diese in nationales Recht um. Damit steht die UN-Behindertenrechtskonvention
in Deutschland im Range eines Bundesgesetzes; deutsche Gerichte haben sie wie anderes Gesetzesrecht des Bundes im Rahmen methodisch
vertretbarer Auslegung zu beachten und anzuwenden, gegebenenfalls unter Beachtung des intertemporalen Rechts (BSG, a.a.O., Rdnr. 20).
Vor diesem Hintergrund wäre also zu diskutieren, ob durch die Inkraftsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention durch innerstaatliches
Zustimmungsgesetz zum 01.01.2009 eventuell entgegenstehende Bestimmungen des
SGB XI nach dem Grundsatz "lex posterior derogat legi priori" außer Kraft gesetzt werden konnten. Selbst wenn sich ein Gegensatz
zwischen den Regelungen des
SGB XI und denen der UN-Behindertenrechtskon- vention feststellen lassen könnte, wäre es nicht möglich, eine Außerkraftsetzung des
SGB XI in seinen Grundprinzipien, wie dem Pflegebedürftigkeitsbegriff oder der Differenzierung hinsichtlich der Leistungshöhe zwischen
Pflegesachleistungen und Pflegegeld, zu unterstellen, zumal der Gesetzgeber durch spätere Weiterentwicklung des
SGB XI, wie etwa durch das Gesetz vom 17.12.2014 (BGBl. I, S. 2222), an den fraglichen Differenzierungen festgehalten hat.
Im Übrigen lassen sich der UN-Behindertenrechtskonvention aber auch keine Vorschriften entnehmen, aus denen sich Ansprüche
der Versicherten ableiten ließen, die über die im
SGB XI geregelten Ansprüche hinausgingen. Die unmittelbare Anwendbarkeit völkervertragsrechtlicher Bestimmungen setzt voraus, dass
die Bestimmung alle Eigenschaften besitzt, welche ein Gesetz nach innerstaatlichem Recht haben muss, um Einzelne berechtigen
oder verpflichten zu können. Dafür muss ihre Auslegung ergeben, dass sie geeignet und hinreichend bestimmt ist, wie eine innerstaatliche
Vorschrift rechtliche Wirkung zu entfalten, ohne dass es einer weiteren normativen Ausfüllung bedarf. Ist eine Regelung -
objektiv-rechtlich - unmittelbar anwendbar, muss sie zusätzlich auch ein subjektives Recht des Einzelnen vermitteln. Gemäß
Art. 31 Abs. 1 des Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge vom 23.05.1969 (BGBl. II 1985, S. 926 und BGBl. II 1987, S. 757) erfolgt die Auslegung eines völkerrechtlichen Vertrages nach Treu und Glauben in Übereinstimmung mit der gewöhnlichen, seinen
Bestimmungen in ihrem Zusammenhang zukommenden Bedeutung und im Lichte seines Ziels und Zwecks. Nach diesen Grundsätzen hat
das BSG in seinem Urteil vom 06.03.2012 (Az. B 1 KR 10/11 R, Rdnrn. 24 ff.) festgestellt, dass die Vorschrift des Art. 25 Satz 3 Buchst. b UN-BRK keine unmittelbaren Rechtsansprüche
begründet. Art. 25 UN-BRK betrifft Leistungen der Vertragsstaaten zur Gesundheit. Nach Ansicht des BSG zeigt schon die Formulierung des Satzes 1 dieser Vorschrift ("auf das erreichbare Höchstmaß an Gesundheit"), dass unmittelbare
Rechtsansprüche durch sie nicht begründet werden. Diese Überlegungen lassen sich auf die gesamte Vorschrift des Art. 25 UN-BRK übertragen (offenlassend BSG, Urteil vom 15.10.2014, Az. B 12 KR 17/12 R, Rdnr. 30 bei [...] für Art. 25 Satz 3 Buchst. a UN-BRK). Im Übrigen regelt Art. 25 lediglich Gesundheitsleistungen, also
Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung. Pflegeleistungen zählen hierzu nicht.
Auch aus Art. 28 Abs. 1 UN-BRK lassen sich keine konkreten Rechtsansprüche von Behinderten ableiten, die auf über das
SGB XI hinausgehende Pflegeleistungen gerichtet wären. Nach dieser Vorschrift erkennen die Vertragsstaaten das Recht von Menschen
mit Behinderungen auf einen angemessenen Lebensstandard für sich selbst und ihre Familien, einschließlich angemessener Ernährung,
Bekleidung und Wohnung, sowie auf eine stetige Verbesserung der Lebensbedingungen an und unternehmen geeignete Schritte zum
Schutz und zur Förderung der Verwirklichung dieses Rechts ohne Diskriminierung aufgrund von Behinderung. Die Vorschrift ist
erkennbar offen und als Programmsatz für die Gesetzgebung formuliert. Es ist auch nicht ersichtlich, dass der deutsche Gesetzgeber
dagegen evident verstoßen hätte, da er im
SGB XI ein System von abgestuften Leistungen bei Pflegebedürftigkeit geschaffen und im Übrigen für Pflegebedürftige, die über keine
weiteren Ressourcen verfügen und bei denen die Leistungen der Pflegeversicherung nicht ausreichen, die Hilfe zur Pflege nach
dem SGB XII als subsidiäre Sozialhilfeleistung vorgesehen hat.
Anerkannt ist lediglich die unmittelbare Anwendbarkeit des Diskriminierungsverbots des Art. 5 Abs. 2 UN-BRK (BSG, Urteil vom 06.03.2012, aaO., Rdnr. 29) bei [...] bzw. ggf. des Art. 25 Satz 3 Buchst. a UN-BRK (BSG vom 15.10.2014, a.a.O.). Danach sind alle Diskriminierungen aufgrund von Behinderung verboten bzw. von den Vertragsstaaten
zu verbieten. Dieses Diskriminierungsverbot entspricht im Wesentlichen dem Regelungsgehalt des Art.
3 Abs.
3 Satz 2
GG, wonach niemand wegen seiner Behinderung benachteiligt werden darf (BSG, Urteil vom 15.10.2014, Az. B 12 KR 17/12 R, Rdnr. 31 bei [...]). Dieses Diskriminierungsverbot kann jedoch solche Differenzierungen nicht verbieten, die aus sachlichen
Gründen gerechtfertigt sind. Aus diesen Gründen folgt aus den bereits oben zitierten Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts
vom 22.05.2003 und vom 26.03.2014, dass sowohl für die Benachteiligung bestimmter Arten von Behinderungen aufgrund der Definition
des Grundpflegebedarfs als auch für die Differenzierung bei der Leistungshöhe zwischen der häuslichen Pflege durch Familienangehörige
einerseits und der Pflege beim Einsatz bezahlter Pflegekräfte andererseits sachliche Gründe vorliegen, die ebenso wie sie
einem Verstoß gegen Art.
3 und Art.
6 GG entgegenstehen auch einen Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot nach Art.
5 Abs. 2 UN-BRK ausschließen. Nicht überzeugend ist der Einwand des Klägers, dass die Argumentation im Nichtannahmebeschluss
des Bundesverfassungsgerichts vom 26.03.2014 (Az. 1 BvR 1133/12) betreffend die Verfassungsmäßigkeit der unterschiedlichen finanziellen Ausgestaltung der Leistungen der gesetzlichen Pflegeversicherung
bei häuslicher Pflege durch Familienangehörige einerseits und beim Einsatz bezahlter Pflegekräfte andererseits auf den vorliegenden
Fall nicht anwendbar sei, da es ihm nicht um die Finanzierung der Pflege durch Familienangehörige gehe, sondern um die Finanzierung
des Einsatzes professioneller Pflegekräfte im Wege des Arbeitgebermodells, also im Wege der Anstellung dieser Pflegekräfte
durch den Pflegebedürftigen selbst. Denn die Argumentation in den Gründen des Nichtannahmebeschlusses des Bundesverfassungsgerichts
vom 26.03.2014 bezog ausdrücklich auch die Fälle mit ein, in denen mit dem Pflegegeld "eingekaufte" professionelle Pflegekräfte
vom Pflegebedürftigen beschäftigt werden, die in keinem Vertragsverhältnis zur Pflegekasse (bzw. eigentlich genauer: zu einem
Pflegedienst mit Versorgungsvertrag) stehen (BVerfG, aaO. Rdnr. 20 bei [...]). Im Übrigen liegt, soweit das Pflegegeld geringer
ist als die Pflegesachleistungen bei häuslicher Pflege, von vornherein keine Differenzierung nach der Behinderung vor, sondern
eine Differenzierung nach der für die Pflege beanspruchten Leistung, was jedoch nicht Regelungsgegenstand des Art. 5 UN-BRK
ist.
Ein Verstoß gegen das in Art. 7 UN-BRK enthaltene Verbot, Kinder mit Behinderungen gegenüber anderen Kindern zu benachteiligen,
liegt schon deshalb nicht vor, weil die Regelungen des
SGB XI keine Benachteiligung von Kindern vorsehen.
Die Kostenentscheidung beruht auf §
193 SGG.
Die Revision ist nicht zuzulassen, da weder die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat noch das Urteil von einer Entscheidung
des Bundessozialgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht
und auf dieser Abweichung beruht (§
160 Abs.
2 Nrn. 1 und 2
SGG). Der Senat folgt insbesondere den o.g., einschlägigen Entscheidungen des BSG zur UN-Behindertenrechtskonvention sowie des BVerfG zur Verfassungsmäßigkeit der Pflegegeldleistungen.