Einstweiliger Rechtsschutz im sozialgerichtlichen Verfahren; vorläufige Gewährung von Pflegegeld bei allenfalls offenen Erfolgsaussichten
des Rechtsstreits
Gründe:
I. Streitig ist, ob dem Beschwerdeführer im Wege der einstweiligen Anordnung Leistungen der gesetzlichen Pflegeversicherung
in Form von Pflegegeld nach Pflegestufe II zuzusprechen sind.
Der Beschwerdeführer beantragte am 14.02.2009 bei der Beschwerdegegnerin Leistungen der Pflegeversicherung nach Pflegestufe
II. Er gab an, die Kombination seiner gesundheitlichen Funktionseinschränkungen, nämlicher beider Handgelenke, beider Schultergelenke,
der Hals- und Lendenwirbelsäule, der Kniegelenke und der Augen erforderten Hilfeleistungen über den ganzen Tag und in vielen
Bereichen. Ihm sei ein Grad der Behinderung von 50 % zugebilligt worden. Er beziehe Rente wegen voller Erwerbsminderung. Er
legte ein im Rentenstreitverfahren erstattetes Gutachten von Dr. W. vom 28.10.2008, ein Attest der Orthopäden Dres. V. u.a.
vom 15.02.2008, der Augenärzte Dres. R. u.a. vom 26.07.2006, der Allgemeinärzte Dres. W. u.a. vom 10.05.2006 und das Aktenlagegutachten
des MDK vom 01.12.2005 vor. Die Beschwerdegegnerin beauftragte ihren MDK, ein Gutachten nach Hausbesuch zu erstatten. Den
Termin vom 12.05.2009 sagte der Beschwerdeführer ab. Er wünsche eine Begutachtung nach Aktenlage und verweigere dem MDK den
Zutritt zu seiner Wohnung. Der Beschwerdegegnerin müsse eine Begutachtung nach Aktenlage genügen. Sie sei nicht berechtigt,
eine Begutachtung im Rahmen eines Hausbesuchs vorzunehmen. Er sei nicht verpflichtet, bei einer derartigen Begutachtung mitzuwirken.
Leistungen dürften nicht mit der Begründung abgelehnt werden, er habe einen Hausbesuch zu dulden. Die Beschwerdegegnerin wies
den Beschwerdeführer am 18.05.2009 auf seine Mitwirkungspflicht hin.
Der Beschwerdeführer erwiderte, er sei seiner Mitwirkungspflicht bereits nachgekommen und habe diverse Befundberichte und
Gutachten vorgelegt. Er habe angeboten, sich außerhalb seiner Wohnung untersuchen zu lassen und Fragen selbst bzw. durch seine
Pflegeperson zu beantworten. Er schilderte eingehend seine Beschwerden und den seiner Meinung nach erforderlichen Pflegebedarf.
Diesen schätzte er im Grundpflegebereich, also für Körperpflege, Ernährung und Mobilität auf 281 bis 350 Minuten und im Bereich
der hauswirtschaftlichen Versorgung auf 257 bis 336 Minuten pro Tag.
Die Beschwerdegegnerin bat den MDK, mitzuteilen, ob aufgrund der vom Beschwerdeführer vorgelegten Unterlagen eine Einstufung
nach Aktenlage möglich sei. Der MDK erklärte am 04.06.2009, bei der Erstbegutachtung seien umfangreiche Erhebungen erforderlich,
die nicht nach Aktenlage beurteilt werden könnten. Nur in Ausnahmefällen, z.B. bei Palliativpatienten im Finalstadium könne
von einem Hausbesuch abgesehen werden.
Mit Bescheid vom 17.06.2009 lehnte es die Beschwerdegegnerin ab, Pflegegeld an den Beschwerdeführer zu zahlen. Eine Beurteilung
des Umfangs der Pflegebedürftigkeit sei anhand der Unterlagen nicht möglich. Ob Pflegebedürftigkeit vorliege, könne nicht
festgestellt werden. Leistungen könnten deshalb nicht bewilligt werden.
Dagegen legte der Beschwerdeführer Widerspruch ein. Er habe eine lückenlose Dokumentation vorgelegt über Art und Schwere seiner
Erkrankung; eine Entscheidung nach Aktenlage sei ohne weiteres möglich. Welche Fragen noch offen seien, hätte ihm mitgeteilt
werden müssen, ebenso weswegen dennoch ein Hausbesuch erforderlich sei. Die Angaben über seinen Pflegebedarf könnten von seiner
Pflegeperson bestätigt werden.
Den Widerspruch wies die Beschwerdegegnerin mit Widerspruchsbescheid vom 16.07.2009 zurück. Die angebotene Untersuchung außerhalb
des Wohnumfeldes würde zu einer nicht korrekten Pflegeeinstufung führen, da gerade individuelle Wohnumstände Einfluss auf
Zeitsätze für die jeweils relevanten Verrichtungen habe bzw. haben könne.
Am 21.07.2009 erhob der Beschwerdeführer Klage beim Sozialgericht Regensburg mit dem Antrag, ihm Pflegegeld zu gewähren. Zugleich
beantragte er, ihm im Eilverfahren Pflegegeld zuzusprechen. Er befinde sich in einer existentiellen Notsituation. Er bedürfe
der Pflege durch andere Personen, damit sich seine gesundheitliche Situation nicht verschlechtere und irreparable Schäden
und Nachteile vermieden würden. Seine Pflegebedürftigkeit gründe sich vor allem darauf, dass seine beiden Hände und beiden
Schultern sowie die Halswirbelsäule funktionsunfähig seien. Er verweise auf seine Beschreibung des täglichen Hilfebedarfs.
Die Aktenlage sei eindeutig.
Die Beschwerdegegnerin wiederholte ihre Auffassung. Das Sozialgericht forderte die Beschwerdegegnerin auf, eine Stellungnahme
des MDK vorzulegen, inwieweit eine ambulante Untersuchung des Beschwerdeführers außerhalb seines Wohnbereichs ausreiche, sofern
der Beschwerdeführer seine Wohnsituation durch Fotos belege. Der MDK erläuterte, dem Wohnumfeld komme eine pflegestufenrelevante
Bedeutung zu. Ein barrierefreies Umfeld verringere den Hilfebedarf, ungünstige Verhältnisse könnten ihn erhöhen. Darüber hinaus
müsse festgestellt werden, ob die Pflege sichergestellt sei. Eine Dokumentation der häuslichen Verhältnisse sei nicht ausreichend.
Mit Beschluss vom 31.07.2009 lehnte das Sozialgericht den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ab. Weder Anordnungsanspruch,
nämlich Rechtsgrund für die begehrte Leistung, noch Anordnungsgrund, Eilbedürftigkeit, seien ausreichend glaubhaft gemacht.
Eine derartig eindeutige Aktenlage, die es zuließe ohne Begutachtung über Pflegegeld zu entscheiden, liege nicht vor. Zwar
weise der Beschwerdeführer eine Vielzahl von Beschwerden auf, jedoch könne daraus weder der konkrete Hilfebedarf ermittelt
werden noch festgestellt werden, ob die Pflege sicher gestellt sei. Die Auskunft des MDK sei insoweit überzeugend. Die Beschwerdegegnerin
sei schon aus Gründen der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit sowie ihrer Verantwortung gegenüber der Solidargemeinschaft verpflichtet,
die Feststellungen zur Beurteilung der Pflegebedürftigkeit sorgsam zu treffen. Ein Anordnungsanspruch sei nicht glaubhaft
gemacht.
Gegen die mit Postzustellungsurkunde vom 08.08.2009 zugestellte Entscheidung legte der Beschwerdeführer beim Bayer. Landessozialgericht
am 12.08.2009 Beschwerde ein. Anordnungsgrund und Anordnungsanspruch erläutere er nochmals und beantrage, ihm wenigstens Leistungen
nach der Pflegestufe I zu gewähren. Die Wohnsituation spiele bei der Art seiner Behinderung, nämlich des Funktionsverlustes
beider Hände, keine Rolle. Zudem wohne er in einer ganz normalen Wohnung ohne Treppen. Sein monatliches Einkommen belaufe
sich derzeit auf 484,79 Euro Rente. Davon könne er neben den üblichen Lebenshaltungskosten nicht zugleich noch eine Pflegeperson
bezahlen. Über Vermögen oder sonstige Einkünfte verfüge er nicht. Art und Schwere seiner Behinderungen seien vermutlich ein
Einzelfall, so dass es keine Vergleichsfälle gebe. Zur Glaubhaftmachung legte er eine eigene Erklärung, bezeichnet als eidesstattliche
Versicherung, vor und seinen Rentenbescheid. Im Übrigen verwies er auf bereits übersandte Unterlagen. Gegen einen gerichtlichen
Gutachter habe er nichts einzuwenden. Im Übrigen könne er selbst am besten beurteilen, ob seine Pflege sichergestellt sei.
Die Beschwerdegegnerin wandte ein, Grad und Dauer der Hilfestellung seien ohne persönlichen Besuch des Gutachters im häuslichen
Umfeld nicht feststellbar. Die Angaben des Beschwerdeführers im von ihm erstellten "Pflegetagebuch" seien nicht nachvollziehbar.
Aus den vorgelegten Gutachten ergäben sich lediglich unpräzise Hinweise über die Beweglichkeit des Bewegungsapparates, nämlich
der Arme und der Hände. Ein konkreter Hilfebedarf lasse sich daraus nicht ableiten.
Der Beschwerdeführer beantragt,
den Beschluss des Sozialgerichts Regensburg vom 31.07.2009 aufzuheben und ihm vorläufig Pflegegeld mindestens nach Stufe I
zugewähren.
Die Beschwerdegegnerin beantragt,
die Beschwerde zurückzuweisen.
Im Übrigen wird zur Ergänzung des Sachverhalts gemäß §
136 Abs.
2 Sozialgerichtsgesetz (
SGG) auf den Inhalt der beigezogenen Akte Bezug genommen.
II. Die statthafte und zulässige Beschwerde (§§
172,
173 SGG) ist unbegründet.
Rechtsgrundlage für die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges
Rechtsverhältnis ist §
86b Abs.
2 Satz 2
SGG. Hiernach ist eine Regelung zulässig, wenn sie zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Dass ist dann der Fall,
wenn dem Antragsteller ohne eine solche Anordnung schwere und unzumutbare, nicht anders abwendbare Nachteile entstehen, zu
deren Beseitigung die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre.
Die Regelungsanordnung setzt das Vorliegen eines Anordnungsgrundes, der insbesondere in der Eilbedürftigkeit einer vorläufigen
Regelung besteht (Meyer-Ladewig, Keller, Leitherer,
SGG, 9. Aufl., §
86b Rdnr. 27 ff.) und das Vorliegen eines Anordnungsanspruchs, nämlich eines materiell-rechtlichen Anspruchs, auf den der Antragsteller
sein Begehren stützt, voraus. Die Angaben hierzu hat der Antragsteller glaubhaft zu machen (§
86b Abs.
2 Satz 2 und
4 SGG i.V.m. §
920 Abs.
2 Zivilprozessordnung).
Zwischen Anordnungsgrund und Anordnungsanspruch besteht dabei eine Wechselbeziehung. An das Vorliegen des Anordnungsgrundes
sind dann weniger strenge Anforderungen zu stellen, wenn bei der Prüfung der Sach- und Rechtslage das Obsiegen in der Hauptsache
sehr wahrscheinlich ist. Sind die Erfolgsaussichten in der Hauptsache offen, kommt dem Anordnungsgrund entscheidende Bedeutung
zu. Soweit existenzsichernde Leistungen in Frage stehen, sind die Anforderungen an den Anordnungsgrund und den Anordnungsanspruch
weniger streng zu beurteilen. In diesem Fall ist ggf. auch anhand einer Folgenabwägung unter Berücksichtigung der grundrechtlichen
Belange des Antragstellers zu entscheiden (BVerfG vom 12.05.2005, Breithaupt 2005, 803 und BVerfG vom 15.01.2007 - 1 BvR 2971/06). Insoweit ist eine Orientierung an den Erfolgsaussichten nur möglich, wenn die Sach- und Rechtslage abschließend geklärt
ist, denn soweit schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Beeinträchtigungen entstehen können, die durch das Hauptsacheverfahren
nicht beseitigt werden können, darf die Sach- und Rechtslage nicht nur summarisch, sondern muss abschließend geprüft werden.
Die Erfolgsaussichten im vorliegenden Rechtsstreit, nämlich ob Pflegebedürftigkeit mindestens im Umfang der Pflegestufe I
vorliegt, sind allenfalls offen. Das Sozialgericht zitiert in der angefochtenen Entscheidung ausführlich die gesetzlichen
Bestimmungen, die für die Gewährung von Pflegegeld maßgeblich sind, nämlich die §§
14 und
15 des Elften Buches Sozialgesetzbuch (
SGB XI). Zur Vermeidung von Wiederholungen nimmt der Senat hierauf Bezug. Es kann insoweit offenbleiben, ob ausschließlich eine
Begutachtung im Rahmen eines Hausbesuchs die notwendigen Erkenntnisse liefern kann oder ob eine Untersuchung des Beschwerdeführers
außerhalb seiner Wohnung genügen würde. Denn in Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes hat der Antragsteller, hier der Beschwerdeführer,
seinen Anspruch glaubhaft zu machen. Die von ihm vorgelegten Unterlagen, nämlich ein Gutachten des Dr. W. vom 28.10.2008 zur
Beurteilung des verbliebenen Leistungsvermögens, Atteste der Orthopäden Dres. V. vom 15.02.2008, der Augenärzte Dres. R. vom
26.07.2006 und der Allgemeinärzte Dr. W. vom 10.05.2006 sowie das Aktenlagegutachten des MDK vom 01.12.2005 sind nicht geeignet,
den Umfang der Pflegebedürftigkeit ab Antragstellung, ab Februar 2009 zu belegen. Dr. W. diagnostizierte lediglich eine Gebrauchsminderung
beider Hände, Bewegungseinschränkung in den Schultergelenken, Funktionsbehinderung der Wirbelsäule und Sehstörungen als Funktionseinschränkungen.
Inwieweit Hände und Arme noch für die täglich wiederkehrenden Verrichtungen der Pflege eingesetzt werden können, wird daraus
nicht erkennbar. Der Sachverständige beschrieb lediglich, das Aus- und Anziehen habe dem Beschwerdeführer sichtlich Mühe bereitet.
Im Übrigen machte er Ausführungen zur Frage, welche Arbeitsleistungen von wirtschaftlichem Wert noch abverlangt werden könnten.
Über diese Feststellung hinausgehende Erkenntnisse liefern die Atteste der Orthopäden Dres. V. vom 15.02.2008 und der Dres.
W. vom 10.05.2006 nicht. Allein das Datum der vorgenannten medizinischen Unterlagen macht deutlich, dass es sich um keine
aktuellen, auf den Antragszeitpunkt, nämlich Februar 2009 abgestellte Befunde handelt. Ein Anordnungsanspruch ist somit nicht
glaubhaft gemacht.
Ebenso wenig vermag der Senat besondere Eilbedürftigkeit zu erkennen. Denn der Beschwerdeführer erklärt nicht, ob und auf
welche Weise sich sein Gesundheitszustand im Februar 2009 so verschlechtert hat, dass Hilfe für die Verrichtungen im Grundpflegebereich
notwendig sei. Auch diesbezüglich fehlt es an der Glaubhaftmachung. Insgesamt kommt der Senat damit zum Ergebnis, dass die
Beschwerde zurückzuweisen ist.
Die Kostenentscheidung beruht auf entsprechender Anwendung des §
193 SGG.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§
177 SGG).