Anspruch auf Pflegegeld aus der sozialen Pflegeversicherung; Aufhebung der Leistungsbewilligung nach einer Stabilisierung
des Gesundheitszustands; maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung einer Anfechtungsklage
Tatbestand:
Streitig ist der Wegfall von Leistungen der Pflegeversicherung nach Stufe I ab 01.04.2008.
Die 1927 geborene Klägerin leidet an chronischem Schmerzsyndrom der Lendenwirbelsäule bei schwerer Osteoporose und sturzbedingter
Lendenwirbelkörper-Fraktur im Mai 2006 sowie Sinterungsfraktur im Oktober 2007, reduziertem Ernährungs- und Kräftezustand
(1,62 m bei 40 kg) und Varikosis am rechten Unterschenkel mit der Notwendigkeit, einen Kompressionsstrumpf zu tragen.
Auf ihren Antrag vom 18.07.2006 im Anschluss an einen Krankenhausaufenthalt gewährte ihr die Beklagte mit Bescheid vom 26.07.2006
Pflegegeld nach der Stufe I. Grundlage war das Gutachten nach Aktenlage des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung
Bayern (MDK) vom 20.07.2006. Darin wurde ein Hilfebedarf von 46 Minuten für Grundpflege angenommen. Eine weitere Begutachtung
wurde sechs bis acht Wochen nach der Krankenhausentlassung empfohlen.
Im Gutachten vom 11.09.2006 nach Hausbesuch am 06.09.2006 ging der MDK von einem Pflegeaufwand von nur noch 16 Minuten aus
(Körperpflege 5 Minuten; Ernährung 0 Minuten; Mobilität 11 Minuten). Der Allgemeinzustand der Klägerin habe sich stabilisiert.
Hiervon setzte die Beklagte die Klägerin am 13.09.2006 in Kenntnis. Sie beabsichtige ihre frühere Leistungsentscheidung für
die Zukunft aufzuheben. Die Klägerin erwiderte, sie sei damit auf keinen Fall einverstanden. Sie sei nicht in der Lage, den
Haushalt selbst zu führen und sei auf fremde Hilfe angewiesen.
Die Beklagte veranlasste eine weitere Begutachtung durch den MDK. Im Gutachten vom 17.11.2006 führte der MDK aus, bei richtiger
Beurteilung müsse von einem Hilfebedarf von 49 Minuten pro Tag im Bereich der Grundpflege ausgegangen werden. Er empfahl,
weiterhin Leistungen nach Pflegestufe I zu gewähren.
Mit Schreiben vom 21.11.2006 teilte die Beklagte dies der Klägerin mit. Sie helfe dem Widerspruch ab und gewähre weiterhin
Leistungen nach der Pflegestufe I.
Am 19.12.2007 untersuchte der MDK die Klägerin ein weiteres Mal. Er stellte einen Hilfebedarf von 11 Minuten für Grundpflege
fest.
Nach Anhörung und erneuter Begutachtung durch den MDK am 20.02.2008, der empfahl, Leistungen nach Pflegestufe I einzustellen,
entzog die Beklagte mit Bescheid vom 26.02.2008 Leistungen ab 01.04.2008.
Den dagegen erhobenen Widerspruch wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 04.06.2008 zurück.
Im nachfolgenden Klageverfahren beauftragte das Sozialgericht München (SG) den Arzt für Arbeits- und Sozialmedizin Dr. H. ein Gutachten zu erstatten. Nach Hausbesuch führte der Sachverständige am
30.07.2008 aus, es sei tatsächlich zu einer Besserung im Sinne einer Stabilisierung des Gesundheitszustandes gekommen. Trotz
des weiterhin schlechten Ernährungszustands bei einem Körpergewicht von 40 kg habe sich der Kräftezustand soweit gebessert,
dass die Klägerin nun Gegenstände in den Händen halten, vom Sitzen und Liegen ohne Fremdhilfe aufstehen und sich im Wesentlichen
selbst waschen und ankleiden könne. Lediglich beim Brot abschneiden und öffnen von Flaschen sei Hilfe erforderlich, ebenso
wie für das Anlegen einer Lendenstütze und das Ausziehen des Kompressionsstrumpfes am rechten Unterschenkel; das Anlegen des
Kompressionsstrumpfes gelinge selbständig. Darüber hinaus müsse der Klägerin beim Ein- und Aussteigen in die Badewanne für
das zweimal wöchentliche Bad geholfen werden. Hierfür liege der Hilfebedarf noch unter 1 Minute pro Tag. Es sei im Vergleich
zum Gutachten des MDK vom 17.11.2007 zu einem deutlichen Rückgang des Hilfebedarfs gekommen. Die Voraussetzungen für Leistungen
nach der Pflegestufe I lägen ab 01.04.2008 nicht mehr vor.
Mit Urteil vom 22.10.2008 wies das SG die Klage ab. Es folgte dem Gutachten des Dr. H., wonach kein Hilfebedarf mehr über den 31.03.2008 im Grundpflegebereich
von mehr als 45 Minuten pro Tag bestehe.
Dagegen legte die Klägerin Berufung ein. Inzwischen habe sich ihr Zustand weiter verschlechtert, wie ihre behandelnden Ärzte
bestätigen könnten. Im Attest vom 02.02.2009 bestätigte der Allgemeinarzt N. M., der Gesundheitszustand der Klägerin habe
sich im letzten Jahr verschlechtert. Die Rückenschmerzen hätten sich verstärkt, so dass es der Klägerin zunehmend weniger
möglich sei, ihre häuslichen Pflichten zu verrichten. Sie leide an einer Polyarthrose, degenerativem Lumbalsyndrom sowie an
einem Zustand nach Wirbelkörperfraktur bei bekannter Osteoporose. Mit einer Besserung sei nicht zu rechnen, eher mit einer
deutlichen Verschlechterung. Im vom Senat eingeholten Befundbericht vom 07.05.2009 fügte der Arzt hinzu, Anfang 2009 sei die
Klägerin an einer schweren Pneumonie erkrankt. Seither hätten die Beschwerden deutlich zugenommen.
Am 21.07.2009 wies der Senat die Beteiligten darauf hin, er beabsichtige im Beschlusswege zu entscheiden. Die Beteiligten
äußerten sich hierzu nicht.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts München vom 22.10.2008 sowie den Bescheid vom 26.02.2008 in der Fassung des Widerspruchsbescheides
vom 04.06.2008 aufzuheben.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung der Klägerin zurückzuweisen.
Im Übrigen wird zur Ergänzung des Sachverhalts gemäß §
136 Sozialgerichtsgesetz (
SGG) auf den Inhalt der Akte der Beklagten sowie der Klage- und Berufungsakte Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung der Klägerin ist zulässig (§§
143,
151 SGG), jedoch unbegründet. Der Bescheid vom 26.02.2008, mit dem die Beklagte Leistungen nach Pflegestufe I ab 01.04.2008 entzog,
erweist sich als rechtmäßig.
Der Senat hält die Berufung einstimmig nicht für begründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich. Er wies
die Beteiligten auf diese Auffassung hin. Der Senat konnte daher durch Beschluss gemäß §
153 Abs.
4 SGG entscheiden.
Zu Recht wies das SG die Klage ab. Der Bescheid vom 26.02.2008 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 04.06.2008, der wegen wesentlicher
Änderung der tatsächlichen Verhältnisse Pflegegeld mit Ablauf des 31.03.2008 versagte, erweist sich als rechtmäßig. Die Voraussetzungen
für eine Neufeststellung gemäß § 48 des Zehnten Sozialgesetzbuches (SGB X) waren zu diesem Zeitpunkt erfüllt. Um eine wesentliche Änderung der tatsächlichen Pflegeverhältnisse feststellen zu können,
muss ein Vergleich angestellt werden zwischen den Befunden, die der Bewilligung von Pflegegeld zugrunde gelegen haben mit
den Verhältnissen, die zum Zeitpunkt des Bescheiderlasses, also im Februar 2008 vorgelegen haben.
Das Klagebegehren stellt sich als Anfechtungsklage gemäß §
54 Abs.
1 SGG dar. Sie ist darauf gerichtet, den Pflegegeld entziehenden Bescheid vom 26.02.2008 zu beseitigen, mit der Folge, dass bei
erfolgreicher Anfechtung dann der Leistungsbescheid wieder fortgelten würde. Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung einer
solchen Anfechtungsklage ist die Sach- und Rechtslage bei Erlass des Verwaltungsaktes bzw. des Widerspruchsbescheides. Eine
spätere Änderung der Sach- und Rechtslage ist in der Regel unbeachtlich (Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer,
SGG, Kommentar, 9. Auflage, §
54 Rdnr.33).
Zur Überzeugung des Senats steht fest, dass sich im Februar 2008 die gesundheitlichen Verhältnissen der Klägerin soweit stabilisiert
hatten, dass ein Pflegeaufwand bei den Grundverrichtungen nicht mehr im Umfang von mehr als 45 Minuten pro Tag im Wochendurchschnitt
gegeben war. Dies entnimmt der Senat dem Gutachten des Dr. H. vom 30.07.2008 nach einem Hausbesuch am 29.07.2008 und dem Gutachten
des MDK vom 19.12.2007, das der Senat im Urkundsbeweis verwerten kann. Im Verhältnis zum Vorgutachten vom 17.11.2006, in dem
eine umfassende Überprüfung des Pflegebedarfs stattfand und demgemäß mit Bescheid vom 21.11.2006 entschieden wurde, war im
Februar 2008 eine wesentliche Besserung des für die Beurteilung von Pflegebedürftigkeit maßgebenden Gesundheitszustandes eingetreten.
Pflegebedürftige können nach §
37 Abs.1 Satz 1 bis 3 des Elften Buchs des Sozialgesetzbuchs (
SGB XI) Pflegegeld erhalten, wenn sie die erforderliche Grundpflege und hauswirtschaftliche Versorgung durch eine Pflegeperson in
geeigneter Weise sowie dem Umfang des Pflegegeldes entsprechen selbst sicher stellen und mindestens die Pflegestufe I vorliegt.
Maßgebend für die Feststellung von Pflegebedürftigkeit und die Zuordnung zu den einzelnen Pflegestufen ist der Umfang des
Pflegebedarfs bei denjenigen gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens, die
in §
14 Abs.
4 SGB XI aufgeführt und in die Bereiche Körperpflege, Ernährung und Mobilität (Nrn. 1 bis 3), die zur Grundpflege gehören, sowie den
Bereich der hauswirtschaftlichen Versorgung (Nr. 4) aufgeteilt sind. Der dort aufgeführte Katalog der Verrichtungen stellt
eine abschließende Regelung dar (BSGE 82, 27), die sich am üblichen Tagesablauf eines gesunden bzw. nicht behinderten Menschen orientiert (BSG SozR 3-3300 § 14 Nr. 3).
Nach §
15 Abs.
3 Nr.
1 SGB XI muss der Zeitaufwand für die erforderlichen Hilfeleistungen der Grundpflege täglich mehr als 45 Minuten (Grundpflegebedarf),
für solche der Grundpflege und hauswirtschaftlichen Versorgung zusammen mindestens 90 Minuten (Gesamtpflegebedarf) betragen.
Unter Grundpflege ist die Hilfe bei gewöhnlichen und wiederkehrenden Verrichtungen im Bereich der Körperpflege, der Ernährung
und der Mobilität (§
14 Abs.
4 Nr.
1 bis
3 SGB XI), unter hauswirtschaftlicher Versorgung die Hilfe bei der Nahrungsbesorgung und -zubereitung, der Kleiderpflege sowie der
Wohnungsreinigung und -beheizung (§
14 Abs.
4 Nr.
4 SGB XI) zu verstehen.
Die zeitlichen Voraussetzungen für Pflegestufe I waren jedenfalls ab Ende März 2008 nicht mehr gegeben. Insoweit stützt sich
der Senat auf das Gutachten des Dr. H. vom 30.07.2008. Darin stellte der Sachverständige fest, dass sich der Kräftezustand
der Klägerin trotz ihres bei ca. 40 kg gebliebenen geringen Körpergewichts gebessert hatte. Dabei berücksichtigte er, dass
ein chronisches Schmerzsyndrom der Lendenwirbelsäule nach wie vor bestand und auch wohl noch besteht. Er legte seiner Beurteilung
die Schilderungen der Klägerin über den Tagesablauf zugrunde, wonach sie für Körperpflege sowie Darm- und Blasenentleerung
keiner Hilfe bedurfte. Einen ein- bis zweimal täglich notwendigen Hilfebedarf sah er für das mundgerechte Zubereiten von Nahrung,
nämlich für das Abschneiden von Brot und Öffnen von Flaschen für erforderlich. Unterstützung benötigt die Klägerin beim Anlegen
einer Lendenstütze und beim Ausziehen eines Kompressionsstrumpfes. Wegen der am Morgen stärkeren Schmerzzustände hielt er
eine Begleitung durch eine Pflegeperson auf dem Weg ins Bad sowie Hilfe beim Ein- und Aussteigen in die bzw. aus der Badewanne
zweimal pro Woche für nötig. Ein Hilfebedarf von mehr als 45 Minuten pro Tag im Grundpflegebedarf sah er damit nicht für erwiesen
an.
Der Senat schließt sich dieser Beurteilung an. Er betont, dass allein deswegen, weil im Februar 2008 kein Bedarf von mehr
als 45 Minuten pro Tag für Unterstützung im Grundpflegebereich bestand, die Einwendung der Klägerin, sie könne keine hauswirtschaftlichen
Verrichtungen ausüben, nicht zum tragen kommen. Der Senat schenkt insoweit den Erklärungen der Klägerin Glauben, weist jedoch
darauf hin, dass dies nicht ausreicht für die Inanspruchnahme von Pflegegeld.
Ebenso wenig kann die Einwendung der Klägerin, inzwischen habe sich, wie ihr Hausarzt bestätigt, ab Anfang 2009 ihr Gesundheitszustand
weiter verschlechtert, zur Fortzahlung von Pflegegeld über den 31.03.2008 hinaus führen. Wie der Senat eingangs ausführte,
ist für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage der Zeitpunkt des Bescheiderlasses, also Februar bzw. Juni 2008 maßgeblich.
Spätere Änderungen können einen neuen Anspruch auf Pflegegeld begründen. Hierüber hat jedoch die Beklagte zunächst eine Entscheidung
zu treffen, die im negativen Fall einer gerichtlichen Prüfung zugänglich wäre. Als Neuantrag könnte das Schreiben der Klägerin
vom 02.12.2008 verstanden werden. Darin bringt sie zum Ausdruck, ihr körperlicher Zustand habe sich verschlechtert. Gestützt
wird diese Angabe durch den Befundbericht des behandelnden Arztes M., der eine Verschlechterung nach einer schweren Pneumonie
Anfang 2009 bestätigt. Die Beklagte wird hierüber noch zu entscheiden haben.
Insgesamt kommt der Senat damit zum Ergebnis, dass der Bescheid vom 26.02.2008 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom
04.06.2008 rechtmäßig war. Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts München vom 22.10.2008 war daher
zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung stützt sich auf §
193 SGG.
Für die Zulassung der Revision bestand kein Anlass (§
160 Abs.
2 Nrn. 1 und 2
SGG).