Tatbestand
Zwischen den Beteiligten sind die Unfallfolgen und der Umfang der Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung im Sinne
des Siebten Buchs Sozialgesetzbuch (
SGB VII) anlässlich des Arbeitsunfalls vom 18.01.2006 streitig.
Am 18.01.2006 rutschte der 1962 geborene Kläger auf dem Weg von zu Hause zu seiner Arbeitsstätte auf einer Eisplatte aus und
fiel auf den Hinterkopf. Daraufhin begab er sich ins Klinikum A-Stadt zur Behandlung. Dort schilderte er Kopfschmerzen, keine
Bewusstlosigkeit, jedoch eine retrograde Amnesie für einen Zeitraum von 1 min. Er war örtlich, zeitlich und zur Person orientiert.
Am Schädel fand sich eine okzipital (= am Hinterhaupt gelegen) quer verlaufende Hautverletzung von ca. 5 cm Länge und 5 mm
Tiefe, nicht klaffend und unscharf begrenzt. Der Durchgangsarzt (D-Arzt) Dr. M. stellte die Diagnosen einer Kopfplatzwunde
okzipital und einer Commotio cerebri (D-Arzt-Bericht vom 18.01.2006). Die Wunde wurde genäht, und es folgte eine stationäre
Aufnahme zur Überwachung. Bei Entlassung am 20.01.2006 waren die beklagten Kopfschmerzen rückläufig (Entlassungsbericht vom
19.01.2006).
Am 02.02.2006 wurde der Kläger vom Neurologen Dr. N. behandelt. Er klagte über anhaltende Kopfschmerzen, verstärkten Schwindel
und eine Verschlimmerung des vorbestehenden Tinnitus. Unabhängig von den geklagten Beschwerden war der neurologische Befund
unauffällig. Wegen des Verdachts auf eine Contusio labyrinthi und einer Schallempfindungsschwerhörigkeit wurde der Kläger
am 02.02.2006 beim HNO-Arzt Dr. S. behandelt. Dieser konnte keine Einschränkung der Gleichgewichtsfunktion und des Hörvermögens
feststellen.
Nach dem Befundbericht des Neurologen Dr. S. vom 18.04.2007 bestand ein posttraumatischer Kopfschmerz nach okzipitaler Schädelprellung
und Commotio cerebri. Außerdem äußerte Dr. S. den Verdacht auf Vorliegen einer abgelaufenen Halswirbelsäulendistorsion.
Aufgrund der anhaltenden Beschwerden wurde am 09.05.2007 die Erstellung einer Kernspintomographie des Schädels veranlasst.
Es fand sich ein altersentsprechender, unauffälliger Befund. Morphologisch zeigten sich keine fassbaren Traumafolgen.
Zur stationären Heilverfahrenskontrolle wurde der Kläger vom 06.08.2007 bis 07.09.2007 stationär in die Unfallklinik M. aufgenommen.
Nach deren Abschlussbericht vom 05.09.2007 berichtete der Kläger, nach dem Sturz initial bewusstlos gewesen zu sein, nach
kurzer Zeit aber wieder das Bewusstsein erlangt zu haben. Während des Aufenthalts im Klinikum A-Stadt hätten die Beschwerden
begonnen. Nach der klinischen und radiologischen Untersuchung zeigten sich Hinweise auf unfallfremde degenerative Veränderungen
der Halswirbelsäule. Der Kläger wurde in intensiven Gesprächen auf die Gefahr der Entwicklung eines medikamenteninduzierten
Kopfschmerzes durch längerfristige Einnahme von NSAR aufmerksam gemacht.
Am 05.09.2007 fand in der Unfallklinik M. ein Gespräch mit einem Berufshelfer der Beklagten statt. Darin schilderte der Kläger,
dass der Kopfschmerz unverändert vorhanden sei. Lediglich die Nackenverspannungen hätten sich im Laufe der Behandlung an der
Unfallklinik M. gelöst. Der Kläger sei als Bauleiter bei der X. GmbH in A-Stadt tätig. Hier sei er als Elektromeister im Bereich
Freileitungsbau für Wartung und Aufbau zuständig. Er übe eine Schreibtischtätigkeit aus. Vom Büro aus kümmere er sich um die
benötigten Materialien sowie die Planungen der Baustellen. Des Weiteren müsse er auch selbst zur Bauaufsicht vor Ort fahren
und ggf. die Arbeitsvorbereitung hinsichtlich der Materialzusammenstellung im Lager überwachen. Er arbeite aber nicht auf
den Baustellen oder im Bereich der Arbeitsvorbereitung mit. Hier übernehme er lediglich die Kontrolltätigkeiten. Der Kläger
bat um Prüfung eines Rentenanspruchs, da ihm eine Rente helfen würde, die Arbeitszeit zu reduzieren, um so eine Verbesserung
seiner Schmerzproblematik zu erzielen.
Im Auftrag der Beklagten erstellte der Chirurg Dr. W. das Gutachten vom 08.11.2007. Danach habe der Unfall vom 18.01.2006
eine Commotio cerebri bzw. Commotio labyrinthi verursacht. Eine Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) sei nicht begründbar.
Nach dem Gutachten des Neurologen Dr. M. vom 07.12.2007 sei durch den Unfall vom 18.01.2008 ein leichtes Schädel-Hirn-Trauma
verursacht worden. Im Gefolge des Unfalls habe sich ein chronischer Kopfschmerz entwickelt. Bei der Entwicklung dieser mittlerweile
erheblichen Schmerzproblematik seien wegbereitende, prädisponierende, unfallunabhängige Persönlichkeitszüge anzunehmen. Hinzu
komme die Rolle des Klägers als Bauleiter mit ungünstig konstellierenden Faktoren wie hohem Zeit- und Verantwortungsdruck.
Auch bei einem Hörsturz und Tinnitus, den der Kläger bereits im Jahr 2003 erlitten habe, fänden sich oft psychosomatische
Ursachen. Gleichwohl sei das Unfallereignis wesentliche Ursache für die vorliegende Kopfschmerzsymptomatik. Die MdE betrage
20 v.H.
Im Gutachten vom 21.12.2007 gelangte der Internist Dr. K. zu dem Ergebnis, dass der Kläger unter einer unfallfremden Hypertonie
leide.
Bei einer Vorstellung im Klinikum A-Stadt am 28.12.2007 berichtete der Kläger, dass er sich in regelmäßiger Behandlung bei
den Schmerztherapeuten Dres. B./S. in M. befinde und mit Tramadol 3 x 100, Novalgin 3 x 30 Tropfen und Syneudon 25 mg abends
eingestellt sei. Seit dieser Einstellung könne er zunehmend besser schlafen. Er arbeite weiterhin vollschichtig und fehle
nur immer wieder einzelne Tage.
In der beratungsärztlichen Stellungnahme vom 04.02.2008 wies der Neurologe Prof. Dr. G. darauf hin, dass Kopfschmerzen eine
außerordentlich häufige Gesundheitsstörung in der Bevölkerung darstellten. Allein der zeitliche Zusammenhang genüge für einen
Unfallzusammenhang der Kopfschmerzen nicht. Auch wenn Kopfschmerzen vom Spannungstyp und selbst Migränekopfschmerzen nach
leichten Schädel-Hirn- und Halswirbelsäulenverletzungen erstmals auftreten könnten, bliebe die Pathogenese streitig. Gesichert
sei lediglich der Einfluss von Schmerzmitteln auf die Kopfschmerzchronifizierung. Bei Abwägung der Art und Schwere der Verletzung
und der Vielfalt der konkurrierenden Ursachen und Einflussfaktoren aus neurologischer Sicht sei ein ursächlicher Zusammenhang
zwischen Unfall und Kopfschmerzen nach Ablauf von sechs Monaten nicht zu begründen. Die MdE betrage im ersten halben Jahr
20 v.H., danach bis zum Ablauf eines Jahres 10 v.H.
Aus einem Gespräch mit dem Berufshelfer vom 08.02.2008 geht hervor, dass der Kläger noch vollschichtig arbeitete, aber durchschnittlich
an zwei Tagen pro Woche wegen der Kopfschmerzen arbeitsunfähig krank sei. Der Kläger berichte von einem exorbitant hohen Schmerzmittelverbrauch,
der zusammen mit einem Anästhesisten erarbeitet worden sei. Eine psychologische Behandlung solle eingeleitet werden.
Nach dem weiter eingeholten Gutachten des HNO-Arztes Dr. F. vom 05.03.2008 hatte der Kläger im Jahre 2003 einen beidseitigen
Hörsturz erlitten. Seitdem leide er unter einem Tinnitus beidseits. Auf halsenohrenärztlichem Fachgebiet seien - bis auf eine
anamnestisch angegebene vorübergehende Verschlimmerung des Tinnitus - keine unfallbedingten Gesundheitsstörungen festzustellen.
In den ergänzenden Stellungnahmen vom 17.03.2008 und 14.05.2008 führte Dr. M. aus, dass der Kläger vor dem Unfall beschwerdefrei
gewesen sei. Die Annahme von unfallbedingten Kopfschmerzen in den ersten Wochen sei unstreitig. Die Annahme eines schmerzmittelbedingten
Kopfschmerzes sei nicht berechtigt, auch wenn eine gewisse therapeutische Überaktivität bestünde. Dem Kläger solle ein Jahr
Zeit gegeben werden, um seine Kopfschmerzen mittels therapeutischer Maßnahmen zu bessern. Die Kopfschmerzen seien unfallbedingt.
Die MdE betrage bis 31.12.2008 20 v.H.
Dr. W. hielt mit Schreiben vom 09.04.2008 eine MdE von 20 v.H. bis 01.05.2008 für gegeben.
Mit Bescheid vom 14.07.2008 gewährte die Beklagte dem Kläger eine Verletztenrente als vorläufige Entschädigung nach einer
MdE von 20 v.H. im Zeitraum vom 06.03.2006 bis 31.12.2008 für folgende Unfallfolge: posttraumatischer Kopfschmerz nach Gehirnerschütterung
und Innenohrerschütterung. Folgende Gesundheitsstörungen lägen unfallunabhängig vor: Bluthochdruck, Nasennebenhöhlenentzündung,
Zustand nach Hörsturz beidseits 2003 mit beidseitigen Ohrgeräuschen, degenerative Bandscheiben- und Wirbelsäulenveränderungen.
Ab dem 21.07.2008 war der Kläger arbeitsunfähig.
Am 06.08.2008 teilten die Chirurgen Dr. M./Dr. H. der Beklagten mit, dass der Schmerztherapeut die Schmerzmedikation deutlich
erhöht habe, so dass der Kläger unter einer erheblichen Müdigkeit leide und ihm das Führen eines Autos seitens der Schmerztherapeuten
untersagt worden sei. Der Kläger sei infolge der Nebenwirkungen der Medikamente ab dem 28.07.2008 nicht arbeitsfähig.
Vom 01.08.2008 bis zum 26.09.2008 befand sich der Kläger im Rahmen einer stationären Rehabilitationsmaßnahme in der Schmerzklinik
am A. in Bad M ... Nach deren Abschlussbericht vom 21.10.2008 sei es durch die Behandlung zwar nicht zu einer Verbesserung
des Dauerkopfschmerzes gekommen, jedoch habe sich der Narbenschmerz am Hinterkopf fast völlig zurückgebildet. Weiter habe
ein Opiat auf ein retardiertes Morphin umgestellt werden können, wodurch der Opiatinduzierte Juckreiz "komplett sistiert"
habe. Die Möglichkeit eines medikamenteninduzierten Kopfschmerzes wurde in dem 12-seitigen Abschlussbericht nicht erwähnt.
Als Entlassungsmedikation wurden angegeben Morphin ret. mg 20-10-10 und Mirtazapin mg 0-0-0-22,5.
Am 22.10.2008 stellte sich der Kläger in der Schmerzambulanz der Zentralen Anästhesieabteilung des Klinikums K.-O. vor. Dort
wurde die Medikation mit Morphin weiter empfohlen und eine Überlagerung des Schmerzbildes durch Medikamentenübergebrauch nicht
ausgeschlossen. Eine Entwöhnung sollte mindestens über 14 Tage in einem stationären Setting erfolgen.
Am 05.12.2008 beantragte der Kläger die Weitergewährung der Verletztenrente über den 31.12.2008 hinaus.
Im Januar 2009 begab sich der Kläger zur Entzugsbehandlung in das Bezirksklinikum K ... Anfang Februar 2009 stellte seine
Ehefrau einen Antrag auf Gewährung einer Haushaltshilfe durch die Beklagte. Sie habe seit ihrer Dickdarmkrebs-Erkrankung im
Jahr 2003 ein Ileostoma, d. h. einen künstlichen Darmausgang, und dürfe deshalb viele Arbeiten im Haushalt mit zwei Kindern
nicht mehr erledigen. Diese Arbeiten habe seitdem ihr Mann verrichtet. Die ältere 16-jährige Tochter habe einen Arbeitsunfall
mit Gehirnerschütterung erlitten und könne ihr nicht helfen. Durch die wochenlange Abwesenheit ihres Mannes zum Medikamentenentzug
komme sie nicht mehr zurecht, zumal akut die 11-jährige Tochter an Ringelröteln mit starkem Fieber erkrankt sei.
Vom 07.01.2009 bis zum 29.05.2009 erfolgte im Bezirksklinikum K. eine stationäre Entwöhnungsbehandlung mit anschließender
psychotherapeutischer Stabilisierung. Vom 12.06.2009 bis zum 10.08.2009 erfolgte eine weitere stationäre Behandlung. Über
beide Aufenthalte berichtete das Klinikum abschließend am 03.09.2009. Als Diagnosen wurden darin genannt: chronisches posttraumatisches
Syndrom mit Blässe, Konzentrationsstörungen, Reizbarkeit, Geräuschempfindlichkeit und Schlafstörungen (F 43.1), depressive
Episode, inzwischen schweren Ausmaßes sekundär (F 33.2), chronischer posttraumatischer Kopfschmerz nach Commotio cerebri infolge
eines Sturzes auf den Hinterkopf am 18.01.2006, arterielle Hypertonie (essentiell) seit 2003, Tinnitus seit 2003 und Knieschmerzen
bei V. a. Gonarthrose beidseits. Am 10.08.2009 wurde der Kläger zur Weiterbehandlung in die Schmerzklinik nach M. verlegt.
Auf Veranlassung der Beklagten erstellte der Neurologe Dr. D. die Stellungnahme nach Aktenlage vom 03.03.2009. Danach ergäben
sich Hinweise auf einen ärztlich induzierten Schmerzmittelabusus, der zu den Kopfschmerzen mit beitragen dürfte. Es sei eine
Entwöhnungstherapie erforderlich. Nachdem von der Beklagten entgegen den üblichen Gepflogenheiten ein posttraumatischer Kopfschmerz
nach einer einfachen Commotio cerebri als Unfallfolge anerkannt worden sei, seien die Behandlungen zur Entwöhnung des Klägers
als überwiegend unfallbedingt zu akzeptieren. Sofern keine Besserung eintrete, sei eine Verschiebung der Wesensgrundlage zu
prüfen. Denn ein schmerzmittelinduzierter Kopfschmerz sei nach erfolgter Entziehung nicht mehr zwanglos als Unfallfolge zu
erklären. Schließlich lägen unfallfremde psychosoziale Belastungssituationen (hohe berufliche Belastung, schwere Erkrankung
der Ehefrau, Verpflichtungen im Haushalt) vor. Die seit 28.07.2008 bestehende Arbeitsunfähigkeit sei Folge des Arbeitsunfalls
vom 18.01.2006.
Am 26.06.2009 führte Dr. D. ergänzend aus, dass sich im Rahmen der Behandlung der Kopfschmerzen eine Medikamentenabhängigkeit
entwickelt habe. Die Medikamentenabhängigkeit sei auf die als Unfallfolge anerkannten Kopfschmerzen zurückzuführen. Eine posttraumatische
Depression oder posttraumatische Belastungsstörung als Unfallfolge sei dagegen nicht anzuerkennen. Denn das Unfallereignis
sei nach Schwere und Erlebnisgehalt nicht geeignet, eine posttraumatische psychoreaktive Störung hervorzurufen. Nachdem die
Entwöhnungstherapie zu keiner Besserung, sondern zu einer Verschlechterung der Kopfschmerzen geführt habe, sei davon auszugehen,
dass die Kopfschmerzen wesentlich durch unfallfremde Mechanismen und Erkrankungen hervorgerufen und unterhalten werden. Mit
Beendigung der stationären Entwöhnungsbehandlung und der anschließenden psychotherapeutischen Stabilisierung seien die weitere
psychiatrisch-psychotherapeutische Behandlung und die Schmerztherapie auf die bis Ende 2008 anerkannten Unfallfolgen zurückzuführen.
Die noch bestehenden Beschwerden seien daher unfallfremd. Bei großzügiger Bemessung sei eine unfallbedingte Arbeitsunfähigkeit
und Behandlungsbedürftigkeit bis 29.05.2009 festzustellen.
Nach vorheriger Anhörung teilte die Beklagte mit Bescheid vom 29.07.2009 dem Kläger mit, dass die bestehenden Beschwerden
nicht mehr Folge des Arbeitsunfalls vom 18.01.2006 seien. Eine unfallbedingte Arbeitsunfähigkeit und Behandlungsbedürftigkeit
bestünde bis längstens 29.05.2009. Auch ein Anspruch auf Haushaltshilfe bestehe gegenüber der Beklagten nicht über den 29.05.2009
hinaus.
Am 11.08.2009 legte der Kläger gegen diesen Bescheid Widerspruch ein mit den Anträgen, die psychische Erkrankung als Folge
des Unfalles vom 18.01.2006 anzuerkennen, Verletztengeld über den 29.05.2009 hinaus zu zahlen und nach Beendigung des Verletztengeldes
Rente zu gewähren.
Die behandelnde Psychiaterin des Klägers aus dem Bezirkskrankenhaus K., Dr. H., und die dortige behandelnde psychologische
Psychotherapeutin, Dr. B., vertraten in einer ärztlichen Stellungnahme vom 17.07.2009 die Auffassung, dass auch eine erneute
stationäre Behandlung des Klägers im Bezirksklinikum seit dem 12.06.2009 unfallbedingt sei. Dazu führten sie aus, dass der
Kläger bis zum Tag seines Unfalls am 18.01.2006 keinerlei psychische Auffälligkeiten gezeigt habe und auch die Situation im
Zusammenhang mit der Darmkrebserkrankung seiner Ehefrau 2003 ohne professionelle Hilfen gemeistert habe. Er habe seine Arbeit
als erfolgreicher Bauleiter in einem Energiebetrieb gerne und erfolgreich gemacht, es habe keine längeren Ausfallzeiten gegeben.
Zudem habe der Kläger vor dem Unfall über zahlreiche soziale Kontakte verfügt, Freizeitaktivitäten gepflegt und ein positives
Verhältnis zu seinen Töchtern gehabt.
In der Folgezeit, d. h. auch in den folgenden Jahren, unterzog sich der Kläger einer Vielzahl weiterer stationärer Behandlungen,
teils von erheblicher Dauer, so vom 24.11.2009 bis zum 09.12.2009, vom 15.12.2009 bis zum 31.12.2009 und vom 05.01.2010 bis
zum 18.01.2010 in der S. Klinik V., vom 17.03.2010 bis zum 17.06.2010 im Bezirksklinikum K., vom 06.07.2010 bis zum 21.07.2010
in der S. Klinik V., vom 17.06.2010 bis zum 06.07.2010, vom 21.07.2010 bis zum 17.08.2010 und vom 27.08.2010 bis zum 10.09.2010
stationär-psychiatrisch im Bezirkskrankenhaus A-Stadt, vom 17.08.2010 bis 27.08.2010 und vom 24.09.2010 bis zum 28.09.2010
in der S. Klinik V. und vom 08.12.2010 bis zum 19.01.2011 in der B. Klinik Bad K ... U. a. wurden auch Elektroden zur Elektrostimulation
implantiert. Keine der Behandlungen hat zu einer durchgreifenden Besserung der Problematik geführt. Zweimal wurden Entziehungskuren
durchgeführt. Im Ergebnis konnte das Suchtverhalten abgestellt werden. Bis heute verblieben ist jedoch eine Opiatabhängigkeit,
die mit retardierten Opiaten (Morphin 2 × 60 mg pro Tag) behandelt wird, unterstützt durch Antidepressiva.
Im Auftrag der Beklagten erstellte der Sachverständige Dr. M. am 11.11.2009 ein weiteres Gutachten. Danach könne das unfallbedingte
leichte Schädel-Hirn-Trauma nicht wesentliche Ursache des depressiven Syndroms sein. Bis zum Abschluss der Entwöhnungsbehandlung
am 29.05.2009 sei die MdE mit 20 v.H. zu bewerten.
Nach dem Gutachten des Dr. W. vom 16.11.2009 sind als Unfallfolgen eine Commotio cerebri, eine Commotio labyrinthi, eine posttraumatische
Belastungsstörung, ein chronifiziertes Kopfschmerzsyndrom und eine ausgeheilte Kopfschwartenverletzung okzipital festzustellen.
Eine MdE bestünde nicht.
Mit Bescheid vom 05.02.2010 gewährte die Beklagte dem Kläger im Zeitraum vom 01.01.2009 bis 29.05.2009 Verletztenrente nach
einer MdE von 20 v.H. In diesem Zeitraum stellte sie zudem Kopfschmerzen und eine vorübergehende Schmerzmittelabhängigkeit
als Unfallfolgen fest. Unfallunabhängig lägen vor: eine Depression mittleren Schweregrades, Medikamentenabhängigkeit, Bluthochdruck,
Nasennebenhöhlenentzündung, Zustand nach Hörsturz 2003 mit beidseitigen Ohrgeräuschen, degenerative Bandscheiben- und Wirbelsäulenveränderungen.
Am 01.03.2010 legte der Kläger gegen den Bescheid vom 05.02.2010 Widerspruch ein mit dem Antrag, über den 29.05.2009 hinaus
Rente zu bezahlen.
Am 28.07.2010 diagnostizierte Dr. H. in einem Gutachten für die Deutsche Rentenversicherung Bund eine chronische Schmerzstörung
mit somatischen und psychischen Faktoren, Kopfschmerzen vom Spannungstyp nach Commotio cerebri, eine Neuralgie des Nervus
occipitalis links nach Platzwunde am Hinterkopf, eine chronifizierte mittelgradige depressive Episode mit somatischem Syndrom
und eine iatrogene Opioidabhängigkeit. Dr. H. stellte fest, es falle auf, dass eine stationäre medizinische Rehabilitationsmaßnahme
in einer psychosomatisch orientierten Klinik bisher nicht stattgefunden habe. Die Behandlung sei bislang ausschließlich psychiatrisch
im BKH K. und A-Stadt sowie anästhetisch-schmerztherapeutisch erfolgt.
In einem für die private Unfallversicherung erstellten Gutachten vom 19.08.2010 kam der Neurologe und Psychiater Dr. N. aus
A-Stadt zu dem Ergebnis, dass als Unfallfolge anzuerkennen sei eine Läsion des Nervus occipitalis major links mit Sensibilitätsstörung
und neuropathischen Schmerzen. "Unter der Annahme, dass dieser Körperschaden ein Kopfschmerzsyndrom mittleren Schweregrades
verursacht", werde im Rahmen der privaten Unfallversicherung die unfallbedingte Beeinträchtigung der Leistungsfähigkeit mit
30 % bewertet.
Seit Januar 2011 bezieht der Kläger seitens der Deutschen Rentenversicherung Bund eine Erwerbsunfähigkeitsrente.
Mit zwei getrennten Widerspruchsbescheiden vom 18.02.2011 wies die Bekl. die Widersprüche gegen die Bescheide vom 29.07.2009
und vom 18.02.2011 zurück. Beide Widerspruchsbescheide wurden noch am selben Tage zur Post aufgegeben.
Gegen beide Widerspruchsbescheide vom 18.02.2011 hat der Prozessbevollmächtigte des Klägers am 22.03.2011 Klage beim Sozialgericht
(SG) Augsburg erhoben.
Das Gericht hat nach Beiziehung verschiedener Akten und Unterlagen den Neurologen und Psychiater Prof. Dr. Dr. W. zum Sachverständigen
bestellt. Dieser hat in seinem Gutachten vom 24.10.2011 mit ergänzender Stellungnahme vom 29.11.2011 ausgeführt, die durch
den Sturz aufgetretene Platzwunde habe zu Narbenkopfschmerzen geführt, welche vom Kläger ohne ärztliche Unterstützung und
Überprüfung mit den Medikamenten behandelt worden seien, welche sich im Medikamentenrepertoire der Ehefrau befunden hätten.
Die unkontrollierte Einnahme von Schmerzmedikamenten habe zu medikamenteninduzierten Kopfschmerzen geführt, welche ab Herbst
2007 anästhesiologisch-schmerz- therapeutisch behandelt worden seien. Dort sei entweder der Medikamentenabusus noch nicht
so evident gewesen oder nicht erkannt worden - jedenfalls sei dort die Medikation auf Opiate ausgeweitet worden. Diese Behandlung
mit unter anderem kurzwirkenden, nicht retardierten Opiaten wie Temgesic habe ab Sommer 2008 eine Opiatabhängigkeit mit ausgeprägtem
Suchtverhalten hervorgerufen. Eigene Versuche zur Reduktion des Opiatkonsums hätten in Depressionen und einer verstärkten
Schmerzentwicklung geendet. Ein Opiatentzug Anfang 2009 sei nur kurzfristig erfolgreich gewesen. Anlässlich eines weiteren
psychiatrischen Aufenthalts 2010 habe sich die Situation so weit verselbständigt, dass inzwischen auch das soziale Gefüge
zusammengebrochen war und der Kläger auch nicht mehr dauerhaft von Opiaten entzogen werden konnte. Unter dauerhafter Opiatsubstitution
und Trennung von der Ehefrau erscheine der Kläger auf niedrigem Niveau stabil, sei inzwischen berentet und zeige das typische
Bild eines langjährigen Abhängigkeitssyndroms (ICD-10 F11.2) mit Interesseverlust und Persönlichkeitsänderung. An Unfallfolgen
sei neben dem chronifizierten Abhängigkeitssyndrom mit Interesseverlust und Persönlichkeitsänderung ein medikamenteninduzierter
Kopfschmerz festzustellen. Mit überwiegender Wahrscheinlichkeit hätten diese Gesundheitsstörungen ohne das Ereignis vom 18.01.2006
nicht vorgelegen. Ein Vorschaden sei nicht nachweisbar. Als Schadensanlage habe mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit
eine zwanghaft-unsichere Persönlichkeit bestanden, es sei jedoch nicht ersichtlich, dass dieselben Gesundheitsstörungen auch
ohne das Unfallereignis des Jahres 2006 durch eine andere alltäglich vorkommende Verrichtung in derselben Zeit oder später
in demselben Ausmaß eingetreten wären. Die unfallbedingte Behandlungsbedürftigkeit dauere an. Auch über den 29.05.2009 hinaus
sei der Kläger unfallbedingt arbeitsunfähig. Die MdE betrage ab dem 30.05.2009 dauerhaft 40 v.H.
In der Stellungnahme vom 28.02.2012 hat sich der Beratungsarzt Prof. Dr. G. der Einschätzung des Gerichtssachverständigen
Prof. Dr. Dr. W. nicht angeschlossen.
Das SG hat daraufhin die Neurologin und Psychiaterin Dr. P.-U. zur Sachverständigen ernannt. Diese hat in ihrem Gutachten vom 18.09.2012
ausgeführt, der Kläger leide unter einer rezidivierenden depressiven Störung, zurzeit mittelschwer, bei überwiegend narzisstischer
Persönlichkeitsstörung, einer Agoraphobie mit Panikstörung, einem pathologischen Stehlen, einer Opiatabhängigkeit mit chronifiziertem
Kopfschmerz und einem Zustand nach Sturz mit folgenlos abgeheilter Commotio cerebri und okzipitaler Platzwunde. In der Familienanamnese
und der Sozialisationsgeschichte des Klägers fänden sich klassische Risikofaktoren für spätere Abhängigkeits- und affektive
Erkrankungen. Es sei bereits umstritten, ob es chronische Kopfschmerzen nach leichten Schädel-Hirn-Traumata überhaupt gebe.
Hartnäckige Kopfschmerzen nach einer unkomplizierten Commotio seien statistisch überwiegend durch psychologische Faktoren
mitbedingt. Unter pragmatischen Gesichtspunkten erscheine allenfalls eine temporäre Anerkennung von Kopfschmerzen als leichte
zentralvegetative Störung über einen Zeitraum von sechs bis zwölf Monaten möglich. Sekundär progrediente Kopfschmerzen - wie
beim Kläger - ließen stets Zweifel an einer organischen Unfallgenese aufkommen. Normalerweise könne von einem posttraumatischen
Kopfschmerz erst dann ausgegangen werden, wenn die Bewusstlosigkeit bzw. Amnesie mehr als zehn Minuten andauere. Darüber hinaus
müssten die klinisch-neurologischen Untersuchungen, die HWS-Diagnostik, der evoziierte potenziale Liquor, die Vestibularis-Funktionsteste
und die neuropsychologischen Untersuchungen auffällig sein. Dies sei beim Kläger nicht der Fall gewesen. Die Kopfschmerzen
klängen regelmäßig nach vierzehn Tagen ab. Infolgedessen erscheine der Erstbefund eines posttraumatischen Kopfschmerzes beim
Kläger unwahrscheinlich. Der durch Medikamente ausgelöste Kopfschmerz gehe - wie beim Kläger - typischerweise mit einem täglich
auftretenden dumpf drückenden und diffusen Dauerkopfschmerz einher. Infolgedessen sei anzunehmen, dass der Kläger durch den
Unfall vom 18.01.2006 eine Commotio cerebri mit Platzwunde im okzipitalen Bereich erlitten habe. Diese habe organisch eine
Schmerzsymptomatik mit leichteren vegetativen Beschwerden begründet, so dass ein Decrescendo-Verlauf zu erwarten gewesen sei.
So seien die Schmerzen auch anfangs rückläufig gewesen. Da der Kläger einer Belastung durch den Zeitdruck im Beruf ausgesetzt
gewesen sei und eine angespannte eheliche Situation sowie Sorgen um die Tochter bestanden hätten, sei es zur erneuten Manifestation
einer somatoformen Symptomatik gekommen, welche bereits Ende 2003/Anfang 2004 manifest gewesen sei. Parallel hierzu habe sich
rasch eine Medikamentenabhängigkeit entwickelt - der Kläger habe sich bei den Schmerzmedikamenten seiner Ehefrau bedient und
den "Kick" der Opioide genossen -, die als solche zur Entstehung und Aufrechterhaltung der Kopfschmerzen einen wesentlichen
Beitrag geleistet habe. Schon im Frühjahr 2006 bzw. 2007 sei eine Verschiebung der Wesensgrundlage eingetreten. Spätestens
jedoch nach dem ersten vollständigen Entzug im Frühjahr 2009 und der Entlassung aus dem Bezirkskrankenhaus K. im Mai 2009
träten andere Faktoren für die bestehenden Gesundheitsstörungen völlig in den Vordergrund. Die schwere affektive Störung in
Verbindung mit der schweren, den Alltag beeinträchtigenden Angsterkrankung und einer Impulskontrollstörung sei in keiner Weise
mit dem leichten Schädel-Hirn-Trauma in Verbindung zu bringen, sondern unfallunabhängig aus der Dekompensation eines vorher
schon labilen psychischen Gleichgewichts entstanden. Ab 30.05.2009 lägen keine Unfallfolgen mehr vor.
Der Kläger hat erstinstanzlich beantragt,
die Beklagte unter Aufhebung der Bescheide vom 29.07.2009 und 05.02.2010 in der Gestalt der Widerspruchsbescheide vom 18.02.2011
zu verurteilen, ihm unter Feststellung einer psychischen Erkrankung, Depression mittleren Schweregrades, und einer Medikamentenabhängigkeit
als Unfallfolgen über den 29.05.2009 hinaus eine Verletztenrente nach einer MdE von mindestens 20 v.H. infolge des Arbeitsunfalls
vom 18.01.2006 zu gewähren.
Das SG hat mit Gerichtsbescheid vom 24.10.2012 (Az. S 5 U 81/11) die Klage gegen die Bescheide vom 29.07.2009 und 05.02.2010 in Gestalt der Widerspruchsbescheide vom 18.02.2011 abgewiesen.
Die zulässige Klage sei unbegründet. Das SG hat sich hierzu dem Gutachten der Sachverständigen P.-U. angeschlossen. Der Unfall habe lediglich zu einer Commotio mit Platzwunde
im okzipitalen Bereich geführt.
Der Kläger hat gegen den Gerichtsbescheid des SG, der ihm am 31.10.2012 zugestellt worden war, am 29.11.2012 beim Bayerischen Landessozialgericht (LSG) Berufung eingelegt.
Das LSG hat auf Antrag des Klägers den Leiter der Abteilung für Forensische Psychiatrie und Psychotherapie der am BKR, Prof.
Dr. C., zum Sachverständigen bestellt, der in seinem Gutachten vom 14.01.2015 ausgeführt hat, der Arbeitsunfall vom 18.01.2006
habe lediglich eine Commotio cerebri mit Platzwunde im okzipitalen Bereich verursacht. Insbesondere sei der Sachverständigen
Dr. P.-U. zu folgen dahingehend, dass die unfallbedingten Gesundheitsstörungen zu einer Schmerzsymptomatik mit leichteren
vegetativen Beschwerden führten, die allerdings rückläufig waren. Vor dem Hintergrund einer besonderen beruflichen Belastungssituation
und auch familiärer Spannungen sei es zu einer somatoformen psychischen Reaktion gekommen (ca. Anfang 2004), die im Wesentlichen
eine depressive Symptomatik zeigte. Spätestens ab Mitte 2009 seien unfallfremde Ursachen für die Entstehung und Aufrechterhaltung
der depressiven Störung aus psychiatrischer Sicht anzunehmen. Es sei nicht davon auszugehen, dass die unfallbedingten Kopfschmerzen
zur unkontrollierten Einnahme von Schmerzmitteln geführt haben. Ein möglicherweise nicht ausschließbares Suchtverhalten würde
somit in der Persönlichkeitsstruktur des Klägers liegen bzw. gründe sich nicht zwangsläufig auf das Unfallgeschehen, sondern
vielmehr auf seine persönlich-soziale und familiäre Belastungssituation. Unstrittig ist nach Auffassung des Sachverständigen,
dass sich der Kläger spätestens seit 2009 nicht mehr in psychiatrischer Behandlung befand, sondern dass spätestens zu diesem
Zeitpunkt auch ein aktuell weiter bestehendes mittelgradiges depressives Syndrom bestand. Es könne somit unter anderem auch
im Einklang mit der Stellungnahme von Dr. N. davon ausgegangen werden, dass diejenigen psychischen Faktoren, die das Krankheitsbild
der Unfallfolgen maßgeblich beeinflussten, als psychische Reaktion auf das Unfallereignis und die Folgen aufzufassen seien,
dass aber eine unfallbedingte Hirnschädigung als Ursache hierfür ausgeschlossen werden könne. Es sei somit diagnostisch weiterhin
davon auszugehen, dass beim Kläger eine Anpassungsstörung in Form einer "reaktiven Depression" (ICD-10: F 43.21) vorliege;
des Weiteren eine geringfügige Dysthymie mit somatoformer Störung und eine kombinierte Persönlichkeitsstörung. Unter der Annahme,
dass die vorgenannten psychiatrischen Diagnosen im Kontext des ursächlichen Sturzgeschehens psychoreaktive Folgeerscheinungen
nach sich zogen, die sich offensichtlich auch unter Behandlung nur unzureichend zurückbildeten, sei von einer generellen unfallbedingten
Beeinträchtigung der Leistungsfähigkeit von 30 v.H. auszugehen.
In seiner ergänzenden Stellungnahme vom 06.07.2015 hat der Sachverständige Prof. Dr. C. nochmals betont, dass es zu einer
Depression als reaktive Folge auf das Unfallgeschehen gekommen sei, dass aber spätestens ab Mitte 2009 unfallfremde Ursachen
für die Aufrechterhaltung der depressiven Störung anzunehmen gewesen seien.
In der mündlichen Verhandlung vom 09.12.2015 hat der Kläger seine aktuellen Beschwerden geschildert. Er nehme dauerhaft retardierte
Opiate ein, nämlich Morphin 2 x 60 mg, bei Bedarf unterstützt durch Voltaren plus. Ferner nehme er morgens und abends Antidepressiva
ein. Bezüglich des Morphins bestehe eine Abhängigkeit, jedoch ohne Suchtverhalten. Er leide unter Schlafstörungen, Konzentrationsschwierigkeiten,
Depression, Menschenscheue, Kopfschmerzen unterschiedlichen Grades sowie einer Essstörung. Die Führung eines Kraftfahrzeugs
sei ihm nicht mehr möglich.
Der Kläger hat in der mündlichen Verhandlung weiter angegeben, dass das ihm in Bad M. verabreichte, schnell wirkende Opiat
damals zu starkem Suchtverhalten geführt habe. Auf die Niederschrift der Sitzung wird verwiesen.
Der Kläger und Berufungskläger beantragt,
die Beklagte unter Aufhebung des Gerichtsbescheides des Sozialgerichts Augsburg vom 24.10.2012 und des Bescheides der Beklagten
vom 29.07.2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18.02.2011 und in Abänderung des Bescheides vom 05.02.2010 in
der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18.02.2011 zu verurteilen, dem Kläger eine Verletztenrente als Folge des Arbeitsunfalles
vom 18.01.2006 ab 01.01.2009 nach einer MdE von 40 v. H., mindestens jedoch 20 v. H., zu gewähren.
Die Beklagte und Berufungsbeklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Zur Ergänzung des Tatbestands wird auf die Prozessakten beider Rechtszüge sowie auf die beigezogene Akte der Beklagten verwiesen.
Entscheidungsgründe
Die Berufung ist zulässig, insbesondere wurde sie form- und fristgerecht eingelegt (§§
143,
151 Sozialgerichtsgesetz -
SGG). Die Berufung bedarf gemäß §
144 SGG keiner Zulassung.
Die Berufung ist begründet. Zu Unrecht hat das SG die Klage abgewiesen, soweit sie auf Zahlung einer Verletztenrente ab dem 01.01.2009 und Aufhebung bzw. Abänderung der entgegenstehenden
Bescheide vom 29.07.2008 und vom 05.02.2010, jeweils in Gestalt des entsprechenden Widerspruchsbescheides vom 18.02.2011,
gerichtet war. Die Klage ist insoweit zulässig als kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage nach §
54 Abs.
1 in Verbindung mit Abs.
5 SGG hinsichtlich der Verurteilung zur Zahlung einer höheren Verletztenrente nach einer MdE von 40 statt 20 v.H. für die Zeit
vom 01.01.2009 bis zum 29.05.2009 und zur Zahlung einer Verletztenrente nach einer MdE von 40 v.H. über den 29.05.2009 hinaus.
Die Klage ist auch begründet. Der Kläger hat aufgrund des Arbeitsunfalls vom 18.01.2006 seit dem 01.01.2009 durchgängig Anspruch
auf Verletztenrente nach einer MdE von 40 v.H. Anspruch auf Verletztenrente haben Versicherte nach §
56 Abs.
1 Satz 1
SGB VII, wenn ihre Erwerbsfähigkeit infolge eines Versicherungsfalls über die 26. Woche nach dem Versicherungsfall hinaus um wenigstens
20 v.H. gemindert ist. Gemäß §
56 Abs.
2 SGB VII richtet sich die MdE nach dem Umfang der sich aus der Beeinträchtigung des körperlichen und geistigen Leistungsvermögens
ergebenden verminderten Arbeitsmöglichkeiten auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens. Weiter regelt §
56 Abs.
3 SGB VII, dass bei Verlust der Erwerbsfähigkeit Vollrente und bei einer MdE Teilrente geleistet wird, die in der Höhe des Vomhundertsatzes
der Vollrente festgesetzt wird, der dem Grad der MdE entspricht.
Der Senat schließt sich dem Gutachten des Sachverständigen Prof. Dr. Dr. W. an. Demnach hat der Arbeitsunfall, vermittelt
über eine iatrogene Medikamentenabhängigkeit und einen damit einhergehenden iatrogenen Kopfschmerz, als wesentliche Unfallfolge
zu einem chronifizierten Abhängigkeitssyndrom mit Interessenverlust und Persönlichkeitsänderung geführt, was mit einer MdE
von 40 v.H. zu bewerten ist.
Welche Gesundheitsstörungen dem Unfallversicherungsträger als Unfallfolgen zuzurechnen sind, ist nach der Theorie von der
wesentlichen Bedingung zweistufig zu prüfen (ständige Rechtsprechung, vergleiche zum Beispiel BSG, Urteil vom 24.07.2012 Az. B 2 U 9/11 R, Rdnrn. 31 ff.):
Auf der ersten Stufe setzt die Zurechnung voraus, dass die Einwirkung durch die versicherte Verrichtung als Wirkursache objektiv
(mit)verursacht wurde. Insoweit ist Ausgangspunkt der Zurechnung die naturwissenschaftlich-philosophische Bedingungstheorie,
nach der schon jeder beliebige Umstand als notwendige Bedingung eines Erfolges gilt, der nicht hinweggedacht werden kann,
ohne dass der Erfolg entfiele (Conditio-sine-qua-non). Nach der im Strafrecht maßgeblichen rechtlichen Zurechnungslehre der
"Äquivalenztheorie" gelten alle solchen notwendigen Bedingungen stets als gleichwertig (äquivalent) und deshalb schon rechtlich
als Ursachen (BSG, Urteil vom 13.11.2012 Az. B 2 U 19/11 R = BSGE 112, 177, Rdnr. 34). Wenn festzustellen ist, dass der Versicherungsfall eine (von möglicherweise vielen) Bedingungen für den Erfolg
ist, ist auf der ersten Prüfungsstufe weiter zu fragen, ob es für den Eintritt des Erfolgs noch andere Ursachen im Sinne der
naturwissenschaftlich-philosophischen Bedingungstheorie gibt; das können Bedingungen aus dem nicht versicherten Lebensbereich
wie z. B. Vorerkrankungen, Anlagen, nicht versicherte Betätigungen oder Verhaltensweisen sein (BSG vom 09.05.2006 Az. B 2 U 1/05 R = BSGE 96, 196, Rdnr. 15).
Erst wenn sowohl der Versicherungsfall als auch andere Umstände als Ursachen des Gesundheitsschadens feststehen, ist auf einer
zweiten Prüfungsstufe rechtlich wertend zu entscheiden, welche der positiv festzustellenden adäquaten Ursachen für die Gesundheitsstörung
die rechtlich "wesentliche" ist. Hierzu muss auf der zweiten Stufe die Wirkung rechtlich unter Würdigung auch aller auf der
ersten Stufe festgestellten mitwirkenden unversicherten Ursachen die Realisierung einer in den Schutzbereich des jeweils erfüllten
Versicherungstatbestandes fallenden Gefahr sein. Hierbei ist zu prüfen, ob sich durch das versicherte Handeln ein Risiko verwirklicht
hat, gegen das der jeweils erfüllte Versicherungstatbestand gerade Schutz gewähren soll (BSG, Urteil vom 13.11.2012 Az. B 2 U 19/11 R = BSGE 112, 177, Rdnr. 37). Für die wertende Entscheidung über die Wesentlichkeit einer Ursache hat die Rechtsprechung folgende Grundsätze
herausgearbeitet (BSG, Urteil vom 09.05.2006 Az. B 2 U 1/05 R, Rdnr. 15): Es kann mehrere rechtlich wesentliche Mitursachen geben. Sozialrechtlich ist allein relevant, ob das Unfallereignis
wesentlich war. Ob eine konkurrierende Ursache es war, ist unerheblich. "Wesentlich" ist nicht gleichzusetzen mit "gleichwertig"
oder "annähernd gleichwertig". Auch eine nicht annähernd gleichwertige, sondern rechnerisch verhältnismäßig niedriger zu bewertende
Ursache kann für den Erfolg rechtlich wesentlich sein, solange die andere(n) Ursache(n) keine überragende Bedeutung hat (haben)
(BSG, SozR Nr. 69 zu § 542
RVO a.F.; BSG, SozR Nr. 6 zu § 589
RVO; Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 8. Aufl. 2010, Kap. 1.5 S. 22 ff.). Ist jedoch eine Ursache
oder sind mehrere Ursachen gemeinsam gegenüber einer anderen von überragender Bedeutung, so ist oder sind nur die erstgenannte(n)
Ursache(n) "wesentlich" und damit Ursache(n) im Sinne des Sozialrechts (BSGE 12, 242, 245 = SozR Nr. 27 zu § 542
RVO; BSG, SozR Nr. 6 zu § 589
RVO). Die andere Ursache, die zwar naturwissenschaftlich ursächlich ist, aber (im zweiten Prüfungsschritt) nicht als "wesentlich"
anzusehen ist und damit als Ursache nach der Theorie der wesentlichen Bedingung und im Sinne des Sozialrechts ausscheidet,
kann in bestimmten Fallgestaltungen als "Gelegenheitsursache" oder Auslöser bezeichnet werden (BSGE 62, 220, 222 f.; BSG SozR 2200 § 548 Nr. 75; BSGE 94, 269 Rdnr. 11). Für den Fall, dass die kausale Bedeutung einer äußeren Einwirkung mit derjenigen einer bereits vorhandenen krankhaften
Anlage zu vergleichen und abzuwägen ist, ist darauf abzustellen, ob die Krankheitsanlage so stark oder so leicht ansprechbar
war, dass die "Auslösung" akuter Erscheinungen aus ihr nicht besonderer, in ihrer Art unersetzlicher äußerer Einwirkungen
bedurfte, sondern dass jedes andere alltäglich vorkommende Ereignis zu derselben Zeit die Erscheinung ausgelöst hätte (BSGE
62, 220, 222 f.; BSGE 94, 269 Rdnr. 11).
Für den Zusammenhang zwischen Unfall und Gesundheitsschaden genügt eine hinreichende Wahrscheinlichkeit; diese liegt vor,
wenn nach der medizinisch-wissenschaftlichen Lehrmeinung zu Ätiologie und Pathogenese den für den Zusammenhang sprechenden
Umständen ein deutliches Übergewicht zukommt.
Zur Anerkennung einer psychischen Störung als Unfallfolge ist eine exakte Diagnose der Krankheit nach einem der international
anerkannten Diagnosesysteme (ICD-10; DSM-IV) erforderlich. Ein Kausalzusammenhang zwischen einem Arbeitsunfall und einer seelischen
Krankheit kann nur bejaht werden, wenn nach dem aktuellen medizinischen Erkenntnisstand ein Unfallereignis oder Unfallfolgen
der in Rede stehenden Art allgemein geeignet sind, die betreffende Störung hervorzurufen (BSGE 96, 196). Allerdings schließt auch eine "abnorme seelische Bereitschaft" die Bewertung einer psychischen Reaktion als Unfallfolge
nicht aus (BSG, Urteil vom 09.05.2006 Az. B 2 U 40/05 R, Rdnr. 11 bei [...]).
Nach diesen Grundsätzen hat der Sachverständige Prof. Dr. Dr. W. in seinem Gutachten vom 24.10.2011 überzeugend dargelegt,
dass sich ein chronisches Abhängigkeitssyndrom mit Interessenverlust und Persönlichkeitsänderung (ICD-10 F 11.2) sowie ein
medikamenteninduzierter Kopfschmerz als wesentliche Unfallfolgen nachweisen lassen.
Hierzu sind auf der ersten Stufe der Zurechnung folgende Kausalverläufe für Wirkursachen im Sinne einer Conditio-sine-qua-non
festzustellen: Zunächst führte der Unfall zu Kopfschmerzen, die vom Kläger mithilfe der Schmerzmittel seiner krebskranken
Ehefrau eigenbehandelt wurden. Die unkontrollierte Einnahme von Schmerzmitteln führte zu medikamenteninduzierten Kopfschmerzen.
Diese Kopfschmerzen wurden dann ab Herbst 2007 anästhesiologisch-schmerztherapeutisch behandelt, wobei die Medikation auf
Opiate ausgeweitet wurde. Diese Feststellung wird gestützt durch den Bericht des Klinikums A-Stadt vom 28.12.2007, wo der
Kläger angegeben hatte, von den Schmerztherapeuten Dres. B. und S. in M. insbesondere Tramadol, ein Opioid, verschrieben zu
bekommen. Die Behandlung wurde dann auf kurz wirkende, nicht retardierte Opiate wie Temgesic ausgeweitet und führte ab Sommer
2008 zur Opiatabhängigkeit mit ausgeprägtem Suchtverhalten. Eigene Versuche zur Reduktion des Opiatkonsums endeten in Depressionen
und verstärkter Schmerzentwicklung. In der Schmerzklinik am A. in Bad M. im August/September 2008 erfolgte die Umstellung
von einem Opiat auf ein retardiertes Morphin. In der Schmerzambulanz der Zentralen Anästhesieabteilung des Klinikums K.-O.
wurde am 22.10.2008 eine Medikation mit Morphin weiter empfohlen. Erst im Jahre 2009 wurde die erste stationäre Entziehung
durchgeführt. Die Kausalkette von unfallbedingtem Kopfschmerz über den Medikamentenmissbrauch zum medikamentenbedingten Kopfschmerz
und zur Medikamentenabhängigkeit wird auch von der Sachverständigen Dr. P.-U. so gesehen. Der Kläger war jedoch bis zum ersten
Entzug im Jahre 2009 bereits so tief in die Opiatabhängigkeit geraten, dass die zahlreichen mehrmonatigen stationären Behandlungen
in den Jahren 2009 und 2010 bis Anfang 2011 einen dauerhaften Entzug von den Opiaten nicht mehr bewirken konnten. Das soziale
Gefüge des Klägers ist zusammengebrochen, er lebt von seiner Familie getrennt und erscheint nach der Formulierung des Sachverständigen
Prof. Dr. Dr. W. "auf niedrigem Niveau stabil", nachdem er inzwischen berentet wurde und eine Dauermedikation insbesondere
mit retardiertem Morphin und Antidepressiva erhält. Damit hat Prof. Dr. Dr. W. die Kausalkette beginnend vom eigenen Medikamentenmissbrauch
über die ärztliche Verordnung von Opiaten, die auch nicht retardiert waren, bis hin zu Morphium und nach Fehlschlag mehrfacher
stationärer Entziehungsversuche den Weg in ein chronifiziertes Abhängigkeitssyndrom mit Interessenverlust und Persönlichkeitsänderung
sowie medikamenteninduziertem Kopfschmerz überzeugend dargelegt.
Als weitere Wirkursache im Sinne einer Schadensanlage hat der Sachverständige Prof. Dr. Dr. W. eine zwanghaft-unsichere Persönlichkeit
festgestellt. Die Sachverständige Dr. P.-U. hat als weitere Schadensanlage eine narzisstische Persönlichkeitsstörung diagnostiziert.
Darüber hinaus litt der Kläger unter erheblichen familiären Belastungen und Sorgen. Seine Ehefrau litt seit vielen Jahren
unter Morbus Crohn und seit einigen Jahren zusätzlich unter Darmkrebs, der im Jahre 2003 operiert wurde, wobei der Kläger
damals aufgrund der Belastung mit der lebensgefährdenden Erkrankung seiner Ehefrau und einem gleichzeitig durchgeführten Hausbau
einen Hörsturz erlitt. Der Kläger musste seit der Operation seiner Ehefrau, bei der diese einen künstlichen Ausgang erhalten
hatte, zuhause viele Hausarbeiten übernehmen. Daneben hatte er eine sehr anspruchs- und verantwortungsvolle Aufgabe als Bauleiter,
die ihn sehr forderte, neben der Erziehung seiner zwei Töchter.
Auch auf der zweiten Stufe ist die Opiatabhängigkeit und das dadurch bedingte chronifizierte Abhängigkeitssyndrom in Verbindung
mit medikamenteninduziertem Kopfschmerz als wesentliche Unfallfolge wertend festzustellen. Insoweit ist der Schutzzweck der
Norm zu berücksichtigen, und dabei ist der Unfall als Wirkursache gegen die konkurrierenden weiteren Wirkursachen wertend
abzuwägen. Dabei ist sicherlich zuzugeben, dass ohne eine Vorbelastung seiner Persönlichkeit und ohne die extreme familiäre
Belastung die über den durch Selbstmedikation eingeleiteten Medikamentenmissbrauch begonnene Kausalkette nicht entstanden
wäre. Die Persönlichkeitsstruktur des Klägers, gleich ob man diese mit Prof. Dr. Dr. W. als zwanghaft-unsicher oder mit Dr.
P.-U. als narzisstisch bezeichnet, stellt deshalb in Verbindung mit den familiären Sorgen als weiteren unfallfremden Faktoren
mit Sicherheit eine weitere Wirkursache dar, die selbst auch wesentlich ist. Allerdings schließt nach der oben zitierten Rechtsprechung
das Vorhandensein weiterer unversicherter wesentlicher Ursachen nicht die Wesentlichkeit des Unfalls als Mitursache aus. Hierfür
wäre vielmehr erforderlich, dass die nicht versicherten Ursachen von überragender Bedeutung wären. Dies kann jedoch nicht
festgestellt werden. Insbesondere lässt sich nicht feststellen, dass die unfallfremden Ursachen auch ohne den versicherten
Unfall zum gleichen Schadensbild geführt hätten. Eine solche Feststellung ist jedoch nicht möglich, und die Beweislast geht
auf dieser Stufe zulasten der Beklagten. Prof. Dr. Dr. W. hat hierzu überzeugend festgestellt, dass trotz Vorliegens einer
zwanghaft-unsicheren Persönlichkeit nicht ersichtlich sei, dass dieselben Gesundheitsstörungen auch ohne das Unfallereignis
des Jahres 2006 durch eine andere alltäglich vorkommende Verrichtung in derselben Zeit oder später in demselben Ausmaß eingetreten
wären.
Auch die Tatsache, dass Ausgangspunkt der Suchtentwicklung ein Medikamentenmissbrauch durch den Kläger selbst war, vermag
auf der zweiten Stufe der Zurechnungsprüfung nicht zur Verneinung der Wesentlichkeit zu führen. Zwar kann ein eigenverantwortlicher
Willensentschluss, auf den die weitere Entwicklung der Unfallfolgen zurückgeht, die Zurechnung nachfolgender Gesundheitsstörungen
unterbrechen. In diesem Zusammenhang liegt bei Schmerzmittelmissbrauch die Wesentlichkeit der darauf zurückgehenden weiteren
Unfallfolgen insbesondere dann nicht vor, wenn allein wesentliche Bedingung der Schmerzmitteleinnahme der eigene, nicht wegen
unfallbedingter Schmerzen nachvollziehbare Entschluss zur Einnahme dieser Mittel war (Keller in: Hauck/ Noftz,
SGB VII K §
8 Rdnr. 310a). Diese Voraussetzungen können jedoch im vorliegenden Fall nicht festgestellt werden. Vielmehr war die Entwicklung
zum Medikamentenmissbrauch in der Situation des Klägers unter Berücksichtigung seiner Persönlichkeitsstruktur und der massiven
Belastungen, denen er ausgesetzt war, nachvollziehbar, so dass nicht davon die Rede sein kann, dass der Medikamentenmissbrauch
auf einem freien eigenverantworteten Willensentschluss des Klägers beruhte. Der Kläger litt zum einen, wie insbesondere die
Sachverständige Dr. P.-U. herausgearbeitet hat, unter einer Persönlichkeitsstruktur, bei der es für ihn zur Regulation des
Selbstwertgefühls wichtig war, durch Leistungsbereitschaft ständig Bestätigung zu erhalten. Unter Berücksichtigung dieser
Veranlagung erscheint es nachvollziehbar, dass er durch den Unfall und die dadurch bewirkten Kopfschmerzen, die selbst nach
der Auffassung der Sachverständigen Dr. P.-U. rein organisch 6 bis 12 Monate hätten andauern können, in große Konflikte geriet
angesichts der hohen Anforderungen seines verantwortungsvollen Berufes als Bauleiter, in dem er sich keinen Fehler leisten
konnte, und seinen Belastungen in der Familie, die nicht nur in Sorgen um die krebskranke Frau bestanden, sondern auch in
der täglichen Mithilfe in der Hausarbeit. Welche Bedeutung und welches Ausmaß diese Mithilfe des Klägers zuhause hatten, beweisen
die verzweifelten Schreiben der Ehefrau Anfang 2009 an die Beklagte, als die Ehefrau eine Haushaltshilfe beantragte für die
Zeit des stationären Entzugs, zu dem sich der Kläger ins Bezirksklinikum K. begeben hatte. Da der Kläger also schon rein objektiv
hohen beruflichen und familiären Belastungen ausgesetzt war, zudem aufgrund seiner Persönlichkeit auch kaum in der Lage war,
eine Leistungseinbuße hinzunehmen, und schließlich der Medikamentenschrank seiner krebskranken Ehefrau für ihn jederzeit zugänglich
war, kann nicht davon die Rede sein, dass der Weg in die Medikamentenabhängigkeit in die eigene Verantwortung des Klägers
fiel, vielmehr handelte es sich um eine Verkettung ungünstiger Umstände, die vom Kläger nicht persönlich zu verantworten war
und die es rechtfertigt, die Entwicklung der Schmerzmittelabhängigkeit und damit auch des medikamenteninduzierten Kopfschmerzes
dem Unfall zuzurechnen, zumal die Beklagte selbst diese Unfallfolgen mit Bescheid vom 14.07.2008 für die Zeit bis zum 31.12.2008
und mit Bescheid vom 05.02.2010 bis zum 29.05.2009 anerkannt hat. Darüber hinaus ist insoweit zu berücksichtigen, dass die
spätere Entwicklung zur Opiatabhängigkeit, die dann auch trotz zweifacher mehrmonatiger stationärer Entziehungskuren nicht
zu beheben war, teilweise durch die von der Beklagten gewährte Heilbehandlung mitverursacht und deshalb auch gemäß §
11 Abs.
1 Nr.
1 SGB VII der Beklagten zuzurechnen war. Der Kläger erhielt nämlich seit Herbst 2007 im Rahmen der von der Beklagten gewährten Heilbehandlung
Opiate verschrieben, und zwar auch kurz wirkende, nicht retardierte Opiate wie Temgesic, die ab Sommer 2008 zu einer Opiatabhängigkeit
mit ausgeprägtem Suchtverhalten führten. In der Schmerzklinik Bad M. im August/September 2008 erfolgte dann die Verordnung
von Morphium. Auch dies bedeutet, dass die eingetretene Medikamentenabhängigkeit nicht in die eigene Verantwortung des Klägers
fiel.
Des Weiteren ist davon auszugehen, dass die Behandlung der Schmerzen bzw. der Medikamentenabhängigkeit jahrelang nicht sachgerecht
erfolgte. So diagnostizierte der Sachverständige Dr. H. in seinem Gutachten für die Deutsche Rentenversicherung Bund vom 28.07.2010
eine iatrogene Opioidabhängigkeit und stellte fest, dass bislang eine stationäre medizinische Rehabilitationsmaßnahme in einer
psychosomatisch orientierten Klinik nicht stattgefunden hatte. Er monierte, dass die Behandlung bislang ausschließlich psychiatrisch
im Bezirkskrankenhaus K. und A-Stadt sowie anästhetisch-schmerztherapeutisch erfolgt ist. In diesem Zusammenhang wird darauf
hingewiesen, dass etwa am Abschlussbericht der Schmerzklinik am A. in Bad M. vom 21.10.2008 auffällt, dass dort auf zwölf
Seiten die Möglichkeit eines medikamenteninduzierten Kopfschmerzes nicht einmal erwähnt wurde. Wenn man weiter mit dem Gutachten
insbesondere der Sachverständigen Dr. P.-U. davon ausgeht, dass psychosomatische Faktoren bei der Entwicklung der Medikamentenabhängigkeit
bzw. des Suchtverhaltens eine maßgebliche Rolle spielten, so erstaunt es, dass bis zum Gutachten des Sachverständigen Dr.
H. vom 28.07.2010 noch keine stationäre Behandlung in einer psychosomatischen Klinik stattgefunden hatte, bis zu einem Zeitpunkt
also, zu dem sich die Opiatabhängigkeit des Klägers bereits irreversibel verfestigt hatte. Auch diese Tatsache führt bei der
wertenden Abwägung der versicherten und der nicht versicherten Wirkursachen dazu, die Wesentlichkeit des Unfalls als Wirkursache
zu bejahen.
Schließlich ist es auch nicht zu einer Verschiebung der Wesensgrundlage gekommen. Auch wenn sich ein Unfall zunächst als wesentlich
ursächlich für eine Gesundheitsstörung erwiesen hat, kann sich dies im zeitlichen Verlauf ändern, obwohl der objektive Befund
gleich bleibt. Eine solche "Verschiebung der Wesensgrundlage" liegt vor, wenn zwar der objektive Befund im zeitlichen Verlauf
unverändert geblieben ist, seine wesentliche Ursache aber nicht mehr in der schädigenden Wirkung der Unfallrestfolgen, sondern
in anderen unfallunabhängigen Umständen hat (Schönberger/ Mehrtens/ Valentin, aaO., S. 112). Eine Verschiebung der Wesensgrundlage
kann bei psychoreaktiven Störungen insbesondere dann vorliegen, wenn im weiteren zeitlichen Verlauf Begehrensvorstellungen
oder sonstige aus der Psyche heraus wirkende Kräfte so weit in den Vordergrund getreten sind, dass sie für den weiteren Verlauf
die rechtlich allein noch wesentliche Ursache bilden (BSG, Urteil vom 29.11.1963 Az. 2 RU 46/58 Rdnr. 33 bei [...]). Eine Verschiebung der Wesensgrundlage ist aus zwei verschiedenen Gründen denkbar: Erstens kann es sein,
dass ab einem bestimmten Zeitpunkt das Unfallereignis nicht einmal mehr im Sinne einer Conditio-sine-qua-non wirksam ist,
zweitens ist es möglich, dass dem Unfallereignis ab einem bestimmten Zeitpunkt als Wirkursache die Wesentlichkeit abzusprechen
ist. Das Gutachten der Sachverständigen Dr. P.-U. macht nicht ganz klar, aufgrund welcher dieser Varianten sie eine Verschiebung
der Wesensgrundlage annimmt. Die Ausführungen in ihrem Gutachten vom 18.09.2012 legen jedoch nahe, dass sie die von ihr angenommene
Verschiebung der Wesensgrundlage darin sieht, dass die Wesentlichkeit des Unfalls als Wirkursache nicht mehr gegeben ist,
dass sie also das weitere Vorliegen der Ursächlichkeit des Unfalls im Sinne einer Conditio-sine-qua-non nicht verneint. Die
Sachverständige stellt nämlich fest, dass die festgestellten Gesundheitsstörungen mit hinreichender Wahrscheinlichkeit auch
ohne den Arbeitsunfall durch eine andere alltäglich vorkommende Verrichtung zu derselben Zeit oder in naher Zukunft in demselben
Ausmaß eingetreten wären und sich entsprechend verschlimmert hätten (S. 48 f. des Gutachtens). Dies hat sie begründet mit
der Belastungssituation des Klägers in seiner frühen Kindheit und deren Bedeutung für seine spätere Leistungsbezogenheit im
Sinne einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung. Hierfür seien die Störungen des Klägers, zu denen auch eine Angststörung
und ein später eingetretenes pathologisches Stehlen gekommen seien, typisch, ebenso wie die festgestellten Depressionen, da
es bei einer narzisstisch akzentuierten Persönlichkeitsstörung jederzeit zu depressiven Dekompensationen kommen könne, wenn
durch äußere Faktoren die selbstwertstabilisierenden Kompensationsmechanismen (wie zum Beispiel Einsatz, Leistungsbereitschaft
und andere Möglichkeiten der Selbstbestätigung) wegbrächen.
Zur Verschiebung der Wesensgrundlage in diesem Sinne ist es nach Ansicht der Sachverständigen im Zeitraum zwischen Frühjahr
2006 und 2007 gekommen; spätestens nach dem ersten vollständigen Entzug im Frühjahr 2009 und nach der Entlassung aus dem Bezirkskrankenhaus
K. im Mai 2009 seien andere Faktoren völlig in den Vordergrund getreten. Diese Feststellungen der Sachverständigen Dr. P.-U.
haben den Senat trotz der ansonsten hohen Qualität des Gutachtens nicht überzeugt. Es kann - und hierin ist dem Sachverständigen
Prof. Dr. Dr. W. zuzustimmen - schlichtweg nicht mit der erforderlichen hinreichenden Sicherheit gesagt werden, dass es ohne
den Unfall vom 18.01.2006 und die dadurch ausgelösten Kopfschmerzen zu einer ähnlichen Entwicklung durch andere Ereignisse
gekommen wäre, nur weil der Kläger die bereits dargelegte Vorbelastung hatte. Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass der Kläger
bereits etliche Jahre die gleiche Belastung ohne vergleichbare Probleme gemeistert hatte. Der Hörsturz im Jahr 2003 war einer
damals extremen Aufgipfelung von Belastungen aufgrund der akuten Krebserkrankung und Krebsoperation seiner Ehefrau mit gleichzeitigem
Hausbau geschuldet. Einer derart hohen familiären Belastung war der Kläger jedoch seitdem bis zu seinem Unfall am 18.01.2006
nicht mehr ausgesetzt. Auch war der Hörsturz in seinen Auswirkungen mit der durch den Arbeitsunfall von 2006 verursachten
Suchterkrankung in keiner Weise vergleichbar. Auch zeigt gerade das Ereignis aus dem Jahr 2003, dass der Kläger auf Belastungen
nicht immer gleich reagiert: Damals erfolgte die "Somatisierung" in den Hörsturz (wenn man einmal unterstellt, dass der Hörsturz
psychosomatische Ursachen hatte), während der Unfall 2006 mit der Kopfverletzung in die Medikamentenabhängigkeit führte. Ein
anderes stark belastendes Ereignis hätte den Kläger vielleicht auch massiv beeinträchtigt, aber dass dies erstens spätestens
bis zum Jahr 2009 mit Sicherheit erfolgt wäre und dass dies zweitens zu einer Suchterkrankung mit Opiatabhängigkeit geführt
hätte, muss als reine Spekulation bezeichnet werden. Ebenso gut wäre es möglich gewesen, dass der Kläger die vergangenen Jahre
- eventuell mit nur geringeren Beschwerden oder auch in der Zwischenzeit gefundenen Hilfestellungen - mehr oder weniger gemeistert
hätte, und selbst dann, wenn er eine psychosomatische Erkrankung entwickelt hätte, hätte dies eine Krankheit ganz anderer
Art sein können, wie etwa Rückenschmerzen etc.
Dass das Gutachten der Sachverständigen Dr. P.-U. das Gutachten des Sachverständigen Prof. Dr. C., jedenfalls nach Klarstellung
durch die ergänzende Stellungnahme vom 06.07.2015, bestätigt wurde, war für den Senat nicht von ausschlaggebender Bedeutung.
Das Gutachten des Prof. Dr. C. war nicht für den Senat überzeugend und in seiner ursprünglichen Fassung auch voller innerer
Widersprüche.
Keine Zweifel bestehen an der Richtigkeit der Bewertung der Unfallfolgen durch den Sachverständigen Prof. Dr. Dr. W. mit einer
MdE von 40 v.H., zumal Prof. Dr. Dr. W. sich korrekt und nachvollziehbar auf die Fachliteratur wie auf Schönberger/ Mehrtens/
Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, aaO. bezieht und die Auswirkungen der Gesundheitsstörungen auf die Erwerbsfähigkeit
des Klägers maximal hoch sind, ganz abgesehen von den hier nicht relevanten Folgen für sein Privatleben.
Die Kostenentscheidung beruht auf §
193 SGG.
Die Revision ist nicht zuzulassen, da weder die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat noch das Urteil von einer Entscheidung
des Bundessozialgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht
und auf dieser Abweichung beruht (§
160 Abs.
2 Nrn. 1 und 2
SGG).