Anerkennung eines Arbeitsunfalls in der gesetzlichen Unfallversicherung; haftungsausfüllende Kausalität bei Schädigung des
zentralen sowie peripheren Nervensystems nach kurzzeitiger Isocyanat-Exposition
Tatbestand:
Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob der Arbeitsunfall, den der Kläger am 28.08.1992 erlitt, zu bleibenden Schäden am
Atmungsorgan und zentralen sowie peripheren Nervensystem geführt hat.
Der 1963 geborene Kläger war von 1991 bis 31.03.1993 (Kündigung durch den Arbeitgeber) als Diplom-Ingenieur für Kunststoffverarbeitung
und Betriebsleiter bei der Firma W., Formenbau, in K. beschäftigt. In der Spätschicht des 28.08.1992 trat ein Defekt an einer
Maschine für Polyurethan-Teile auf. Der Kläger wurde beim Versuch, die Maschine abzustellen, von nebelartigem Ausstoß der
Maschine durchnässt. In unmittelbarem Anschluss stellte er an Armen und Oberkörper juckende Quaddeln fest und danach akute
Atemnot. Im Laufe der Nacht klangen die Beschwerden ab. Am übernächsten Tag trat er eine mehrwöchige Urlaubsreise nach Florida
an. Nach Rückkehr aus dem Urlaub verspürte der Kläger in den Produktionsräumen des Arbeitsplatzes Luftnot.
Am 21.12.1998 stellte der Kläger Antrag auf Verletztenrente. Er bezog sich auf ein Attest seines Hausarztes Dr. D ... Dieser
erklärte, der Kläger habe sich bei ihm erstmals im April 1998 vorgestellt.
Bereits zuvor, im Februar 1993, hatte der Lungenarzt Dr. G. den Verdacht auf eine Berufskrankheit angezeigt. Eine obstruktive
Atemwegserkrankung beim Kläger sei auf den Umgang mit Isocyanat zurückzuführen. Auf Veranlassung der Beklagten erstattete
Prof. Dr. F., Institut für Arbeits- und Sozialmedizin der L.-Universität (L.) B-Stadt, am 12.10.1994 ein Gutachten. Er führte
aus, beim Kläger bestehe ein passageres hyperreagibles Bronchialsystem und eine Sinusitis maxilaris rechts (Nasennebenhöhlenentzündung).
Prof. Dr. F. verneinte das Vorliegen einer Berufskrankheit, empfahl jedoch Maßnahmen, die der Entstehung einer solchen vorbeugen
sollten.
Mit Bescheid vom 27.01.1999 und Widerspruchsbescheid vom 19.05.1999 lehnte die Beklagte das Vorliegen einer Berufskrankheit
nach der Nr.1317 der Anlage zur
Berufskrankheitenverordnung (
BKV) ab.
Im hiergegen gerichteten Klageverfahren (S 24 U 448/99) wurden ein Arztbrief des Dr. B. vom 30.01.1999, eine testpsychologische Untersuchung vom 15.05.1999, ein für die Landesversicherungsanstalt
Oberbayern von dem Psychologen Dr. E. nach Untersuchung am 13.09.1999 erstattetes Gutachten sowie das Ergebnis einer im Klinikum
T. auf Verordnung des Dr. B. am 15.11.2000 durchgeführten Biopsie der Wadenmuskulatur beigezogen. Grund für den Eingriff war
der Verdacht auf eine toxische Nerven-Muskel-Schädi-gung. Die Biopsie bestätigte den Verdacht auf eine geringgradige Myopathie
(Muskelerkrankung). Der vom Sozialgericht zum Sachverständigen ernannte Neurologe Dr. K. führte im Gutachten vom 17.05.2000
aus, auf neurologischem Gebiet sei kein pathologischer Befund zu erheben; die vom Kläger angegebenen Beschwerden seien auf
eine akzentuierte Persönlichkeit zurückzuführen. Am 10.10.2001 erstattete der Internist und Nephrologe Prof. Dr. H. gem. §
109 Sozialgerichtsgesetz (
SGG) ein Gutachten. Er hielt eine Neuropathie aufgrund der Biopsie im Klinikum T. für gesichert, konnte jedoch den ursächlichen
Zusammenhang zwischen einer Exposition gegenüber PCB (polychlorierte Biphenyle, Pschyrembel Klinisches Wörterbuch) und dem
Unfall nicht beurteilen.
Mit Bescheid vom 03.02.1997 gewährte die Beklagte Leistungen nach §
3 BKV für die Zeit vom 01.05.1993 bis 31.03.1996. Die Beklagte sicherte am 23.05.2002 eine Überprüfung zu, ob ein Arbeitsunfall
vorgelegen habe und zu entschädigen sei. Mit Urteil vom 23.05.2002 wies das Sozialgericht die auf Anerkennung und Entschädigung
einer Berufskrankheit der Nr.1317 gerichtete Klage ab. Es folgte dem Gutachten des Dr. K ... Die hiergegen eingelegte Berufung
(L 2 U 232/02) nahm der Kläger im Februar 2004 zurück.
Mit Bescheid vom 23.10.2002 lehnte die Beklagte die Anerkennung des Ereignisses vom 28.08.1992 als Arbeitsunfalls ab. Es sei
kein Nachweis zu führen, dass Gesundheitsstörungen bleibender Art durch den Arbeitsunfall verursacht worden seien. Der dagegen
erhobene Widerspruch blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 10.02.2003).
Auch hiergegen erhob der Kläger Klage. Das Verfahren wurde unter dem Az.: S 9 U 99/03 geführt. Das Sozialgericht verband weitere bei ihm anhängige Verfahren mit den Aktenzeichen S 9 U 721/02 und S 9 U 738/02 und wies die Klagen nach Anhörung mit Gerichtsbescheid vom 14.01.2004 ab. Zu dem auf Anerkennung und Entschädigung eines
Arbeitsunfalls gerichteten Verfahren führte es aus, es seien keine Gesundheitsstörungen infolge des Unfalls zurückgeblieben.
Die weiteren Klagen wies es als unzulässig ab.
Dagegen legte der Kläger Berufung ein. Er führte zur Begründung an, eine periphere Neuropathie mit geringem Muskelschwund,
eine Hirnleistungsstörung mit organischer Wesensveränderung, ein Leberparenchymschaden, eine Erkrankung des Immunsystems und
chronische Müdigkeit seien als Unfallfolgen festzustellen und entsprechende Leistungen zu gewähren. Die Erkrankungen seien
durch das Gutachten des Prof. Dr. H., den Bericht des Dr. B., das Gutachtens des Dr. E. sowie die Berichte von Dr. D. und
Dr. S. nachgewiesen. Das Sozialgericht hätte die Klage ohne Einholung eines fachspezifischen Gutachtens nicht abweisen dürfen.
Mit Beschluss vom 15.12.2005 trennte der Senat das daneben auf Feststellung eines Arbeitsunfalls gerichtete Berufungsverfahren
von dem auf Feststellung einer Berufskrankheit ab. Im Erörterungstermin vom 26.04.2006 nahm der Kläger die Berufung gegen
den Gerichtsbescheid vom 14.01.2004 zurück, soweit die Frage der Anerkennung einer Berufskrankheit im abgetrennten Verfahren
L 2 U 2/06 Streitgegenstand war. Im Übrigen hielt er die Berufung aufrecht.
Der Senat führte eine schriftliche Befragung der vom Kläger benannten Zeugin E. H. durch. Diese bestätigte am 30.05.2006,
am Abend des Unfalltages beim Kläger eine gerötete Haut und Blasen, ähnlich einer Verbrühung mit heißem Wasser, beobachtet
zu haben. Nach Rückkehr aus dem Urlaub habe der Kläger wegen Kopfschmerzen und Atemnot einen Arzt aufgesucht.
Mit Bescheid vom 06.07.2006 erkannte die Beklagte daraufhin das Ereignis vom 28.08.1992 als Arbeitsunfall an mit der Folge
vorübergehender Hautveränderungen nach Einwirkung flüssigen Kunststoffs. Weitere Gesundheitsschäden seien nicht verblieben.
Am 24.11.2006 beauftragte der Senat Prof. Dr. B., Institut für Arbeits-, Umwelt- und Sozialmedizin der L. B-Stadt, mit der
Erstattung eines Gutachtens. Der Sachverständige führte im Gutachten vom 24.10.2008 aus, beim Kläger habe eine kurzzeitige
Isocyanatexposition mit der Folge einer toxischen Hautreizung bestanden. Eine toxische Encephalopathie oder Polyneuropathie
sei auszuschließen. Es bestünden eine hirnorganische Veränderung im Sinne einer kognitiven Leistungseinbuße und Persönlichkeitsstörung
laut Fremddiagnose, Depressionen und eine geringfügige Leberenzymaktivität unklarer Genese. Unzweifelhaft sei der Kläger kurze
Zeit einer hohen Isocyanatbelastung inhalativ wie auch perkutan ausgesetzt gewesen. In der medizinisch-wissenschaftlichen
Literatur gebe es keine Hinweise darauf, dass eine Isocyanatexposition in dem hier zu beurteilenden Ausmaß neurologische oder
psychische Symptome oder Erkrankungen auslösen könne. Der gesamte vom Kläger geschilderte Krankheitssymptomenkomplex sei nicht
mit Wahrscheinlichkeit durch den Unfall vom 28.08.1992 hervorgerufen oder verschlimmert worden.
Auf Antrag des Klägers (§
109 SGG) erstattete Prof. Dr. D., D-Stadt, am 06.10.2009 ein weiteres Gutachten unter Berücksichtigung des von ihm veranlassten neuropsychologischen
Zusatzgutachtens von Prof. Dr. C., Institut für Rechtspsychologie vom 04.09.2009. Prof. Dr. C. fand beim Kläger keinen Anhalt
für Aggravation oder Simulation, jedoch kognitive Einbußen sowie eine fehlende psychologische Verarbeitung des Arbeitsunfalls.
Prof. Dr. D. führte aus, die Reizerscheinungen der Haut unmittelbar nach dem Unfall sowie die im Januar 1993 gemessenen erhöhten
Isocyanat-Werte im Serum sprächen ebenso wie das 1998 festgestellte hyperreagible Bronchialsystem und die am 06.08.1998 gemessenen
erhöhten Serotonin-Antikörper für Kontakt mit Isocyanat. Beim Kläger bestehe ein hirnorganisches Psychosyndrom bei toxisch
bedingter Encephalopathie und Neuropathie. Übelkeit und Erbrechen seien eindeutige Zeichen einer Schädigung des zentralen
Nervensystems. Aus epidemiologischer Sicht sei ein ursächlicher Zusammenhang dieser Schädigung mit dem Unfall wahrscheinlich.
Zu berücksichtigen sei insoweit, dass der Kläger früher als Laminierer Styrol ausgesetzt gewesen sei. Durch den späteren Isocyanat-Ganzkörperkontakt
sei es zu einer Verschlimmerung von zuvor lediglich latenten neurotoxischen Störungen durch Styrol und letztendlich zur Manifestation
gekommen. Um die Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs bestimmen zu können, wären kontrollierte Studien mit betroffenen
Unfallopfern erforderlich, die zuvor mit neurotoxischen Lösungsmitteln belastet waren und mit altersgleichen männlichen Personen
mit vergleichbarer Belastung, aber ohne Unfall. Eine solche Konstellation wie beim Kläger trete extrem selten auf, so dass
allein die Zusammenstellung von Studien ähnlich betroffener Gruppen auf Schwierigkeiten stoßen würde. Es müsse daher auf vorliegende
Evidenzen in der internationalen wissenschaftlichen Literatur zurückgegriffen werden, wie auf die Erfahrungen aus dem Chemieunfall
im indischen Bopal am 03.12.1984 und Unfallereignisse bei Feuerwehrmännern, die bei Löscharbeiten nach Brand einer Polyurethanschaum-Fabrik
eingesetzt waren. Zu letzterer Konstellation gebe es zwei Veröffentlichungen. Eine vergleichbare Unfallsituation wie beim
Kläger sei in der toxikologischen Literatur für Forschungszwecke noch nicht simuliert worden. Gleichwohl gehe er von einer
Verursachung der späteren Gesundheitsstörung durch den Arbeitsunfall aus. Alle Diagnosen seien eine sehr spezifische Folge
einer Überreaktion auf in den Produktionsräumen zirkulierende kleinste Mengen der Substanzen Isocyanat und Methan-Diisocyanat
(MDI), die zu einer nachhaltigen Allergisierung geführt hätten. Die MdE schätzte er im Nachtrag vom 27.11.2009 auf 45 bis
50 vH.
Die Beklagte wandte ein, das Gutachten des Prof. Dr. D. könne nicht Grundlage für ein Urteil sein. Es beantworte die wesentliche
Frage des ursächlichen Zusammenhangs unzureichend und unterstelle zudem eine Styrolbelastung. Der Kläger führte aus, er habe
während seines Studiums regelmäßig als Laminierer gearbeitet und sei dabei Lösemitteln ausgesetzt gewesen. Zum Beweis legte
er Lohnabrechnungen aus 1985 und 1987/1988 vor. Das Gutachten des Dr. K. dürfe nicht verwertet werden, weil er der Verwertung
aus datenschutzrechtlichen Gründen widersprochen habe. Bei eindeutigen Indizien auf grobe Fehlbeurteilung sei ein Wiederaufgreifen
über § 44 des Zehnten Buchs Sozialgesetzbuch (SGB X) möglich und eine BK der Nr. 1317 nicht ausgeschlossen. Seine Behandlung durch die Beklagte stelle eine Menschenrechtsverletzung
dar. Das nach §
109 SGG erstattete Gutachten sei überzeugend.
Der Kläger beantragt,
die Beklagte unter Aufhebung des Gerichtsbescheids des Sozialgerichts München vom 14.01.2004 und des Bescheids vom 23.10.2002
in der Fassung des Widerspruchsbescheids vom 10.02.2003 sowie Abänderung des Bescheids vom 06.07.2006 zu verurteilen, eine
periphere Neuropathie mit geringer Muskelatrophie, eine Hirnleistungsstörung und organische Wesensveränderung, einen Leberparenchymschaden,
eine Erkrankung des Immunsystems und chronische Müdigkeit als Folgen des Arbeitsunfalls vom 28.08.1992 festzustellen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts München vom 14.01.2004 zurückzuweisen.
Im Übrigen wird zur Ergänzung des Sachverhalts gemäß §
136 Abs.2
SGG auf den Inhalt der Klage- und Berufungsakte sowie der weiteren beigezogenen Akten der Beklagten, des Sozialgerichts München
und des Arbeitsgerichts E-Stadt Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung des Klägers ist zulässig (§§
143,
151 SGG), aber unbegründet.
Der Kläger hat keinen Anspruch auf Feststellung weiterer Gesundheitsstörungen als Folge des Ereignisses vom 28.08.1992 als
im Bescheid vom 06.07.2006 zuletzt anerkannt.
Der Senat geht davon aus, dass der Kläger am 28.08.1992 einem Ganzkörperkontakt mit isocyanathaltiger Flüssigkeit, die von
einer defekten Maschine austrat, bei seiner Berufstätigkeit ausgesetzt war. Als Folge davon waren vorübergehende Hauterscheinungen
und vorübergehende Atembeschwerden aufgetreten. Dass es darüber hinaus unmittelbar zu einem gesundheitlichen Schaden gekommen
sei, der die späteren Beschwerden des Klägers erklären könnte, hält der Senat nicht mit der hierfür erforderlichen mit an
Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit für erwiesen. Eben so wenig erachtet er einen ursächlichen Zusammenhang zwischen
den Erstschäden und den später aufgetretenen Gesundheitsstörungen für hinreichend wahrscheinlich. Dies gilt vor allem für
die von Prof.
Dr. D. angenommene Schädigung des zentralen und peripheren Nervensystems.
Vorliegend ist das Recht der
Reichsversicherungsordnung (
RVO) anzuwenden, weil um die Anerkennung eines Arbeitsunfalls in der Zeit vor dem in Kraft treten des Siebten Buchs Sozialgesetzbuch
(
SGB VII) am 01.01.1997 gestritten wird (§
212 SGB VII).
Ebenso wie für §
8 SGB VII ist nach § 548
RVO Voraussetzung für die Feststellung von Gesundheitsstörungen als Folge eines Arbeitsunfalls, dass ein Unfall als zeitlich
begrenztes, von außen auf den Körper einwirkendes Ereignis zu einem Gesundheitsschaden geführt hat. Dass es sich bei dem Vorgang
am 28.08.1992 um einen Arbeitsunfall im Sinne dieser Legaldefinition gehandelt hat, bedarf keiner Erörterung. Die Beklagte
hat einen Arbeitsunfall im Bescheid vom 06.07.2006, über den der Senat gemäß §
96 SGG im Klagewege zu entscheiden hat, anerkannt. Allerdings stellte die Beklagte als Unfallfolge lediglich vorübergehende Hautveränderungen
nach Einwirkung flüssigen Kunststoffs als Unfallfolge fest. Im Streit stehen jedoch darüber hinausgehende, vom Kläger geltend
gemachte Gesundheitsstörungen.
Richtige Klageart ist insoweit die kombinierte Anfechtungs- und Feststellungsklage gemäß §§
54 Abs.
1 und
55 Abs
1 Nr
1 SGG, da der Kläger zunächst die Feststellung bestimmter Gesundheitsstörungen als Unfallfolgen erreichen will und die Beklagte
über konkrete Leistungen nicht entschieden hat (BSG Urteil vom 07.09.2004 - B 2 U 46/03 R) ...
Der Senat sieht es zwar für erwiesen an, dass es beim Kläger durch den streitgegenständlichen Unfall zu vorübergehenden reagiblen
Störungen des Bronchialsystems gekommen war. Da diese jedoch keine bleibenden Auswirkungen auf das Atemwegsorgan zurückgelassen
haben, ist ein Anspruch auf Feststellung in diesem Zusammenhang stehender Gesundheitsstörungen nicht begründet. Dies entnimmt
der Senat den Gutachten von Prof. Dr. B. vom 24.10.2008 und Prof. Dr. F. vom 12.10.1994. Letzteres Gutachten stützt sich insbesondere
auf die Berichte des Dr. G. über die Behandlung des Klägers im Januar 1993 wegen Atemnot in Zusammenhang mit Arbeiten am Arbeitsplatz.
Dr. G. diagnostizierte seinerzeit ein Bronchialasthma durch Isocyanat. Prof. Dr. F. stellte aufgrund der zur Begutachtung
durchgeführten eingehenden Lungenfunktionsuntersuchung fest, es habe sich lediglich um passagere Symptome eines hyperreagiblen
Bronchialsystems und einer Sinusitis maxilaris rechts gehandelt. Als Ursache hierfür nannte er eine Isocyanat-Sensibilisierung.
Diese Antwort bezog sich auf die Frage, ob eine Berufskrankheit vorliege. Aussagen, ob diese passagere Störung der Atemwege
durch den Arbeitsunfall vom 28.08.1992 hervorgerufen wurde, machte Prof. Dr. F. nicht. Von Bedeutung ist insoweit jedoch seine
Feststellung, es handele sich um eine vorübergehende Beeinträchtigung. Denn Prof. Dr. B. konnte bei der umfassenden Untersuchung
des Klägers am 29.01.2008 keine Anzeichen für eine bleibende Atemwegserkrankung und/oder Isocyanat-Sensibili-sierung feststellen.
Damit scheidet die Anerkennung einer Atemwegserkrankung als Folge des Arbeitsunfalls vom 28.08.1992 aus.
Die vom Kläger geltend gemachten Beschwerden wie Hals- und Lymphknotenschwellung, Muskelschmerzen ähnlich einem Muskelkater,
Rücken- und Gelenkschmerzen, Kopfschmerzen, Erschöpfung, Schlafstörung oder übersteigertes Schlafbedürfnis, Magenprobleme,
Depression, Reizbarkeit und Konzentrationsschwäche können nicht mit Wahrscheinlichkeit als Spätfolge dem Arbeitsunfall zugeordnet
werden. Erste Hinweise auf derartige Gesundheitsstörungen finden sich erst im Bericht des Arztes D. vom 27.11.1998, der über
die Untersuchung des Klägers im April 1998 berichtete und im Bericht des Neurologen Dr. G., der den Kläger am 05.11.1998 untersuchte.
Zu diesem Zeitpunkt lag das Ergebnis einer Positronen-Emissions-Tomographie (PET) des Radiologen Dr. H. vom 24.04.1998 vor.
Dr. D. leitete daraus neben einer schweren Atemwegserkrankung Substanzdefekte durch toxische Nervenschädigung im Sinne einer
Schädigung des Zentralnervensystems (ZNS) ab. Auffällig ist insoweit, dass der Kläger gegenüber Prof. Dr. F. im Juli und August
1994 Störungen, wie er sie gegenüber Dr. D. und Dr. G. schilderte, nicht angegeben hatte.
Festgestellt werden kann insoweit lediglich, dass sich die, wie von Dr. D. und Dr. G. vermutet, vom ZNS ausgehenden Störungen
in der Zeit zwischen der Begutachtung bei Prof. Dr. F. und April 1998 entwickelt hatten. Aus den mitgeteilten Befunden ergibt
sich kein Hinweis, auf welche Art es zu einer ZNS-Schädigung gekommen war, d.h. der sogenannte Erstschaden lässt sich nicht
bestimmen. In ständiger Rechtsprechung (BSG-Urteil vom 12.04.2005 - B 2 U 6/04 R) betont das BSG, dem Unfallbegriff, wie in §
8 Abs.
1 Satz 1
SGB VII - aber auch im hier anzuwendenden § 548
RVO - definiert, sei immanent, dass das auf den Körper einwirkende Ereignis zu einem sogenannten Erstschaden - und sei er auch
gering - führe. Spätere Folgen seien dem Unfall selbstverständlich zuzurechnen. Die Unterscheidung zwischen Erstschaden und
Folgeschaden sei jedoch - vor allem zur Abgrenzung von Berufskrankheiten, die auf einen über längere Zeit andauernden schädigenden
Einfluss von Berufsstoffen abstellten - notwendig. Es bedarf insoweit der Feststellung, welcher Art der Erstschaden an der
ZNS ist und auf welche Wirkungsweise er zurückzuführen ist, etwa auf einen chemischen Zersetzungsprozess von Gehirnsubstanz.
In einer weiteren Entscheidung (BSG vom 12.04.2005 - B 2 U 27/04 R) führt das BSG aus, es gebe äußere Einwirkungen, deren Folgen nicht äußerlich sichtbar würden, z.B. radioaktive Strahlen
u.ä. Es sei für das Vorliegen eines Arbeitsunfalls nicht Voraussetzung, dass die äußere Einwirkung mit den Augen gesehen werden
könne. Vielmehr könne mitunter erst in einem zweiten Schritt, in dem die Beteiligung mehrerer in Betracht kommender Ursachen
geprüft werde, ein Rückschluss auf die Einwirkung gezogen werden.
Auf den hier zu entscheidenden Fall übertragen bedeutet dies, aus der Prüfung, welche Ursachen für die ZNS-Schädigung in Betracht
kommen, kann, wenn diese Ursachen nachweisbar sind, auf die (Mit)-Beteiligung von Einflüssen des angeschuldigten Ereignisses
geschlossen werden. Hierzu bedarf es wenigstens des Nachweises, dass beim Kläger tatsächlich eine Schädigung des ZNS vorliegt.
Für den Senat sind insoweit die Ausführungen des Dr. K. im Gutachten vom 17.05.2000 von Bedeutung. Hierbei handelt es sich
um die zeitnächste Begutachtung zur Frage, ob Nervenschäden bestehen. Zu diesem Zeitpunkt lagen die Befunde vor, die Dr. E.
anlässlich seines für die Landesversicherungsanstalt Oberbayern in einem Rentenstreit erstatteten Gutachtens am 13.09.1999
erhoben hatte. Dr. E. diagnostizierte eine organische Wesensveränderung, ließ aber die Ursachen hierfür offen. Er vermutete
eine Polyneuropathie, die das berufliche Leistungsvermögen nachhaltig mindern könnte. Insoweit läge lediglich eine vorwiegend
sensible Polyneuropathie vor. Dr. K. führte aus, die vom Kläger geschilderten Beschwerden könnten Ausdruck einer Eigentümlichkeit,
die in der Primärpersönlichkeit begründet sei, sein. Die klinischen Untersuchungen hätten keinen Anhalt für eine organische
Schädigung der Gehirnsubstanz ergeben. Im Übrigen seien in der medizinischen Wissenschaft toxische Wirkungen am ZNS und am
peripheren Nervensystem nur in Fällen einer chronischen, über einen längeren Zeitraum andauernden Exposition gegenüber Isocyanat,
insbesondere gegenüber Diphenylmethan-Diisocyanat (DMDI) bekannt. Für eine einmalige kurzzeitige Exposition, auch wenn dabei
die MAK-Werte überschritten würden, sei eine solche toxische Wirkung nicht bekannt.
Daraus ist zu folgern, dass im Mai 2000 kein eindeutiger Hinweis auf eine ZNS-Schädi-gung zu verifizieren war und eine solche,
wäre sie unentdeckt geblieben, nach wissenschaftlichen Erkenntnissen nicht auf die einmalige Einwirkung von Isocyanat am 28.08.1992
zurückzuführen wäre. In gleicher Weise äußerte sich Prof. Dr. B. im Gutachten vom 24.10.2008. Auch nach der bis 2008 bekannten
medizinischen Literatur, so erklärte er, gebe es keine Hinweise darauf, dass eine kurzzeitige, wenn auch starke Isocyanat-Exposition
wie im Falle des Klägers neurologische oder psychische Symptome oder Erkrankungen auslösen könne.
Damit kommt der Senat zum Ergebnis, dass die vom Kläger geschilderten Beschwerden weder unmittelbare Folgen des Arbeitsunfalls
vom 28.08.1992 sind noch mit Wahrscheinlichkeit als Spätfolgen auf diesen zurückzuführen sind, weil es bereits am direkten
oder indirekten Nachweis eines geeigneten Erstschadens fehlt.
Gleiches gilt für die vom Kläger als weitere Unfallfolge angeführte Polyneuropathie. Der Senat kann dahingestellt lassen,
ob die im Krankenhaus T. am 15.11.2000 durchgeführte Operation geeignet war, den Nachweis für eine Polyneuropathie zu erbringen
bzw. ob sie einen solchen Nachweis erbracht hat. Denn auch insoweit fehlt es am Nachweis eines geeigneten Unfallerstschadens.
Die obigen Ausführungen zum Zusammenhang zwischen einer kurzzeitigen Einwirkung von Isocyanat auf das ZNS gelten entsprechend.
Die Feststellung einer Polyneuropathie als weitere Unfallfolge scheidet demnach aus. Die Verursachung eines Leberparenchymschadens
durch Isocyanat infolge einer kurzzeitigen Exposition ist, so Prof. Dr. B., in der medizinischen Wissenschaft nicht bekannt.
Die Gutachten von Prof. Dr. H. vom 10.10.2001 und Prof. Dr. D. einschließlich des Zusatzgutachtens von Prof. Dr. C. liefern
keine darüber hinausgehenden Erkenntnisse. Prof. Dr. H. stimmt weitgehend den Feststellungen von Dr. K. zu und betont darüber
hinaus lediglich den zeitlichen Zusammenhang. Dass ein solcher nicht ausreicht, bedarf keiner weiteren Erläuterung.
Prof. Dr. D. baut auf den Feststellungen von Prof. Dr. C. auf, wonach beim Kläger eine hohe psychische Gesamtbelastung mit
ausgeprägten depressiven Merkmalen bestehe. Als Ausgangspunkt der Beurteilung des ursächlichen Zusammenhangs zwischen den
von Prof. Dr. C. diagnostizierten Störungen und dem Arbeitsunfall sei zu prüfen, ob die von Cyan-Verbindungen ausgelösten
akuten Symptome zu chronischen Schäden führen könnten. Bei dieser Betrachtungsweise überspringt er den ersten Schritt der
Beurteilung, nämlich den Nachweis des Erstschadens. Er stellt auf von Cyan-Verbindungen ausgelöste akute Symptome ab, definiert
aber die von ihm angenommenen "akuten Symptome" nicht. Er erklärt auch nicht, welche Wirkung auf den Körper in der Regel statt
findet und zu welcher Wirkungsweise es beim Kläger gekommen war. Er erläutert insoweit lediglich, dass - aus seiner Sicht
notwendige - epidemiologische Studien, zum Risiko, dem der Kläger am 28.08.1992 ausgesetzt war, fehlten, weil eine vergleichbare
Konstellation extrem selten auftrete. Die von ihm angeführten Studien anlässlich von Unfällen in einer Fabrik in Indien und
von Feuerwehrleuten bei Löscharbeiten, bei denen Expositionen gegenüber Isocyanat stattfanden, belegen eine Sofortreaktion
der Betroffenen. Dass eine solche Sofortreaktion beim Kläger ausgeblieben war, erklärt Prof.
Dr. D. damit, dass der Kläger nach seinen eigenen Angaben zu Zeiten vor dem Unfall beruflichen Einflüssen von Styrol ausgesetzt
gewesen sei. Das durch Styrol vorgeschädigte autonome Nervensystem des Klägers habe keine sofortige Reaktion zeigen können.
An anderer Stelle legt der Sachverständige dar, die Wirkung eingeatmeter Isocyanate auf das zentrale und periphere Nervensystem
sei noch nicht geklärt. Eine Unfallsituation sei in der toxikologischen Literatur für Forschungszwecke nicht simuliert worden.
Letztendlich zeigen diese Ausführungen von Prof. Dr. D. Übereinstimmung mit Prof. Dr. B. und auch mit Dr. K ... Die beiden
Letzteren erklärten, in der medizinischen Literatur seien Schädigungen des zentralen und peripheren Nervensystems durch unfallartigen
Einfluss von Isocyanat nicht bekannt. Die weiteren Ausführungen von Prof. Dr. D. beziehen sich darauf, dass er den späteren
Krankheitsverlauf beim Kläger für nachvollziehbar hält. Erkenntnisse zum Entstehen eines das zentrale und/oder periphere Nervensystem
beeinflussenden Erstschadens und der Auswirkungen eines solchen Schadens bei einmaligem Einfluss von Isocyanat finden sich
nicht.
Damit kommt der Senat zum Ergebnis, dass ein Anspruch des Klägers auf Feststellung weiterer Unfallfolgen nicht begründet ist.
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts München vom 04.01.2004 war zurückzuweisen. Über den Bescheid
vom 06.07.2006 war im Klageweg zu entscheiden; die Klage war abzuweisen.
Die Einwände des Klägers im Schriftsatz vom 08.12.2009 führen zu keiner anderen Entscheidung. Entgegen seiner Meinung steht
der Verwendung des Gutachtens von Dr. K. kein Verwertungsverbot entgegen. Dr. K. war als vom Sozialgericht im Verfahren zum
Aktenzeichen S 4 U 448/99 beauftragter Sachverständiger tätig geworden. Der Kläger hat die ihm vom Senat übersandte umfassende Einverständniserklärung
am 01.10.2007 unterzeichnet. Er hat damit sein Einverständnis u.a. zum Beiziehen der früheren Gerichtsakten erteilt und die
mit seiner Streitsache befassten Behörden von der sozialrechtlichen Geheimhaltung sowie seine behandelnden Ärzte von der ärztlichen
Schweigepflicht entbunden.
Soweit sich die Einwände des Klägers darauf beziehen, dass das Vorliegen einer Berufskrankheit zu prüfen sei, weist der Senat
darauf hin, dass das gerichtliche Verfahren, das die BK der Nr. 1317 zum Gegenstand hatte, durch Rücknahme der Berufung im
Verfahren L 2 U 232/02 beendet wurde. Es steht dem Kläger frei, einen Antrag an die Beklagte zu richten, mit dem Ziel der Überprüfung des rechtskräftig
abgeschlossenen Verfahrens gem. § 44 SGB X. Im Falle eines ablehnenden Verwaltungsaktes wäre dann der Klageweg wieder eröffnet. Im vom Senat zu entscheidenden Berufungsverfahren
ist hierüber - allein mangels einer Verwaltungsentscheidung - nicht zu befinden. Eine vom Kläger behauptete Menschenrechtsverletzung
durch die Beklagte vermag der Senat nicht zu erkennen.
Die Kostenentscheidung stützt sich auf §
193 SGG.
Die Revision war nicht zuzulassen, da hierfür kein Grund gemäß §
160 Abs.
2 Nrn. 1 und 2
SGG besteht.