Kostenübernahme der gesetzlichen Krankenversicherung für die kieferorthopädische Behandlung jugendlicher Versicherter
Tatbestand:
Zwischen den Beteiligten ist die Erstattung von Kosten für kieferorthopädische Behandlungen beginnend im Jahr 2004 in Höhe
von 3.910,18 EUR streitig.
Bei dem 1991 geborenen Kläger fand am 16.12.2003 bei dem Kieferorthopäden Dr.R. B. (Vertragszahnarzt) eine Untersuchung statt.
Dem rein klinischen intraoralen Befund am 16.12.2003 folgte am 22.12.2003 eine ausführliche kieferorthopädische Anfangsdiagnostik
mit Abformungen des Ober- und Unterkiefers, zwei Röntgenaufnahmen der Kiefer (OPG und FRS), Enface- und Profilfotos mit einem
ausführlichen klinischen Befund. Am 30.12.2003 erstellte Dr.B. einen kieferorthopädischen Behandlungsplan. Die Diagnose lautete:
"Distalbiss mit Engstand der UK-Front." Dr.B. attestierte einen Behandlungsbedarf nach der Indikationsgruppe (KIG) "E3". Als
Behandlungstherapie wurde für den Ober- und Unterkiefer angegeben "Zahnbogenausformung und Retention der Zahnbogenform sowie
ein Distalbissausgleich". Die geschätzten Material- und Laborkosten bezifferte Dr.B. mit 500,00 EUR, die voraussichtlichen
Gesamtkosten mit 3.100,00 EUR.
Unter Beifügung des genannten Behandlungsplans beantragte die Mutter des Klägers am 02.01.2004 die Kostenübernahme. Wie ihr
der Kieferorthopäde Dr. B. mitgeteilt habe, könne es sein, dass eine Behandlung aufgrund der derzeitigen allgemeinen Krankenkassen
abgelehnt werden könnte. Sie halte aber eine Behandlung für dringend erforderlich.
Der von der Beklagten eingeschaltete Gutachter Dr. G. K. kam in seiner gutachterlichen Stellungnahme vom 15.01.2004 zu dem
Ergebnis, obwohl beim Kläger eine medizinische Behandlungsnotwendigkeit vorliege, könne einer Kostenübernahme durch die gesetzliche
Krankenversicherung (GKV) nicht zugestimmt werden, da die Voraussetzungen des § 29 Sozialgesetzbuch (SGB) V nicht vorlägen,
wonach eine Kiefer- oder Zahnfehlstellung vorliegen müsse, die das Kauen, Beißen oder Atmen erheblich beeinträchtige bzw.
zu beeinträchtigen drohe. Die von Dr. B. vorgenommene Einstufung nach der Indikationsgruppe 3 läge nicht vor, sondern lediglich
E2.
Mit Bescheid vom 19.01.2004 lehnte daraufhin die Beklagte eine Kostenübernahme ab. Von der Möglichkeit der Einholung eines
Obergutachtens wurde nicht Gebrauch gemacht. Die Mutter des Klägers führte hierzu aus, man sei sich im Klaren darüber, dass
nur eine Einstufung nach E2 vorliege und ein weiteres Gutachten nur mit unnötigen Kosten verbunden wäre.
Zur Begründung des gegen den Bescheid vom 19.01.2004 erhobenen Widerspruchs führte die Mutter des Klägers im Wesentlichen
aus, sie könne gegenüber ihrem Sohn keine Verantwortung übernehmen, dass er vielleicht in späteren Jahren erhebliche Probleme
durch eine nicht regulierte Kieferbehandlung bekomme. Nach wie vor sei sie der Meinung, dass man Kindern, die selbst eine
Behandlung wünschen und auch nach der Meinung des Arztes eine benötigen, eine Kostenübernahme nicht abschlagen sollte.
Mit Widerspruchsbescheid vom 14.04.2004 wies die Beklagte den Widerspruch als unbegründet zurück und bestätigte damit ihren
Ausgangsbescheid.
Am 13.05.2004 wurde ein weiterer (privater) Behandlungsplan erstellt, aufgrund dessen dann die Behandlung des Klägers durchgeführt
wurde.
Gegen den Widerspruchsbescheid vom 14.04.2004 wurde Klage zum Sozialgericht Landshut (SG) unter dem Az.: S 4 KR 98/04 erhoben. Die Beteiligten schlossen einen Vergleich dahingehend, dass sich die Beklagte bereit erklärte, zur Frage der Übernahme
der Kosten für die kieferorthopädische Behandlung des Klägers ein neues Sachverständigengutachten durch einen qualifizierten
Zahnarzt erstellen zu lassen, um dann erneut über den Anspruch des Klägers auf Übernahme der Kosten für die bereits begonnene
kieferorthopädische Behandlung zu entscheiden.
In Ausführung des Vergleichs holte die Beklagte ein Gutachten des Kieferorthopäden Dr. Dr. R. F. ein. Dieser kam in seinem
Gutachten vom 07.03.2006 zusammengefasst zu dem Ergebnis, hier läge keine Einstufung in den Behandlungsbedarf E3 der Indikationsgruppen
vor. Von daher gehöre die kieferorthopädische Behandlung gemäß §
29 Abs.1
SGB V in Verbindung mit Abs.4 nicht zur vertragszahnärztlichen Versorgung. Er schließe sich daher der gutachterlichen Stellungnahme
von Dr. K. an, wonach einer Kostenübernahme durch die GKV nicht zugestimmt werden könne.
Mit streitigem Bescheid vom 20.03.2006 lehnte die Beklagte daraufhin (erneut) den Antrag des Klägers ab.
Zur Begründung des Widerspruchs wurde im Wesentlichen vorgetragen, man dürfe nicht starr auf Grenzwerte abstellen. Entscheidend
sei vielmehr der konkrete Einzelfall. Bei einer Nichtbehandlung des Klägers sei mit Folgeschäden zu rechnen. Ausdrücklich
werde darauf hingewiesen, dass es sich nicht um eine Maßnahme aus ästhetischen Gründen handele, sondern diese vielmehr medizinisch
geboten sei. Fraglich sei darüber hinaus, ob die Richtlinien mit höherrangigem Recht in Einklang stünden.
Mit Widerspruchsbescheid vom 20.07.2006 wies die Beklagte den Widerspruch als unbegründet zurück. Maßgeblich seien die im
Gutachten vom 07.03.2006 festgehaltenen medizinischen Darlegungen.
Zur Begründung der dagegen zum SG erhobenen Klage hat der Kläger im Wesentlichen vortragen lassen, mit der Beurteilung von Herrn Dr. Dr. F. vom 07.03.2006
bestehe kein Einverständnis.
Nach Beiziehung von Befundberichten des Kieferorthoäden Dr. R. B. hat das Gericht Beweis erhoben durch Einholung eines Sachverständigengutachtens
des Kieferorthopäden Dr. S. Z ... In seinem Gutachten vom 26.06.2008 kam der Sachverständige (ebenfalls) zu dem Ergebnis,
die vorliegenden Befunde würden nicht ausreichen, um eine kieferorthopädische Behandlung im Rahmen der vertragszahnärztlichen
Versorgung zu rechtfertigen. Beim Kläger habe keine Kiefer- oder Zahnfehlstellung vorgelegen, die das Kauen, Beißen, Sprechen
oder Atmen erheblich beeinträchtige oder zu beeinträchtigen drohte.
Mit Urteil vom 06.08.2008 hat das SG die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es sich insbesondere auf das Sachverständigengutachten von Dr. S. Z. vom 26.06.2008
gestützt, welches die bereits zuvor vorliegenden gutachterlichen Stellungnahmen gänzlich bestätigt habe.
Gegen das Urteil vom 06.08.2008 richtet sich die Berufung des Klägers vom 27.10.2008, mit der er sein Begehren weiter verfolgt.
Der Bevollmächtigte des Klägers beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Landshut vom 06.08.2008 sowie den zugrunde liegenden Bescheid der Beklagten vom 20.03.2006 in
der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20.07.2006 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, die Kosten für die kieferorthopädische
Behandlung durch Herrn Dr. B. in Höhe von EUR 3.910,18 zu erstatten.
Der Beklagtenvertreter beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Die Beklagte hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Wegen weiterer Einzelheiten wird zur Ergänzung des Tatbestandes auf den Inhalt der beigezogenen Akten sowie der gewechselten
Schriftsätze Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die gemäß §
151 Sozialgerichtsgesetz (
SGG) form- und fristgerecht eingelegte Berufung, die nicht der Zulassung gemäß §
140 SGG bedarf, ist zulässig, erweist sich aber als unbegründet.
Gegenstand des Verfahrens (§ 97
SGG) ist der Bescheid der Beklagten vom 20.03.2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20.07.2006, mit dem diese die
Kostenübernahme für kieferorthopädische Behandlungen des Klägers in Höhe von 3.910,18 EUR abgelehnt hat.
Zulässig verfolgt der Kläger seinen Klageanspruch (§
123 SGG) mit der kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage (§
54 Abs.4
SGG).
Der Kläger hat keinen Anspruch auf die Erstattung von insgesamt 3.910,18 EUR für die beginnend im Jahr 2004 durchgeführten
kieferorthopädischen Behandlungen.
Für die begehrte Kostenerstattung kommt als Anspruchsgrundlage allein §
13 Abs.3
SGB V in Betracht. Danach sind dem Versicherten Kosten zu erstatten, die dadurch entstehen, dass die Krankenkasse eine unaufschiebbare
Leistung nicht rechtzeitig erbringen kann oder eine Leistung zu Unrecht abgelehnt hat und sich der Versicherte deshalb die
Leistung selbst beschafft.
§
13 Abs.1
SGB V beruht auf dem Sachleistungsprinzip des §
2 Abs.1 Satz 2
SGB V, das besagt, dass sächliche Mittel und persönliche Dienste von der Krankenkasse beschafft und den Versicherten unter Beachtung
des Wirtschaftlichkeitsgebots (§
12 SGB V) in Natur zur Verfügung gestellt werden, soweit diese Leistungen nicht der Eigenverantwortung des Versicherten zugerechnet
werden können. Der Kostenerstattungsanspruch nach §
13 Abs.3
SGB V tritt an die Stelle des Anspruchs auf eine Sach- oder Dienstleistung und besteht deshalb nur, soweit die selbst beschaffte
Leistung ihrer Art nach zu den Leistungen gehört, die von den gesetzlichen Krankenkassen als Sachleistung zu erbringen sind
(BSG vom 14.12.2006 - SozR 4-2500 § 13 Nr.12 Rdnr.9 oder bereits BSG vom 24.09.1996 - BSGE 79, 125, 126).
Die genannten Voraussetzungen liegen hier nicht vor.
§
13 Abs.3
SGB V sieht in seiner 1. Alternative eine Kostenerstattungspflicht der Krankenkassen vor, wenn sie eine unaufschiebbare Leistung
nicht rechtzeitig erbringen konnte und dadurch dem Versicherten durch die selbst beschaffte Leistung Kosten entstanden sind.
Eine nicht aufschiebbare Leistung ist dann anzunehmen, wenn sie so dringlich ist, dass aus medizinischer Sicht keine Zeit
mehr bleibt, die Krankenkasse vorher einzuschalten (BSG vom 14.12.2006 - SozR 4-2500 Nr.12 Rdnr.23), um ihr Gelegenheit zu
geben, ihre Leistungspflicht zu prüfen.
Eine unaufschiebbare Leistung im aufgezeigten Sinn liegt hier (eindeutig) nicht vor.
Es liegen aber auch nicht die Voraussetzungen für einen Kostenerstattungsanspruch nach §
13 Abs.3 Satz 2 2. Alternative
SGB V vor, da die Beklagte die begehrte Leistung nicht geschuldet hat. Der Kostenerstattungsanspruch nach §
13 Abs.3 Satz 1 2. Alternative
SGB V reicht nicht weiter als ein entsprechender Sachleistungsanspruch und setzt daher voraus, dass die selbst beschaffte Leistung/Behandlung
zu den Leistungen gehört, welche die Krankenkassen allgemein als Sach- oder Dienstleistung zu erbringen haben (ständige Rechtsprechung
des BSG, vgl. Urteil vom 26.09.2006 - B 1 KR 3/06 R - SozR 4-2500 § 27 Nr.10 und vom 04.04.2006 - B 1 KR 12/05 R - SozR 4-2500 § 27 Nr.8 = Breithaupt 2006, 893 bis 904).
Nach §
29 Abs.1
SGB V in Verbindung mit §
24 der Satzung der Beklagten haben jugendliche Versicherte Anspruch auf kieferorthopädische Versorgung in medizinisch begründeten
Indikationsgruppen, bei denen eine Kiefer- oder Zahnfehlstellung vorliegt, die das Kauen, Beißen, Sprechen oder Atmen erheblich
beeinträchtigt oder zu beeinträchtigen droht.
§
29 konkretisiert somit den Anspruch des Versicherten auf kieferorthopädische Behandlung, §
27 Abs.1 Nr.2
SGB V in Verbindung mit §
28 Abs.2
SGB V. Die Leistung ist nach Abs.1 bei einer Beeinträchtigung oder Bedrohung der Kau-, Sprech- oder Atemfunktion zu erbringen,
wobei die Indikationsgruppen nach Abs.4 vom Gemeinsamen Bundesausschuss befundbezogen festgelegt werden.
Dass beim Kläger bei Beginn der Behandlung keine kiefer- oder Zahnfehlstellung vorgelegen hat, die das Kauen, Beißen, Sprechen
oder Atmen erheblich beeinträchtigte bzw. zu beeinträchtigen drohte, folgert der Senat aus dem Gutachten von Dr. G. K. vom
15.01.2004, dem Gutachten von Dr. Dr. R. F. vom 07.03.2006 sowie dem Sachverständigengutachten von Dr. Z. vom 26.06.2008.
Ausdrücklich weist der gerichtlich bestellte Sachverständige darauf hin, dass der Auffassung des Gutachters Dr. K. vom 15.01.2004
zuzustimmen sei. Dieser hatte (aber) bereits ausgeführt, dass die hier vorliegenden kieferorthopädischen Befunde weder das
Kauen, Beißen, Sprechen oder Atmen erheblich beeinträchtigten oder zu beeinträchtigen drohten. Darüber hinaus wies Dr. Z.
darauf hin, dass (ebenso wenig) die Ausführungen des Gutachters Dr. Dr. F. zu beanstanden seien, die zu demselben Ergebnis
gekommen waren wie bereits Dr. G. K ... Im Übrigen wurde auch klägerseits zu keinem Zeitpunkt vorgetragen, dass bei der seinerzeit
erhobenen Diagnose "Distalbiss mit Engstand der Unterkiefer-Front" es zu einer erheblichen Beeinträchtigung des Kauens, Beißens,
Sprechens oder Atmens gekommen war, noch dass eine derartige Beeinträchtigung drohte.
Nachdem bereits die gesetzlichen Tatbestandsmerkmale des §
29 Abs.1
SGB V nicht vorliegen, bedarf es keiner Erörterung der zu §
29 Abs.4
SGB V ergangenen Richtlinien, die "lediglich" eine Konkretisierung darstellen. Damit entfällt dann aber auch die Diskussion darüber,
ob die Richtlinien gegen höherrangiges Recht verstoßen.
Somit ist die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG B-Stadt vom 06.08.2008 zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf §
193 SGG und entspricht dem Verfahrensausgang.
Gründe für die Zulassung der Revision gemäß §
160 SGG liegen nicht vor.