Grundleistungen für Asylbewerber
Prinzip der Meistbegünstigung
Analoge Anwendung von § 86b Abs. 1 S. 2 SGG
Gründe
I.
Der 1962 geborene J. und die 1968 geborenen S. J. (spätere Antragsteller und Beschwerdeführer) halten sich seit 1992 als Asylbewerber
in der Bundesrepublik Deutschland auf. Die miteinander verheirateten Antragsteller sind seit 26.2.2014 von der Regierungsaufnahmestelle
für Asylbewerber (Regierung von Oberbayern) dem Landkreis des Antragsgegners zugewiesen. Die Beschwerdeführer erhielten Grundleistungen
gemäß §
3 Asylbewerberleistungsgesetz -
AsylbLG (unter anderem in Form von Taschen- und Essensgeld im Umfang von zuletzt jeweils 153,49 EUR und 136,21 EUR (Nr. 3 des nachgenannten
Bescheides). Die Bewilligung erfolgte mit einem unbefristeten Bescheid vom 24.3.2014 ("bis auf weiteres") an beide Ehegatten
(im Adressfeld befindet sich lediglich der Name des Antragstellers zu 1). Die Erfüllung (der Nr. 3) erfolgte jeweils als Barzahlung.
Bei der Antragstellerin zu 2) erfolgte eine Inhaftierung im Juni 2014.
Für beide Ehegatten erfolgte ein Entzug durch Verwaltungsakt vom 29.8.2014 (Aufhebungsbescheid ab 1.9.2014) wegen entgegenstehenden
Vermögens. Der Antragsteller zu 1) habe einen Pkw, dessen Wert auf 980 EUR geschätzt werde. Dies stelle eine wesentliche Änderung
dar. Es handele sich um einen verwertbaren Gegenstand, der zu Geld gemacht werden könne. Damit bestehe gemäß §
7 AsylbLG kein Anspruch auf Leistungen. Ein Antrag könne frühestens nach Verwertung des Vermögens gestellt werden.
Hiergegen legten beide Ehegatten am 8.9.2014 Widerspruch ein, der am 1.12.2014 an die Regierung von Oberbayern zur Entscheidung
vorgelegt worden ist.
Zwischenzeitlich sind am 1.12.2014 weitere Haftdaten des Antragstellers zu 1) wegen Taten aus dem Aufenthaltsgesetz bekannt geworden, wonach Freiheitsstrafen von 28.11.2014 bis zum 1.4.2015 vorgesehen seien.
Mit Eingang vom 28.1.2015 beklagten sich die Antragsteller beim Sozialgericht München (SG) darüber, dass sie seit Monaten keine Leistungen für den Lebensunterhalt mehr bekommen würden. Eine Klage sei dringlich notwendig.
In einem späteren Schriftsatz vom 6.3.2015 sprechen die Antragsteller davon, dass das Schreiben vom 27.1.2015 auf einstweiligen
Rechtsschutz wegen der Sicherung des monatlichen Lebensunterhalts abziele.
Im Verlaufe dieses Verfahrens hat der Antragsgegner Kopien von 2 Lichtbildern über besagten PKW übersandt und mitgeteilt,
dass der Antragsteller zu 1) am 11.2.2015 von einem Bediensteten des Antragsgegners angesprochen worden sei, dass er sein
Auto kaufen möchte. Darauf habe der Antragsteller zu 1) sinngemäß geäußert, dass er das Auto nicht verkaufen wolle, sondern
selber nutzen und anmelden wolle.
Mit Beschluss vom 11. März 2015 hat das SG "den Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz abgelehnt". Es behandelte den Rechtsbehelf als zulässigen Antrag auf einstweilige
Anordnung. Die Antragsteller strebten eine Erweiterung ihrer Rechtsposition an. Eine Anordnung könne aber nicht ergehen, da
es schon am Anordnungsanspruch fehle. Dazu sei eine abschließende Prüfung der Erfolgsaussichten möglich. Gemäß §
7 Abs.
1 AsylbLG in der gültigen Fassung ab 1.3.2015 in Verbindung mit §
7 Abs.
5 Satz 1
AsylbLG sei das Vermögen über dem Freibetrag (für jeden Antragsteller 200 EUR) einzusetzen. Das übersteigende Vermögen des Antragstellers
zu 1 stehe einer Leistungsgewährung entgegen. Bei einer Recherche vom 10.03.2015 habe das SG für vergleichbare Fahrzeuge Angebote in Höhe von rund 1.000 Euro gefunden. Es liege auch kein Fall des besonderen Schonvermögens
nach §
7 Abs.
5 Satz 2
AsylbLG vor.
Gegen den am 13. 3. 2015 zugestellten Beschluss haben die Antragsteller am 16. 3. 2015 Beschwerde (von diesen als Berufung
bezeichnet) zum Bayer. Landessozialgericht (LSG) eingelegt. Zur Begründung wiederholen sie ihr bisheriges Vorbringen, dass
ihnen Leistungen wie nach Harz IV zustünden und dass sie sich legal in Deutschland aufhielten.
Der Antragsgegner hat am 30.3.2015 mitgeteilt, dass bei einem Besuch der Unterkunft am 25.3.2015 das Kfz noch vorgefunden
worden sei. Dieses Fahrzeug könne jederzeit verkauft werden, es habe noch TÜV bis Mai 2016. Es liege auch kein Anordnungsgrund
vor, da der Antragsteller zu 1) das vorhandene Vermögen in Form des Fahrzeugs innerhalb kürzester Zeit verkaufen könne und
mit dem Verkaufserlös seinen Lebensunterhalt und den seine Ehefrau bestreiten könne.
II.
Der Antrag der Antragsteller ist begründet.
1. Anträge sind im Sinne der Meistbegünstigung auszulegen (§
123 SGG). Der auf einstweiligen Rechtsschutz gerichtete Antrag muss - dazu noch von nicht anwaltlich vertretenen Rechtsschutzsuchenden
- nicht im Einzelnen mit der richtigen rechtlichen Terminologie bezeichnet werden. Grundsätzlich richtiger Rechtsbehelf in
so genannten Anfechtungssachen ist die Anordnung der aufschiebenden Wirkung. Zudem ist die Umdeutung eines Antrages nach §
86b Abs.
2 SGG in einen Antrag auf Feststellung der aufschiebenden Wirkung entsprechend §
86 a Abs.
1 SGG zulässig (Meyer-Ladewig,
Sozialgerichtsgesetz, 11. Auflage, §
86b, Randnummer 15).
Gemäß §
86a Abs.
1 Satz 1
SGG haben Widerspruch und Anfechtungsklage aufschiebende Wirkung. Diese entfällt lediglich bei gesetzlich besonders angeordneten
Gestaltungen (§
86 a Abs.
2 SGG) bzw. in Fällen, in denen die sofortige Vollziehung im öffentlichen Interesse oder im überwiegenden Interesse eines Beteiligten
ist und die Stelle, die den Verwaltungsakt erlassen oder über den Widerspruch zu entscheiden hat, die sofortige Vollziehung
mit schriftlicher Begründung des besonderen Interesses an der sofortigen Vollziehung anordnet (§
86a Abs.
2 Nr.
5 SGG).
2. Ohne Zweifel handelt es sich um eine so genannte Anfechtungssache. Das ist dann der Fall, wenn der involvierten Verwaltungsakt
eine Begünstigung oder Leistung widerruft oder zurücknimmt; dann ist zunächst weiter nach dem zurückgenommenen bzw. widerrufenen
Verwaltungsakt zu verfahren. Dies gilt auch nach dem
AsylbLG, sofern die Gestaltung durch einen Dauerverwaltungsakt erfolgt ist (vgl. LSG Berlin-Brandenburg v. 29.01.2009 - L 23 B 26/08 AY ER - SAR 2009, 57-60; LSG Sachsen v. 03.09.2009 - L 3 AY 1/09 B ER - [...]; und LSG Sachsen v. 03.07.2009 - L 7 B 243/08 AY-ER - [...] - SAR 2009, 94-96 bzw. Oppermann in: jurisPK-SGB XII, 2. Aufl. 2014, §
2 AsylbLG i.d.F. v. 19.08.2007). Bei Geldleistungen muss zunächst weiter nach dem alten Verwaltungsakt gezahlt werden (BSG NZS 98, 300).
a) Beide Antragsteller hatten durch eine Gestaltung des Antragsgegners eine gesicherte Rechtsposition im Sinne von § 39 SGB X erlangt. Die Bewilligung erfolgte mit einem unbefristeten Bescheid vom 24.3.2010 ("bis auf weiteres") an beide Ehegatten,
auch wenn sich im Adressfeld lediglich der Name des Antragstellers zu 1) befand, so war doch die Anrede an beide Antragsteller
gerichtet. Eine Befristung ist diesem Bescheid nicht zu entnehmen. Zwar ist von Vorläufigkeit die Rede, die Leistungen sind
aber bis auf weiteres bewilligt.
b) Der Verwaltungsakt vom 29.8.2014 ist als Aufhebungsbescheid bezeichnet. Es ist eine Befugnisnorm zum Eingriff benannt (§
48 SGB X). Der bewilligende Bescheid vom 24.3.2014 ist genau bezeichnet und solle demnach für die Zeit ab 1.9.2014 aufgehoben werden.
Übrigen bestand nur Veranlassung zur Aufhebung von Nr. 3 des Bescheides. Die Aufhebung der übrigen Ziffern war nicht gerechtfertigt
und vermutlich auch nicht beabsichtigt.
c) Damit liegen die Voraussetzungen von §
86a Abs.
1 Satz 1
SGG vor. Widerspruch und Anfechtungsklage haben aufschiebende Wirkung. Diese Wirkung tritt kraft Gesetz ein, denn einer der zahlreichen
Ausnahmefälle ist nicht gegeben. Weder ist die aufschiebende Wirkung im
AsylbLG ausgeschlossen, noch hat der Antragsgegner eine sofortige Vollziehung angeordnet.
3. Bei Nichtbeachtung der aufschiebenden Wirkung durch die Behörde ist der Antrag auf Feststellung der aufschiebenden Wirkung
in entsprechender Anwendung von §
86b Abs.
1 Nr.
2 SGG zulässig (Meyer-Ladewig,
Sozialgerichtsgesetz, 11. Auflage, § 86b, Randnr. 15). Es besteht ein an Art.
19 Abs.
4 Grundgesetz ausgerichtetes Bedürfnis für eine gerichtliche Hilfestellung, um in diesen Fällen dem (außergerichtlichen) einstweiligen
Rechtsschutz Geltung zu verschaffen. Da der Anfechtungswiderspruch und die Anfechtungsklage gegen die einen Dauerverwaltungsakt
abändernde Regelung aufschiebende Wirkung haben, müssen die Gerichte die aufschiebende Wirkung des Rechtsbehelfs notfalls
feststellen, wenn sich die Behörden an die Suspensivwirkung nicht halten (Oppermann in: jurisPK-SGB XII, 2. Aufl. 2014, §
2 AsylbLG i.d.F. v. 19.08.2007, Rn. 238).
4. Es handelt sich um einen Beschluss mit rein deklaratorischer Wirkung, bei dem weitere Anordnungen zu prüfen sind (siehe
unten). Das Feststellungsinteresse ist gegeben, da der Antragsgegner durch sein Verhalten zu erkennen gegeben hat, dass er
die aufschiebende Wirkung missachtet.
5. Die weitere Prüfung des Vollzugs verlangt hier bei völlige Verkennung der aufschiebenden Wirkung durch den Antragsgegner
auch die Aufhebung der Vollziehung nach §
86b Abs.
1 S 2
SGG zumindest ab dem Eingang des Antrags auf einstweiligen Rechtsschutz beim SG am 28.1.2015. Das Gericht kann zusätzlich zur Feststellung der aufschiebenden Wirkung gemäß § 86b Abs. 1 S. 2 analog die
Aufhebung der Vollziehung anordnen. Die analoge Anwendung folgt daraus, dass die unmittelbare Anwendung der Vorschrift die
Anordnung und nicht die Feststellung voraussetzt. Die Aufhebung der Vollziehung stellt auch im Verhältnis zu der gerichtlichen
Feststellung der aufschiebenden Wirkung eine Annexentscheidung dar. Aufschiebende Wirkung bedeutet, dass der Verwaltungsakt
nicht vollzogen werden darf; es tritt ein Schwebezustand ein, währenddessen vollendete Tatsachen nicht geschaffen werden dürfen
(BSG NZS 98, 300). Dies gilt dem Grunde nach, soweit nicht durch eine Inhaftierung andere Beträge angemessen sind (vgl. § 2 SGB XII i.V.m. dem
Gesetz über den Vollzug der Freiheitsstrafe und der freiheitsentziehenden Maßregeln der Besserung und Sicherung - Strafvollzugsgesetz). Insoweit hat der Senat keine genaue Kenntnis von der Umsetzung der am 1.12.2014 mitgeteilten Haftdaten.
a) Der Senat gibt insoweit zu bedenken, dass ab 1.3.2015 (Art. 3 des Gesetzes zur Verbesserung der Rechtsstellung von asylsuchenden
und geduldeten Ausländern vom 23.12.2014) eine Rechtsänderung erfolgt ist, nach der gemäß §
2 Abs.
1 AsylbLG abweichend von den §§
3 bis
7 AsylbLG das Zwölfte Buch Sozialgesetzbuch auf diejenigen Leistungsberechtigten entsprechend anzuwenden, die sich seit 15 Monaten
ohne wesentliche Unterbrechung im Bundesgebiet aufhalten und die Dauer des Aufenthalts nicht rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusst
haben. Damit wird auch § 90 Abs. 1 Nummer 9 SGB XII Anwendung finden. Danach sind von einer Vermögensverwertung kleinerer Barbeträge oder sonstige Geldwerte verschont. Die Freibeträge
nach § 1 DVO zu § 90 SGBXII umfassen dabei für die 1. Person 1.600 EUR und für den Ehepartner 614 EUR und übersteigen den
geschätzten Wert des einzusetzenden Kfz.
b) Das BSG ist unter Berücksichtigung der Auslegung der Historie von §
2 Abs.
1 AsylbLG zu dem Ergebnis gekommen, dass §
2 Abs.
1 AsylbLG seit der Fassung vom 26.05.1997 eine Vorbezugszeit enthält; im Unterschied zu der bis dahin gültigen Fassung von 1993, die
noch eine reine Wartezeit von einem Jahr enthielt. Leistungen gem. §
3 AsylbLG muss der Leistungsberechtigte daher tatsächlich erhalten haben. Nach der Kommentierung gibt es keinen überzeugenden Grund,
eine nachhaltige Unterbrechung mit der Folge des Neubeginns des Fristenlaufs der Vorbezugszeit anzunehmen, wenn eine längere
Haftstrafe verbüßt wird. Wenn die Haft im Bundesgebiet verbüßt wurde, handelt es sich um eine unschädliche Unterbrechung des
Leistungsbezugs mit der Folge, dass vor der Haft absolvierte Leistungszeiten nach §
3 AsylbLG addiert werden dürfen. Eine bereits begonnene Integration in Deutschland kann ohne weiteres nach der Haftverbüßung fortgesetzt
werden (vgl. Oppermann in: jurisPK-SGB XII, 2. Aufl. 2014, §
2 AsylbLG i.d.F. v. 19.08.2007, Rn. 62 ff.).
c) Schließlich verlangt die Berücksichtigung von Einkommen und Vermögen zwar immer die tatsächliche und rechtliche Möglichkeit,
das Einkommen oder Vermögen sofort einsetzen zu können (bereite Mittel). Fehlt es an so genannten bereiten Mitteln, ist für
die Gewährung von Sozialhilfe mithin die tatsächliche Lage des Hilfesuchenden maßgebend. Vermögensgegenstände, die einen Vermögenswert
besitzen, aktuell jedoch nicht zur Deckung des Hilfebedarfs eingesetzt werden können, weil sie nicht in angemessener Zeit
zu realisieren sind, stehen einem gegenwärtigen sozialhilferechtlichen Bedarf nicht entgegen. Angesichts der Weigerung der
Antragsteller, ihr Kfz zu verkaufen, nochmals bekräftigt mit Schriftsatz vom 13.4.2015, begegnet insoweit die Rechtsansicht
des Antragsgegners keinen Bedenken.
Der Antragsgegner hat die außergerichtlichen Kosten der Antragsteller zu tragen (§
193 SGG).
Dieser Beschluss ist gemäß §
177 SGG unanfechtbar.