Berechnung der Rente wegen voller Erwerbsminderung, Rentenbezug vor Vollendung des 60. Lebensjahres, Minderung des Zugangsfaktors,
Verfassungsmäßigkeit
Gründe:
I. Streitig ist der Wert des Rechts der Klägerin auf Rente wegen voller Erwerbsminderung (EM) für die Zeit vom 1. Dezember
2005 bis 28. Februar 2007.
Die Beklagte bewilligte der 1950 geborenen Klägerin mit Bescheid vom 13. März 2006 Rente wegen voller EM für den streitbefangenen
Zeitraum (Zahlbetrag ab 1. Mai 2006 = monatlich 836,45 €). Die Summe aller Entgeltpunkte (EP) belief sich auf 39,4359; der
Zugangsfaktor von 1,0 verminderte sich für jeden Kalendermonat nach dem 31. Mai 2010 bis zum Ablauf der Vollendung des 63.
Lebensjahres um 0,003, mithin für 36 Kalendermonate um 0,108 auf 0,892. Die persönlichen EP betrugen somit 35,1768 (39,4359
x 0,892). Der Widerspruch der Klägerin, mit dem sich diese gegen die ihrer Auffassung nach zu geringe Rentenhöhe wandte, blieb
erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 17. Mai 2006).
Im Klageverfahren hat die Klägerin beantragt, die Beklagte unter Änderung der angefochtenen Bescheide zu verurteilen, die
Rente wegen voller EM für die Zeit vom 1. Dezember 2005 bis 28. Februar 2007 auf der Grundlage von 39,4359 EP zu zahlen. Das
Sozialgericht (SG) Berlin hat diese Klage mit Urteil vom 26. Juni 2007 abgewiesen. Zur Begründung ist ausgeführt: Die Klägerin habe keinen
Anspruch auf Festsetzung eines höheren Rentenzahlbetrages auf der Grundlage von 39,4359 EP im streitigen Zeitraum. Die Minderung
des Zugangsfaktors beruhe auf §
77 Abs.
2 Satz 1 Nr.
3 Sozialgesetzbuch - Gesetzliche Rentenversicherung - (
SGB VI) und sei rechtens. Auf Grund des Wortlauts der Vorschrift und ihres systematischen Zusammenhangs sei auch bei Inanspruchnahme
einer EM-Rente vor Vollendung des 60. Lebensjahres der Zugangsfaktor zu mindern, vorliegend um 10,8 % für 36 Kalendermonate
(0,003 x 36). Der Auffassung des 4. Senats des Bundessozialgerichts (BSG) in dessen Urteil vom 16. Mai 2006 (- B 4 RA 22/05 R -) werde nicht gefolgt.
Mit der Berufung verfolgt die Klägerin ihr Begehren weiter. Sie trägt insbesondere vor, dass das aus der Verlängerung der
Zurechnungszeit gewonnene "Kompensationsargument" in bestimmten Fällen evident nicht trage, was an einem Beispiel erläutert
wird.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 26. Juni 2007 aufzuheben und die Beklagte unter Änderung des Bescheides vom 13. März
2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17. Mai 2006 zu verurteilen, die Rente wegen voller Erwerbsminderung für
die Zeit vom 1. Dezember 2005 bis 28. Februar 2007 auf der Grundlage von 39,4359 persönlichen Entgeltpunkten zu zahlen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.
Die Rentenakte der Beklagten und die Gerichtsakte haben vorgelegen und sind Gegenstand der Beratung gewesen.
II. Der Senat hat gemäß §
153 Abs.
4 Satz 1
Sozialgerichtsgesetz (
SGG) die Berufung durch Beschluss zurückweisen können, weil er dieses Rechtsmittel einstimmig für unbegründet und eine mündliche
Verhandlung nicht für erforderlich gehalten hat. Die Beteiligten sind hierzu vorher gehört worden (§
153 Abs.
4 Satz 2
SGG).
Die Berufung der Klägerin ist nicht begründet.
Die Klägerin hat gegen die Beklagte keinen Anspruch auf Zahlung der ihr für die Zeit vom 1. Dezember 2005 bis 28. Februar
2007 bewilligten Rente wegen voller EM - nur dieser Leistungszeitraum war vorliegend streitbefangen, so dass sich die Frage
der Einbeziehung des für die Zeit ab 1. März 2007 ergangenen Folgebescheides vom 29. Januar 2007 in das Verfahren gemäß den
§§
153 Abs.
1,
96 Abs.
1 SGG ohnehin nicht stellt - auf der Grundlage von 39,4359 EP. Die Beklagte hat vielmehr den Monatsbetrag der Rente zutreffend
aus 35,1768 EP errechnet.
Der Monatsbetrag der Rente ergibt sich gemäß §
63 Abs.
6, §
64 Nrn. 1 bis 3
SGB VI, wenn die unter Berücksichtigung des Zugangsfaktors ermittelten persönlichen EP, der Rentenartfaktor und der aktuelle Rentenwert
mit ihrem Wert bei Rentenbeginn miteinander vervielfältigt werden. §
77 Abs.
2 Satz 1 Nr.
3 SGB VI (vorliegend in der bis 31. Dezember 2007 geltenden und gemäß §
300 Abs.
2 SGB VI anwendbaren Fassung) bestimmt die Höhe des Zugangsfaktors für EM-Renten. Danach sinkt der Zugangsfaktor von 1,0 um 0,003
für jeden Kalendermonat, für den eine Rente vor Ablauf der Vollendung des 63. Lebensjahres in Anspruch genommen wird. §
77 Abs.
2 Satz 2
SGB VI in der bis 31. Dezember 2007 geltenden Fassung ergänzt diese Vorschrift dahingehend, dass die Vollendung des 60. Lebensjahres
für die Bestimmung des Zugangsfaktors maßgeblich sein soll. Dies dient einer Begrenzung der Minderung des Zugangsfaktors bei
jüngeren erwerbsgeminderten Versicherten wie der Klägerin (vgl. BSG, Urteil vom 14. August 2008 - B 5 R 32/07 - veröffentlicht in juris -). Die davon abweichende Vorschrift des §
264c SGB VI in der bis 31. Dezember 2007 geltenden Fassung ist vorliegend nicht anwendbar, weil die EM-Rente der Klägerin nicht vor dem
1. Januar 2004 beginnt. Die Regelung des §
77 Abs.
2 Satz 3
SGB VI in der bis 31. Dezember 2007 geltenden Fassung, wonach die Zeit des Bezugs einer Rente vor Vollendung des 60. Lebensjahres
nicht als Zeit einer vorzeitigen Inanspruchnahme gilt, führt entgegen der Auffassung des 4. Senats des Bundessozialgerichts
(BSG SozR 4-2600 § 77 Nr. 3) zu keiner anderen Beurteilung. Denn der Rechtsauffassung des 4. Senats, der mit dieser Rechtsfrage
nach einer Änderung des Geschäftverteilungsplanes nicht mehr befasst werden kann, ist - wie nunmehr der 5. Senat des BSG (aaO.)
und der 13. Senat (Beschluss vom 26. Juni 2008 - B 13 R 9/08 S -) auf dessen Anfrage hin entschieden haben - nicht zu folgen. Mit der Vorschrift des §
77 Abs.
2 Satz 3
SGB VI wird vielmehr im Interesse des Versicherten (lediglich) eine Ausnahme von dem sich aus §
77 Abs.
2 Satz 1 Halbsatz 2, Abs.
3 Satz 1
SGB VI ergebenden Grundsatz geschaffen, dass ein früherer Zugangsfaktor auch für spätere Renten maßgeblich sein soll (vgl. BSG,
Urteil vom 14. August 2008 - B 5 R 32/07 -). Der Senat legt diese Rechtsprechung seiner Entscheidung zugrunde.
Nach Maßgabe der genannten Vorschriften hat die Beklagte vorliegend den Zugangsfaktor um (maximal) 0,108 (0,003 x 36 Kalendermonate)
gemindert und auf 0,892 festgelegt. Die errechneten persönlichen EP (39,4359) mindern sich insoweit um 4,2591 auf 35,1768
EP. Hieraus resultiert eine Minderung der EM-Rente allein aus der Absenkung des Zugangsfaktors um 111,29 € per 1. Dezember
2005 (= Rentenbeginn), die allerdings durch die gleichzeitig erfolgte weitergehende - volle - Berücksichtigung von Zurechnungszeiten
bis zum 60. Lebensjahr (vgl. §§
59 Abs.
1 und Abs.
2 Satz 2,
253a SGB VI) abgemildert und teilweise kompensiert wird. Bei der Klägerin wurde demgemäß eine Zurechnungszeit vom 9. Februar 2005 (Eintritt
der vollen EM) bis 5. Mai 2010 (Vollendung des 60. Lebensjahres) angerechnet, die letztlich zu einer Rentenminderung im Vergleich
zum bisherigen Recht von (nur) 22,44 €, bezogen auf den 1. Dezember 2005, führt.
§
77 Abs.
2 SGB VI verstößt nicht gegen Verfassungsrecht. Die Regelung stellt sich im Hinblick auf Art.
14 Grundgesetz (
GG) als zulässige Inhalts- und Schrankenbestimmung dar (vgl. BSG aaO.). Sie dient dem Erhalt der Funktions- und Leistungsfähigkeit
der gesetzlichen Rentenversicherung und soll das Versicherungsrisiko der unterschiedlich langen Rentenbezugsdauer mit Hilfe
versicherungsmathematischer Abschläge neutralisieren. Zudem wollte der Gesetzgeber damit der Gefahr begegnen, dass im Hinblick
auf die gesetzlich normierten Abschläge bei vorzeitiger Inanspruchnahme von Altersrenten ein Ausweichen auf die EM-Rente zu
befürchten war (vgl. BSG aaO. unter Hinweis auf BT-Drucks 11/4452 S 9 Nr. 9 und BT-Drucks 14/4230 S 26 zu Nr. 16 und Nr. 26).
Die Absenkung des Zugangsfaktors ist auch zumutbar. Denn sie greift in bestehende Rentenansprüche nicht ein, wurde durch die
Übergangsregelung des §
264c SGB VI in der bis 31. Dezember 2007 geltenden Fassung abgemildert und über die verlängerte Zurechnungszeit nach den §§
59,
253a SGB VI teilweise kompensiert. Auch ein Verstoß gegen Art.
3 Abs.
1 GG liegt nicht vor. Es bestehen gegenüber nicht erwerbsgeminderten vorzeitigen Altersrentnern keine Unterschiede von solchem
Gewicht, die es verfassungsrechtlich als geboten hätten erscheinen lassen, EM-Rentner von den Rentenabschlägen auszunehmen.
Vielmehr hat der Gesetzgeber den Unterschieden durch den geringeren Abschlag und die genannten Kompensationsregelungen ausreichend
Rechnung getragen (vgl. BSG aaO.). Gleiches gilt auch im Hinblick auf Art.
3 Abs.
3 Satz 2
GG.
Die Kostenentscheidung beruht auf §
193 SGG.
Gründe für eine Zulassung der Revision nach §
160 Abs.
2 Nrn. 1 oder 2
SGG liegen nicht vor.