Rücknahme von Leistungsbewilligungen
Anspruch auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung einer Klage
Anspruch eines EU-Bürgers
Wirkung eines Leistungsausschlusses
Folgenabwägung in einem Eilverfahren
Gründe:
Die Beschwerde des Antragsgegners, über die nach Eingang der Erwiderung der Antragsteller vom 6. Juni 2018 zu entscheiden
war, ist in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang begründet; im Übrigen ist sie unbegründet und war zurückzuweisen.
Soweit der Antragsgegner die zuletzt mit Änderungsbescheid vom 25. November 2017 für die Zeit vom 1. November 2017 bis 30.
April 2018 bewilligten Leistungen bis einschließlich 31. März 2018 an die Antragsteller ausgezahlt hat, besteht für den Antrag
auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der am 11. April 2018 erhobenen Klage bereits kein Rechtsschutzbedürfnis. Er ist
mithin unzulässig. Denn die Klage gegen die insoweit geltend gemachten Erstattungsforderungen des Antragsgegners - zuletzt
mit Bescheiden vom 22. Mai 2018, die entgegen der darin enthaltenen Rechtsbehelfsbelehrung Gegenstand des Klageverfahrens
gemäß §
96 Abs.
1 Sozialgerichtsgesetz (
SGG) geworden sind - entfaltet ebenso wie der Widerspruch aufschiebende Wirkung kraft Gesetzes nach §
86a Abs.
1 Satz 1
SGG. § 39 Nr. 1 Sozialgesetzbuch - Grundsicherung für Arbeitsuchende - (SGB II) erfasst hingegen nur die Aufhebungsentscheidungen als solche. Deren Rechtmäßigkeitsprüfung bleibt indes dem Hauptsacheverfahren
vorbehalten, ohne dass daraus derzeit unzumutbare Nachteile für die Antragsteller resultieren würden. Es ist derzeit nicht
ersichtlich, dass der Antragsgegner die kraft Gesetzes eingetretene aufschiebende Wirkung der Klage bzw eines weiteren Widerspruchs
gegen die in den Bescheiden vom 22. Mai 2018 enthaltenen Erstattungsentscheidungen nicht beachten würde. Die in den Verwaltungsakten
enthaltene Mahnsperre bis zum 22. Juni 2018 ist ggf bis zum Abschluss des Klageverfahrens, dh bis auf weiteres, zu verlängern.
Im Übrigen, dh hinsichtlich der vom Sozialgericht (SG) gemäß §
86b Abs.
1 Satz 1 Nr.
2 SGG angeordneten aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die Aufhebungsentscheidungen für April 2018 (zuletzt für die Zeit bis
31. März 2018 vom Antragsgegner erneut verlautbart mit den Bescheiden vom 22. Mai 2018), ist die Beschwerde hingegen nicht
begründet, wobei das Beschwerdegericht nach einer eingeholten Auskunft vom 6. Juni 2018 weiterhin davon ausgeht, dass die
Antragsteller unter der im Rubrum bezeichneten Unterkunft wohnhaft sind, was deren Bevollmächtigter ebenfalls bestätigt hat.
Weitergehende Ermittlungen waren diesbezüglich im gerichtlichen Eilverfahren untunlich und bleiben ggf dem Hauptsacheverfahren
vorbehalten.
Die Aufhebungsentscheidung für April 2018 ist zwar nicht offensichtlich rechtswidrig, so dass dem in § 39 Nr. 1 SGB II iVm §
86a Abs.
2 Nr.
4 SGG gesetzlich angeordneten grundsätzlichen Vorrang des Vollzugsinteresses Rechnung zu tragen wäre. Ein materielles Freizügigkeitsrecht
der Antragsteller nach dem Gesetz über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern (FreizügG/EU) oder ein Aufenthaltsrecht nach dem Aufenthaltsgesetz sind - mit Ausnahme eines Aufenthaltsrechts zur Arbeitsuche nach § 2 Abs. 2 Nr. 1a FreizügG/EU - nicht ersichtlich, so dass die Antragsteller dem Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2b SGB II unterfallen. Von einer Arbeitnehmereigenschaft des Antragstellers zu 1) in Ausfluss der für die Zeit vom 2. Mai 2017 bis
31. Oktober 2017 behaupteten geringfügigen Beschäftigung dürfte nicht auszugehen sein, da bereits keine Meldung des vorgeblichen
geringfügigen Beschäftigungsverhältnisses bei der Minijob-Zentrale der Deutschen Rentenversicherung Knappschaft-Bahn-See erfolgte
(vgl Mitteilung vom 6. Dezember 2017). Auch hat die Bundesagentur für Arbeit keine Bescheinigung über die unfreiwillige Arbeitslosigkeit
iSv § 2 Abs. 3 Nr. 2 FreizügG/EU erteilt. Letztlich spricht daher auch wenig für ein durch ein durch einen etwaigen Schulbesuch des Antragstellers zu 3) vermitteltes
Aufenthaltsrecht der Eltern nach Art. 10 der Verordnung (EU) Nr. 492/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates über die
Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Union vom 5. April 2011 (Abl L 141, S 1), weil dieses die Wanderarbeitnehmereigenschaft
voraussetzt.
Vorliegend ist indes zu beachten, dass der Vorbehalt des § 7 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2b SGB II - wie das Bundessozialgericht (BSG) zur alten Rechtslage ausdrücklich klargestellt hatte (vgl Urteile vom 3. Dezember 2015 - B 4 AS 59/13 R ua - juris; vgl auch seine Rspr bekräftigend BSG, Urteil vom 30. August 2017 - B 14 AS 31/16 R -), nicht für Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch - Sozialhilfe - (SGB XII) gilt. In Ansehung der Rechtsprechung des BSG bestehen auch erhebliche Zweifel, ob der vom Gesetzgeber insoweit als Klarstellung gedachte (parallele) Leistungsausschluss
in § 23 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 SGB XII grundgesetzkonform ist. Das BSG hat in der zitierten Rspr unmissverständlich auf Grundlage der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) einen
Anspruch von Betroffenen, wie der Antragsteller, auf Grundlage des Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums,
dh unmittelbar kraft Verfassungsrechts, bekräftigt. Dies gilt unverändert auch in Ansehung der seit 29. Dezember 2016 erfolgten
gesetzlichen Neuregelung, die sich ebenfalls am
Grundgesetz messen lassen muss. Die Antragsteller, die sich in der Bundesrepublik Deutschland erlaubt aufhalten (vgl Art. 10 VO (EU)
492/2011) dürften nach dieser Rspr von den Leistungen des § 23 Abs. 1 SGB XII im Übrigen auch nicht gemäß § 21 Satz 1 SGB XII (durch das Gesetz zur Regelung von Ansprüchen ausländischer Personen in der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch und in der Sozialhilfe nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch vom 22. Dezember 2016 [Bundesgesetzblatt 2016 Teil I S. 3155] hat der Gesetzgeber anerkannt, dass die in § 7 Absatz 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II "genannten erwerbsfähigen Ausländerinnen und Ausländer und ihre Familienangehörigen dem Leistungssystem des SGB XII zugewiesen" sind [vgl. Bundestagsdrucksache 18/10211 S. 14]) ausgeschlossen sein.
Hat danach im Hinblick auf die nicht abschließend geklärte Rechtslage und den Existenzsicherungszweck der begehrten Grundsicherungsleistungen
eine verfassungs-rechtlich gebotene Folgenabwägung zu erfolgen, ist zu beachten, dass die Nachteile, die den Antragstellern
bei einer Ablehnung des Antrags bei angenommener Begründetheit der Klage in der Hauptsache entstünden, sich als schwerwiegender
erweisen als die den Antragsgegner treffenden Nachteile bei Stattgabe des Antrags und angenommener Unbegründetheit der Hauptsache.
Die durch eine Ablehnung des Antrags danach bewirkte erhebliche Beeinträchtigung könnte nachträglich nicht mehr ausgeglichen
werden, da der elementare Lebensbedarf eines Menschen grundsätzlich nur in dem Augenblick befriedigt werden kann, in dem er
entsteht (sog Gegenwärtigkeitsprinzip; vgl BVerfG, Beschluss vom 12. Mai 2005 - 1 BvR 569/05 -, juris Rn 19 mwN). Die Gefahr der Uneinbringlichkeit eines Rückforderungsanspruchs bezüglich der für April 2018 (noch)
zu leistenden Zahlungen, wenn sich nachträglich herausstellen sollte, dass diese ohne Rechtsgrundlage erfolgt sind, überwiegt
die Interessen der Antragsteller nicht.
Der Antragsgegner wäre zwar für die Erbringung von SGB XII-Leistungen nicht zuständig, zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes gerade bei Leistungen der Existenzsicherung ist vorliegend
aber auf die Wertung des §
43 Abs.
1 Satz 2 Sozialgesetzbuch - Allgemeiner Teil - (
SGB I) zurückzugreifen. Danach sind, wenn zwischen mehreren Trägern streitig ist, wer zur Leistung verpflichtet ist, vorläufige
Leistungen vom unzuständigen Träger zu erbringen, wenn der Berechtigte es beantragt. Dies rechtfertigt zur Gewährung effektiven
Rechtsschutzes die Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die Aufhebungsentscheidung des Antragsgegners für
April 2018, da nur auf diesem Wege eine umgehende Bedarfsdeckung möglich ist. Der Antragsgegner wäre, sollte sich im Hauptsacheverfahren
im Ergebnis ein SGB II-Leistungsausschluss und ein Anspruch nach dem SGB XII ergeben, dann insoweit auf einen Erstattungsanspruch gegenüber dem SGB XII-Träger zu verweisen, zumal er den Leistungsantrag augenscheinlich auch nicht an diesen Träger weitergeleitet hat.
Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung von §
193 SGG.
Der Vollstreckungsaussetzungsantrag des Antragsgegners (vgl §
199 Abs.
2 SGG) hat sich durch die Beschwerdeentscheidung erledigt. Die Entscheidung des SG hatte ohnehin keinen vollstreckungsfähigen Inhalt.
Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde an das BSG angefochten werden (§
177 SGG).