SGB-II-Leistungen für einen französischen Staatsbürger
Anwendbarkeit eines Leistungsausschlusses
Gründe:
Die zulässige Beschwerde ist unbegründet.
Das Sozialgericht hat im Ergebnis zu Recht den Antragsgegner im Wege des Erlasses einer einstweiligen Anordnung verpflichtet,
Leistungen der Grundsicherung nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch - SGB II - zu erbringen.
Die Voraussetzungen für den beantragten Erlass einer einstweiligen Anordnung liegen vor.
Nach §
86b Abs.
2 Satz 2
SGG kann das Gericht einstweilige Anordnungen zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis
treffen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Die Antragsteller müssen glaubhaft
machen (§
86b Abs.
2 Satz 4
SGG i. V. m. §
920 Abs.
2 Zivilprozessordnung -
ZPO), dass ihnen ein Anspruch auf die geltend gemachte Leistung zusteht (Anordnungsanspruch) und dass das Abwarten einer gerichtlichen
Entscheidung in einem Hauptsacheverfahren für sie mit unzumutbaren Nachteilen verbunden wäre (Anordnungsgrund).
Der Antragsteller hat einen Anordnungsanspruch und einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht.
Der Antragsteller, der als französischer Staatsbürger in B lebt, ist erwerbsfähig im Sinne des § 8 SGB II. Er ist nach seinen glaubhaften Angaben hilfebedürftig, da er nicht über ausreichendes Einkommen oder Vermögen verfügt, um
seinen Lebensunterhalt zu bestreiten (§ 9 Abs. 1 SGB II). Damit sind die Voraussetzungen für einen Leistungsbezug nach §§ 7 Abs. 1, 19 ff. SGB II gegeben.
Der Antragsteller ist als französischer Staatsbürger nicht nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II vom Leistungsbezug des SGB II ausgeschlossen. In Betracht kommt hier allein, da der Antragsteller sich bereits länger als drei Monate in der Bundesrepublik
Deutschland aufhält, der Ausschlusstatbestand des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II. Danach sind von Leistungsansprüchen nach dem SGB II ausgeschlossen Ausländerinnen und Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitssuche ergibt.
Selbst wenn sich das Aufenthaltsrecht des Antragstellers hier allein aus dem Zweck der Arbeitssuche ergäbe, wäre der Antragsteller
dennoch nicht vom Leistungsbezug ausgeschlossen.
Die Regelung des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II ist nämlich auf Staatsangehörige eines Vertragsstaates des Europäischen Fürsorgeabkommens vom 11. Dezember 1953 - EFA - nicht
anzuwenden, weil Art. 1 EFA dies völkerrechtlich ausschließt. Frankreich ist Vertragsstaat des EFA, so dass die Ausschlussregelung
des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II für den Antragsteller nicht zur Anwendung kommt.
Art. 1 EFA schließt als unmittelbar geltendes, spezielleres Bundesrecht die Anwendung des Ausschlusstatbestandes für Staatsangehörige
von Vertragsstaaten aus. Mit Art. 1 EFA hat sich die Bundesrepublik Deutschland als Vertragsstaat verpflichtet, Staatsangehörigen
anderer vertragsschließender Staaten - wie dem Antragsteller -, die sich im Staatsgebiet erlaubt aufhalten und nicht über
ausreichende Mittel verfügen, in gleicher Weise wie Bundesbürgern Fürsorgeleistungen zu gewähren. Zu diesen Fürsorgeleistungen
gehörte die laufende Hilfe zum Lebensunterhalt nach §§ 11 ff. Bundessozialhilfegesetz - BSHG - (Art. 2 Abs. a und b EFA in Verbindung mit Buchst. A Anhang I zum EFA, Fassung vom 01.02.1991, BGBl II S. 686), der bis zum 01. Januar 2005 einzigen klassischen Fürsorgeleistung im Sozialleistungssystem der Bundesrepublik Deutschland.
Eine Einschränkung dieser völkervertraglichen Fürsorgegewährleistung ist nach Einführung des BSHG nur durch den bezüglich der Leistungen nach § 30 BSHG (Hilfen zum Aufbau oder zur Sicherung der Lebensgrundlage) und nach § 70 BSHG (Hilfen zur Überwindung besonderer sozialer Schwierigkeiten) erfolgt (Anhang II EFA, Fassung ab dem 01.12.1982 [BGBl 1983,
II S. 338]; Anhang II EFA, Fassung ab dem 01.02.1991 [BGBl II S. 687]). Damit war die Fürsorgeleistung "Hilfe zum Lebensunterhalt"
nach dem BSHG von der von der Bundesrepublik Deutschland eingegangenen völkervertraglichen Verpflichtung erfasst. Diese Verpflichtung erfasst
auch die Leistungen der Grundsicherung nach §§ 19 ff. SGB II. Bei diesen handelt es sich um Fürsorgeleistungen, denn sie haben lediglich begrifflich und nicht materiell die Fürsorgeleistungen
für erwerbsfähige Hilfebedürftige ersetzt. Die Normierung der vormalig im BSHG für alle Hilfebedürftigen geregelten Fürsorgeleistung in nunmehr zwei Regelungssystemen der Sozialhilfe, die maßgeblich im
Bereich der Leistungen zum Lebensunterhalt nach der Fähigkeit, eine Erwerbstätigkeit aufnehmen zu können, differenzieren (und
nicht etwa nach einem bestimmten Sicherungsniveau, einer Beitragsleistung), und die auch im Bereich der Grundsicherung nicht
in einem Subsidiaritätsverhältnis stehen, hat an der Leistungsart "Fürsorgeleistung" im Sinne des EFA nichts geändert (BSG v. 19.10.2010, B 14 AS 23/10 R, juris, Rn. 32, 35; LSG Berlin-Brandenburg v. 09.05.2012, L 19 AS 794/12 B ER, L 19 AS 795/12 B PKH; aA. LSG Berlin-Brandenburg v. 07. Mai 2013, L 29 AS 514/13 B ER, nicht veröffentlicht).
Da sich Angehörige von Vertragsstaaten des EFA direkt auf Art. 1 EFA berufen können (vgl. BSG v. 19.10.2012, B 14 AS 23/10 R, aaO., Rn. 24 m.w.N.), ist § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II als "jüngere" Regelung im Einklang mit der von der Bundesrepublik Deutschland eingegangenen Verpflichtung völkerrechtskonform
auszulegen. Anhaltspunkte dafür, dass der Gesetzgeber spezielleres älteres Völkerrecht durch die spätere innerstaatliche Regelung
außer Kraft setzen wollte, ergeben sich nicht, da ein solcher Wille bei Inkraftsetzen der Regelung des § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II zum 28. August 2007 (Art. 6 Abs. 9 Nr. Gesetz zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der europäischen Union vom 19.08.2007, BGBl I 1970)
nicht bekundet worden ist (vgl. BVerfG v. 26.03.1987, 2 BvR 589/79, 2 BvR 740/81, 2 BvR 284/85, juris, Rn. 35; BVerwG v. 18.05.2000, 5 C 29/98, juris, Rn. 27). Aus dem Gesetz ergibt sich ein solcher Wille ebensowenig wie aus seiner Begründung (BT Dr. 16/688 S. 13
zu Nr. 2). Eine Außerkraftsetzung durch Rechtssetzung der europäischen Union ist ebenfalls nicht erfolgt (vgl. hierzu aber:
LSG Berlin-Brandenburg v. 07. Mai 2013, L 29 AS 514/13 B ER).
An dieser sich aus der völkerrechtlichen Verpflichtung aus Art. 1 EFA ergebenen zwingenden Auslegung des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II hat sich auch nichts durch den von der Bundesregierung mit Wirkung zum 19. Dezember 2011 für Leistungen nach dem SGB II unter Berufung auf Art. 16 b) EFA erklärten Vorbehalt geändert (i.E. wie hier: LSG Berlin-Brandenburg v. 09. Mai 2012, L 19 AS 794/12 B ER, L 19 AS 795/12 B PKH, aaO.; LSG Sachs.-Anh. v. 29.01.2013, L 2 AS 903/12 B ER, juris; Zweifel an der Wirksamkeit des Vorbehalts mit der auch hier vertretenen Begründung: LSG Rheinland-Pfalz v. 21.
August 2012, L 3 AS 250/12 B ER, aaO., Rn. 42, 43; a.A.: BSG, EuGH-Vorlage vom 12. Dezember 2013, B 4 AS 9/13 R, juris, allerdings ohne jegliche Begründung und ausdrücklich nur im Rahmen der "Vorprüfung" im Vorlageverfahren; LSG Berlin-Brandenburg
v. 07. Juni 2012 und 07. Mai 2013, L 29 AS 920/12 B ER und L 29 AS 514/13 B ER, juris; v. 02. August 2012, L 5 AS 1297/12 B ER, juris; v. 11. März 2013, L 31 AS 318/13 B ER, juris; LSG Nds.-Br. v. 24.07.2014, L 15 AS 202/14 B ER, juris; offengel. LSG NRW v. 14.01.2015 - L 19 AS 218/14 B ER - juris, Rn. 18).
Nach Art. 16 b EFA hat jeder Vertragsschließende dem Generalsekretär des Europarates alle neuen Rechtsvorschriften mitzuteilen,
die in Anhang I noch nicht aufgeführt sind. Gleichzeitig kann der Vertragsschließende Vorbehalte hinsichtlich der Anwendung
dieser neuen Rechtsvorschriften auf Staatsangehörige der anderen Vertragschließenden machen.
Bei den Regelungen des SGB II zu Leistungen der Grundsicherung nach §§ 19 ff. SGB II (bei Einführung des SGB II nach § 19 Nr. 1 SGB II) handelt es sich schon nicht um neue Rechtsvorschriften im Sinne des Art. 16 b EFA, da es sich - wie bereits dargelegt - weiterhin um Regelungen der Fürsorgeleistungen handelt, die bereits von Art. 1 EFA erfasst waren, da ein Vorbehalt hinsichtlich dieser vormals im BSHG geregelten Leistungen, nicht erklärt worden ist, (so wohl BSG v. 19.10.2010, B 14 AS 23/10 R, aaO., Rn. 35). Art. 16 b EFA ermächtigt die Vertragschließenden nicht, im Wege eines Vorbehalts bereits von Art. 1 EFA
erfasste Verpflichtungen im Nachhinein aufzukündigen. Bezüglich Fürsorgeleistungen der Sozialhilfe hat die Bundesrepublik
Deutschland einen Vorbehalt hinsichtlich der Gleichbehandlungsverpflichtung gerade nicht bezogen auf die laufende Hilfe zum
Lebensunterhalt erklärt (BSG, aaO.). Art. 16 b EFA soll den Vertragsschließenden die Möglichkeit geben, Vorbehalte hinsichtlich Rechtsvorschriften zu erklären, bezüglich
derer sie bei Vertragsschluss noch keine Erklärungen abgeben konnten. Art. 16 b EFA bietet den Vertragschließenden keine Grundlage,
sich aus bereits bestehenden Verpflichtungen einseitig zu lösen und den erreichten gesetzlichen Fürsorgestandard für Staatsangehörige
von Vertragsschließenden des EFA nachträglich abzusenken (BVerwG v. 18.05.2000, 5 C 29/98, aaO., Rn. 19 f.; LSG Rheinland-Pfalz v. 21.08.2012, L 3 AS 250/12 B ER, aaO., Rn. 42; LSG Berlin-Brandenburg v. 23.05.2012, L 25 AS 837/12 B ER, juris, Rn. 7; a.A. LSG Berlin-Brandenburg v. 02.08.2012, L 5 AS 1297/12 B ER, aaO.). Dies gilt nicht nur für die Einfügung einer den Anspruch dieses Personenkreises ausschließenden Norm in dem
"alten" Leistungsgesetz", sondern auch bei Fortschreibung fürsorgerechtlicher Ansprüche in einem neuen Leistungsgesetz. Eine
Aufkündigung bereits eingegangener Verpflichtungen über Art. 16 b EFA würde eine Umgehung der Regelung zur Kündigung des Abkommens
bedeuten. Das EFA regelt nicht die teilweise Kündigung des Abkommens. Nach Art. 24 EFA verlängert sich die Geltungsdauer für
die einzelnen Vertragsschließenden von Jahr zu Jahr, wenn es nicht innerhalb einer geregelten Frist (anfangs sechs Monate,
nunmehr für die Bundesrepublik Deutschland ein Jahr) durch an den Generalsekretär des Europarates zu richtende Erklärung gekündigt
wird. Gerade weil das Abkommen den Staatsangehörigen der Vertragsstaaten auch in anderen Hoheitsgebieten Rechte aus Verpflichtungen
gewährt, sind "Teilkündigungen" von bereits eingegangenen Verpflichtungen nicht vorgesehen. Andernfalls könnte sich ein Vertragsstaat
einseitig aus bereits eingegangenen Verpflichtungen lösen, ohne für die Staatsangehörigen seines Landes die im Falle einer
Kündigung nach Art. 24 EFA eintretenden Folgen in Kauf nehmen zu müssen. Soweit vertreten wird, dass die Wirksamkeit des erklärten
Vorbehalts unabhängig von der Zulässigkeit vom Verhalten des anderen Abkommensstaates abhänge, der ggf. einen Einspruch geltend
machen müsse und bei multilateralen Verträgen bei einem einfachen Vorbehalt eine stillschweigende Annahme möglich sei (LSG
Berlin-Brandenburg v. 11. März 2013, L 31 AS 318/13 B ER, juris, Rn. 15), folgt der Senat dieser Auffassung für einen hier im Vertrag geregelten Vorbehalt nicht. Diese Rechtsauffassung
mag hinsichtlich der bei Vertragsschluss angebrachten Vorbehalte nach Art. 21, Art. 23 des Wiener Übereinkommens über das
Recht der Verträge - WVK - zutreffend sein (hierzu auch Wolfram Karl in Lexikon des Rechts - Völkerrecht -, 2. Auflage, Seite
399). Die insoweit heranzuziehenden Regelungen gelten allerdings ausschließlich für bei Abschluss und Inkrafttreten von Verträgen
angebrachte Vorbehalte (Art. 19 WVK; Teil II, Abschnitt 2 WVK; vgl. Steffen/Keßler, ZAR 2012, S. 245 ff.; vgl. zu Vorbehalten im Sinne der WVK allgemein: Stein/v. Buttlar, Völkerrecht, 13. Aufl. 2012, Rn. 71 ff.; Ipsen, Völkerrecht,
6. Aufl. 2014, § 15, zu dem Begriff eines Vorbehalts i.S. der WVK vgl. § 15, Rn. 2 f.). Die Änderung und Modifikation von
geltenden Verträgen und deren Beendigung richten sich demgegenüber nach den im Vertrag vereinbarten Regelungen bzw. nach Teil
IV, V der WVK. Ist wie hier die Anbringung von Vorbehalten im Vertrag vorgesehen und sind hierfür in dem Vertrag Regelungen
zur Zulässigkeit getroffen worden, richtet sich die Zulässigkeit solcher Vorbehalte allein nach der vertraglichen Gestaltung,
hier nach Art. 16 EFA. Wollen nämlich die Vertragsparteien nur für ausdrücklich geregelte Fälle Vorbehalte auch für die Zeit
nach Vertragsschluss zulassen, schließt das Vertragswerk bereits von ihm nicht erfasste Vorbehalte aus, die dann auch nicht
wirksam werden können. Ein Rückgriff auf Regelungen, die eine Vorbehaltserklärung bei Vertragsschluss ermöglichen (Art. 21
ff. WVK), ist insoweit nicht zulässig (Für eine Unwirksamkeit des Vorbehalts auch bei Anwendung der Vorbehaltsregelung der
WVK auf nachträglich erklärte Vorbehalte: Steffen/Keßler, aaO., S. 247; die Wirksamkeit des erklärten Vorbehalts problematisierend:
Merold, ZFSH-SGB 2014, S. 455, 456).
Die Unwirksamkeit des erklärten Vorbehalts führt zur Unbeachtlichkeit der Erklärung bei der Anwendung des EFA, da gerade keine
Kündigung des Vertrages gewollt war.
Nach allem ist vorliegend ein Anspruch auf Leistungen der Grundsicherung nach §§ 19 ff. SGB II glaubhaft gemacht.
Da der Antragsteller glaubhaft über keine Mittel verfügt, um seinen Lebensunterhalt zu bestreiten und ein Erhalt eines auskömmlichen
Arbeitsplatzes nicht zu erwarten ist, ist ihm ein Abwarten einer Entscheidung im Hauptsacheverfahren nicht zumutbar und es
besteht ein eiliges vorsorgliches Regelungsbedürfnis.
Zutreffend hat das Sozialgericht auch die Höhe des zuerkannten Anspruchs auf 80 v.H. der Regelleistung begrenzt. Leistungen
für kosten der Unterkunft hat der Antragsteller mit dem Antrag beim Sozialgericht nicht geltend gemacht, so dass hierüber
nicht zu entscheiden war. Auch hinsichtlich des tenorierten Zeitraums der einstweiligen Verpflichtung folgt der Senat der
Begründung des Sozialgerichts.
Die Kostenentscheidung folgt aus der entsprechenden Anwendung des §
193 SGG und entspricht dem Ausgang des Verfahrens.
Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde zum Bundessozialgericht angefochten werden, §
177 SGG.