Gründe:
I. Die Klägerin begehrt von der Beklagten höhere Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung ohne Minderung des Zugangsfaktors.
Der im Oktober 1955 geborenen Klägerin bewilligte die Beklagte mit Bescheid vom 18. Oktober 2005 Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung
ab 01. April 2005 nach einem am 04. März 2005 eingetretenen Leistungsfall mit 19,7962 persönlichen Entgeltpunkten, die sie
unter Zugrundelegung eines Zugangsfaktors von 0,892 ermittelte. Sie verminderte den Zugangsfaktor von 1,0 für jeden Kalendermonat
nach dem 31. Oktober 2015 (dem Kalendermonat nach Vollendung des 60. Lebensjahres) bis zum Ablauf des Kalendermonats der Vollendung
des 63. Lebensjahres um 0,003, also für 36 Kalendermonate um insgesamt 0,108, auf 0,892 und vervielfältigte damit den Teil
der Summe aller aus rentenrechtlichen Zeiten ermittelten Entgeltpunkte (44,3862) von 22,1931 Punkte, die daraus resultierten,
dass diese Rente in Höhe der Hälfte geleistet wird.
Den im November 2006 unter Hinweis auf das Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 16. Mai 2006 - B 4 RA 22/05 R - gestellten Antrag auf Überprüfung lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 27. März 2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides
vom 11. Juni 2007 ab.
Die dagegen am 09. Juli 2007 beim Sozialgericht Frankfurt (Oder) erhobene Klage hat das Sozialgericht mit Urteil vom 27. Oktober
2009 abgewiesen: Es hat sich der Auffassung des BSG in den Urteilen vom 25. November 2008 - B 5 R 112/08 R und vom 14. August 2008 - u. a. B 5 R 32/07 R angeschlossen. Mit diesen Entscheidungen sei das BSG der anders lautenden, bereits vor den Entscheidungen des BSG vom 14.
August 2008 von den Instanzgerichten der Sozialgerichtsbarkeit überwiegend abgelehnten Auffassung des ehemaligen 4. Senats
des BSG, auf die sich die Klägerin berufe, ausdrücklich nicht gefolgt, da diese Auffassung sich mit dem Sinn des §
77 Abs.
2 Satz 2 Sozialgesetzbuch Sechstes Buch (
SGB VI) ebenso wenig vereinbaren lasse wie mit der Gesetzessystematik.
Gegen das ihr am 03. November 2009 zugestellte Urteil richtet sich die am 11. November 2009 eingelegte Berufung der Klägerin.
Sie hält die Entscheidung des BSG vom 16. Mai 2006 - B 4 RA 22/05 R für zutreffend. Die Beklagte dürfe dieses Urteil nicht als Einzelfall werten und auf eine anders lautende Rechtsprechung
warten. Ihre Berufung sei wie zum Zeitpunkt der Gesetzgebung ihrer Klageerhebung zu behandeln. In §
77 SGB VI stehe nun: Die Zeit des Bezugs einer Rente vor Vollendung des 62. Lebensjahres des Versicherten gilt nicht als Zeit einer
vorzeitigen Inanspruchnahme.
Die Klägerin beantragt nach ihrem schriftsätzlichen Vorbringen,
das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt (Oder) vom 27. Oktober 2009 zu ändern und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides
vom 27. März 2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11. Juni 2007 zu verpflichten, den Bescheid vom 18. Oktober
2005 zurückzunehmen und der Klägerin Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung unter Zugrundelegung eines Zugangsfaktors von
1,0 ab 01. April 2005 zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend. Die von ihr vertretene, von dem Urteil des BSG vom 16. Mai 2006 - B
4 RA 22/05 R abweichende Rechtsauffassung sei zwischenzeitlich einheitliche Rechtsauffassung aller am BSG für Rentenangelegenheiten
zuständigen Senate.
Den Beteiligten ist mit Verfügung vom 21. April 2010 mitgeteilt worden, dass eine Entscheidung nach §
153 Abs.
4 Sozialgerichtsgesetz (
SGG) in Betracht kommt; ihnen ist Gelegenheit zur Stellungnahme bis zum 17. Mai 2010 gegeben worden.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes sowie des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt
der Gerichtsakten und der beigezogenen Verwaltungsakten der Beklagten (...), die bei der Entscheidung vorgelegen haben, verwiesen.
II. Die zulässige Berufung ist unbegründet.
Da der Senat die Berufung einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung - insbesondere im Hinblick darauf, dass
die Beteiligten bereits ausführlich ihre Argumente vorgebracht haben - nicht für erforderlich hält, hat er nach deren Anhörung
von der durch §
153 Abs.
4 SGG eröffneten Möglichkeit Gebrauch gemacht, durch Beschluss zu entscheiden.
Das Sozialgericht hat die Klage zu Recht abgewiesen. Der Bescheid vom 27. März 2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides
vom 11. Juni 2007 ist rechtmäßig, denn der Bescheid vom 18. Oktober 2005 ist nicht zurückzunehmen. Die Klägerin hat keinen
Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung unter Berücksichtigung eines Zugangsfaktors von 1,0.
Nach § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X gilt: Soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei Erlass eines Verwaltungsaktes das Recht unrichtig angewandt oder von einem
Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht
oder Beiträge zu Unrecht erhoben worden sind, ist der Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung
für die Vergangenheit zurückzunehmen.
Diese Voraussetzungen liegen nicht vor. Der Bescheid vom 18. Oktober 2005 ist rechtmäßig.
Nach §
64 SGB VI ergibt sich der Monatsbetrag der Rente, wenn die unter Berücksichtigung des Zugangsfaktors ermittelten persönlichen Entgeltpunkte,
der Rentenartfaktor und der aktuelle Rentenwert mit ihrem Wert bei Rentenbeginn miteinander vervielfältigt werden. Der Monatsbetrag
einer nur teilweise zu leistenden Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit wird aus dem Teil der Summe aller Entgeltpunkte
ermittelt, der dem Anteil der teilweise zu leistenden Rente an der jeweiligen Rente in voller Höhe entspricht (§
66 Abs.
4 SGB VI).
Die Ermittlung des Zugangsfaktors ist in §
77 SGB VI geregelt. Maßgebend ist vorliegend §
77 SGB VI in der Fassung des Art. 1 Nr. 16 des Gesetzes vom 21. Juli 2004 (BGBl I 2004, 1791), die ab dem 01. August 2004 bis zum 31. Dezember 2007 und damit bei Beginn der der Klägerin bewilligten Rente wegen teilweiser
Erwerbsminderung ab 01. April 2005 galt. Dies folgt nicht nur aus §
64 SGB VI, der auf den Zeitpunkt des Rentenbeginns abstellt, sondern auch aus §
300 Abs.
2 SGB VI, wonach aufgehobene Vorschriften dieses Gesetzbuches und durch dieses Gesetzbuch ersetzte Vorschriften auch nach dem Zeitpunkt
ihrer Aufhebung noch auf den bis dahin bestehenden Anspruch anzuwenden sind, wenn der Anspruch bis zum Ablauf von drei Kalendermonaten
nach der Aufhebung geltend gemacht wird. Der Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung wurde von der Klägerin vor
Ablauf des 31. Dezember 2007 geltend gemacht.
Nach §
77 Abs.
1 SGB VI richtet sich der Zugangsfaktor nach dem Alter der Versicherten bei Rentenbeginn oder bei Tod und bestimmt, in welchem Umfang
Entgeltpunkte bei der Ermittlung des Monatsbetrages der Rente als persönliche Entgeltpunkte zu berücksichtigen sind. Beginnt
eine Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit oder eine Erziehungsrente vor Vollendung des 60. Lebensjahres oder ist bei
Hinterbliebenenrenten der Versicherte vor Vollendung des 60. Lebensjahres verstorben, ist die Vollendung des 60. Lebensjahres
für die Bestimmung des Zugangsfaktors maßgebend (§
77 Abs.
2 Satz 2
SGB VI). Der Zugangsfaktor ist für Entgeltpunkte, die noch nicht Grundlage von persönlichen Entgeltpunkten einer Rente waren, bei
Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit und bei Erziehungsrenten für jeden Kalendermonat, für den eine Rente vor Ablauf
des Kalendermonats der Vollendung des 63. Lebensjahres in Anspruch genommen wird, um 0,003 niedriger als 1,0 (§
77 Abs.
2 Satz 1 Nr.
3 SGB VI).
Diesen Vorschriften entsprechend hat die Beklagte den Zugangsfaktor von 1,0 um 0,108 auf 0,892 vermindert und damit die ermittelten
22,1931 persönlichen Entgeltpunkte für die zur Hälfte zu leistenden Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung vervielfältigt,
woraus die zugrunde zu legenden 19,7962 persönlichen Entgeltpunkte resultieren.
Die von der Klägerin angeführte Fassung des §
77 Abs.
2 Satz 2
SGB VI, die durch das Altersgrenzenanpassungsgesetz vom 20. April 2007 (BGBl I 2007, 554) zum 01. Januar 2008 geschaffen worden ist und mit der Anhebung der Altersgrenzen und der möglichen vorzeitigen Inanspruchnahme
der Altersrenten (vgl. §§
236,
236a,
237,
237a SGB VI) im Zusammenhang, ist nicht anzuwenden. Ebenso wie diese erfolgt auch die Anhebung des maßgebenden Alters für die Bestimmung
des Zugangsfaktors schrittweise. Diese schrittweise Anhebung setzt allerdings erst 2012 ein. Dies ergibt sich aus §
264 c Satz 1
SGB VI in Verbindung mit der dortigen Tabelle. Diese Vorschrift bestimmt: Beginnt eine Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit
vor dem 01. Januar 2024 oder ist bei einer Rente wegen Todes der Versicherte vor dem 01. Januar 2024 verstorben, ist bei der
Ermittlung des Zugangsfaktors anstelle der Vollendung des 65. Lebensjahres und des 62. Lebensjahres jeweils das in der nachfolgenden
Tabelle aufgeführte Lebensalter maßgebend. Nach dieser Tabelle verbleibt es bei Beginn der Rente vor 2012 beim 63. Lebensjahr
anstelle des 65. Lebensjahres und beim 60. Lebensjahr anstelle des 62. Lebensjahres. Die von der Klägerin genannte Fassung
des §
77 Abs.
2 Satz 2
SGB VI ist wegen der Übergangsvorschrift des §
264 c Satz 1
SGB VI somit für Renten mit einem Rentenbeginn vor 2012, also auch zu dem von ihr angesprochenen Zeitpunkt der Gesetzgebung ihrer
Klageerhebung, noch nicht einschlägig.
Das BSG hat im grundlegenden Urteil vom 14. August 2008 - B 5 R 32/07 R (vgl. auch die weiteren Urteile vom selben Tag B 5 R 88/07 R, B 5 R 140/07 R und B 5 R 98/07 R) zu §
77 SGB VI wie folgt ausgeführt:
"Im Ergebnis ist der Zugangsfaktor bei Inanspruchnahme von Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit vor Vollendung des 60.
Lebensjahres um maximal 0,108 zu mindern und somit auf mindestens 0,892 festzulegen. Dafür sprechen Wortlaut und systematische
Stellung des §
77 SGB VI wie auch Sinn und Zweck, systematischer Gesamtzusammenhang und Entstehungsgeschichte der Norm.
Indem die Grundregel des §
77 Abs.
1 SGB VI für die Rentenberechnung zum einen das Alter des Versicherten bei Rentenbeginn oder Tod für maßgebend erklärt und zum anderen
das rechnerische Verhältnis zwischen EP und persönlichen EP festlegt, bringt das Gesetz zum Ausdruck, dass der Zugangsfaktor
und somit die nach §
77 Abs.
2,
3 SGB VI zu ermittelnden "Abschläge" oder "Zuschläge" für die gesamte Dauer des ununterbrochenen Rentenbezugs gelten sollen. Falls
dieselben EP einer weiteren Rente zu Grunde zu legen sind, ist durch §
77 Abs.
2 Satz 1 Halbsatz 1
SGB VI eine erneute Ermittlung des Zugangsfaktors grundsätzlich ausgeschlossen.
§
77 Abs.
2 Satz 1 Nr.
3 SGB VI bestimmt die Höhe des Zugangsfaktors für Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit. Danach sinkt der Zugangsfaktor von 1,0
um 0,003 für jeden Kalendermonat, für den eine Rente vor Ablauf des Kalendermonats der Vollendung des 63. Lebensjahres in
Anspruch genommen wird. Ein Rentenbeginn nach dem 63. Lebensjahr hat somit keine Absenkung des Zugangsfaktors zur Folge. Ein
sehr früher Rentenbeginn würde demgegenüber bei isolierter Anwendung des §
77 Abs.
2 Satz 1 Nr.
3 SGB VI zu einer Absenkung des Zugangsfaktors auf null führen. Zur Vermeidung dieses Ergebnisses ergänzt §
77 Abs.
2 Satz 2
SGB VI die genannte Vorschrift dahingehend, dass die Vollendung des 60. Lebensjahres für die Bestimmung des Zugangsfaktors maßgebend
sein soll, wenn eine Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit oder eine Erziehungsrente bereits vor der Vollendung des 60.
Lebensjahres beginnt. Bei jüngeren erwerbsgeminderten Versicherten wird hinsichtlich des Zugangsfaktors so getan, als habe
der Versicherte das 60. Lebensjahr bereits vollendet. Entgegen der Grundregel des §
77 Abs.
1 SGB VI, wonach sich der Zugangsfaktor nach dem (tatsächlichen) Alter des Versicherten bei Rentenbeginn bestimmt, ordnet das Gesetz
eine Rentenberechnung unter der (fiktiven) Annahme an, der Versicherte habe das 60. Lebensjahr bereits vollendet, um auf diese
Weise die Minderung des Zugangsfaktors entsprechend der 36 Monate zwischen dem vollendeten 60. und dem vollendeten 63. Lebensjahr
auf maximal 36 x 0,003 = 0,108 zu begrenzen Eine zusätzliche Herabsetzung des Zugangsfaktors mit Rücksicht auf eine tatsächliche
Inanspruchnahme der Erwerbsminderungsrente vor der Vollendung des 60. Lebensjahres ist ausgeschlossen. Dass es bei der Bezugnahme
auf das 60. Lebensjahr des Versicherten um eine Fiktion für die Bestimmung des Zugangsfaktors und nicht etwa um die Festlegung
des Beginns der Rentenminderung geht, wird insbesondere daran deutlich, dass dieselbe Vorschrift auch bei der Hinterbliebenenrente
auf die Vollendung des 60. Lebensjahres abstellt, um die Höhe des Zugangsfaktors zu bestimmen. Andernfalls müsste dem Gesetz
unterstellt werden, es wolle die Rentenhöhe für den Zeitraum regeln, nachdem der verstorbene Versicherte das genannte Lebensalter
erreicht haben würde.
§
77 Abs.
2 Satz 2 und
3 SGB VI dient für die aktuell zu berechnende Rente ausschließlich der Bestimmung eines einheitlichen Zugangsfaktors für die gesamte
Zeit des Rentenbezugs und nicht etwa eines variablen Zugangsfaktors in Abhängigkeit von verschiedenen Bezugszeiträumen. Das
auf einer möglichen "Vorzeitigkeit" der Rente wegen Erwerbsminderung beruhende gegenteilige Konzept des 4. Senats des BSG
findet im Gesetz keine Stütze. Eine "vorzeitige" Inanspruchnahme einer Rente wegen Erwerbsminderung im Sinne einer freien
Entscheidung des Versicherten, vorzeitig aus dem Erwerbsleben ausscheiden zu wollen, ist nicht möglich, da der Leistungsfall
(Eintritt der Erwerbsminderung) in der Regel unabhängig vom Willen des Versicherten eintritt. Streng genommen kann somit in
Bezug auf eine Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit nicht von einer vorzeitigen, sondern allenfalls von einer früheren
oder späteren Inanspruchnahme gesprochen werden. Dessen war sich der Gesetzgeber auch bewusst, wie nicht nur die Auseinandersetzung
im Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung zeigt, sondern auch im Wortlaut des §
77 Abs.
2 Satz 1
SGB VI zum Ausdruck kommt. Denn das Gesetz spricht von einer "vorzeitigen" Inanspruchnahme nur in Satz 1 Nr 2a, der sich ausschließlich
auf Renten wegen Alters vor Vollendung des 65. Lebensjahres bezieht. Mit der Einführung des abgesenkten Zugangsfaktors bei
Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit, die vor Vollendung des 63. Lebensjahres in Anspruch genommen werden, durch das
RRErwerbG vom 20.12.2000 wurde der Begriff der "Vorzeitigkeit" auch in §
63 Abs.
5 SGB VI gestrichen. Während vor dem 1.1.2001 eine Bezugnahme auf die "vorzeitige Inanspruchnahme" enthalten war, heißt es jetzt nur
noch: "Vorteile und Nachteile einer unterschiedlichen Rentenbezugsdauer werden durch einen Zugangsfaktor vermieden."
Dieses Ergebnis wird durch die Regelung des §
77 Abs.
2 Satz 3
SGB VI nicht in Frage gestellt. Danach "gilt" die Zeit des Bezugs einer Rente vor Vollendung des 60. Lebensjahres des Versicherten
nicht als Zeit einer vorzeitigen Inanspruchnahme. Mit dieser Fiktion wird im Interesse des Versicherten eine Ausnahme von
dem sich aus §
77 Abs.
2 Satz 1 Halbsatz 1, Abs.
3 Satz 1
SGB VI ergebenden Grundsatz geschaffen, dass ein früherer Zugangsfaktor auch für spätere Renten maßgeblich bleibt. §
77 Abs.
2 Satz 1 Halbsatz 1
SGB VI schließt eine (Neu-)Berechnung des Zugangsfaktors aus, soweit die EP des Versicherten bereits Grundlage von persönlichen
EP einer Rente gewesen sind. Damit korrespondiert die in Abs. 3 Satz 1 derselben Vorschrift angeordnete Übernahme des bisherigen
Zugangsfaktors in die Berechnung einer Folgerente. Dadurch wird das gesetzgeberische Anliegen verwirklicht, Rentenleistungen
an jüngere Versicherte mit Rücksicht auf die längere Bezugszeit auch in denjenigen Fällen zu begrenzen, in denen eine Erwerbsminderungsrente
mangels Besserung im Gesundheitszustand des Versicherten ohne Unterbrechung wiederholt zu bewilligen ist, weil sie gemäß §
102 Abs.
2 SGB VI grundsätzlich längstens für drei Jahre und nicht auf Dauer gewährt werden darf; ohne die genannten Vorschriften wäre der
Zugangsfaktor für jede Folgerente als eigenständiger Leistungsfall neu zu ermitteln.
Die Fiktion des §
77 Abs.
2 Satz 3
SGB VI durchbricht die beschriebene "Perpetuierung" des Zugangsfaktors bei Rentenbezug aufgrund mehrerer aufeinander folgender Rentenbewilligungen
für diejenigen Fälle, in denen ein früherer Rentenbezug endet - wenn der Versicherte also beispielsweise lediglich zwischen
dem 42. und 44. Lebensjahr Rente bezieht, dann aber bis zum 65. Lebensjahr (oder darüber hinaus) wieder erwerbstätig ist.
Obwohl die vor dem 42. Lebensjahr erworbenen EP anlässlich der früheren Rentenbewilligung mittels abgesenktem Zugangsfaktor
zu persönlichen EP umgerechnet und der Rente zugrunde gelegt worden waren, weil es sich um einen Rentenbezug vor dem 63. Lebensjahr
gehandelt hatte, ist die Altersrente des Versicherten nach §
77 Abs.
2 Satz 3
SGB VI so zu berechnen, als sei die frühere Rente nicht "vorzeitig" gewährt und infolgedessen auch nicht abgesenkt worden; infolgedessen
bestimmt sich der Zugangsfaktor nach §
77 Abs.
2 Satz 1 Nr.
1 bzw. Nr.
2 Buchst b
SGB VI und nicht nach Abs. 3. Schon nach dem Wortlaut des §
77 Abs.
2 Satz 3
SGB VI ("gilt") wird der Rentenabschlag nicht auf die Zeit nach dem 60. Lebensjahr verschoben; vielmehr wird der frühere Bezug einer
abgesenkten Rente als ungeschehen fingiert, um den nur vorübergehend erwerbsgeminderten Versicherten vor einem "immerwährenden
Abschlag" zu schützen.
Gestützt wird dieses Normverständnis durch die Regelung des §
77 Abs.
3 Satz 3 Nr.
2 SGB VI. Danach wird der Zugangsfaktor für EP, die Versicherte bei einer Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit mit einem Zugangsfaktor
kleiner als 1,0 nach Ablauf des Kalendermonats der Vollendung des 60. Lebensjahres bis zum Ende des Kalendermonats der Vollendung
des 63. Lebensjahres nicht in Anspruch genommen haben, um 0,003 je Kalendermonat erhöht. Die Normierung dieses "Zuschlags"
nach Ablauf des Kalendermonats der Vollendung des 60. Lebensjahres bei einem Zugangsfaktor "kleiner als 1,0" wäre sinnlos,
hätte die gesetzgeberische Absicht tatsächlich darin bestanden, die Minderung des Zugangsfaktors bei Renten wegen verminderter
Erwerbsfähigkeit auf Rentenbezugszeiten ab dem 60. Lebensjahr zu beschränken.
Ein weiteres systematisches Argument hat der 13. Senat im Beschluss vom 26.6.2008 aufgezeigt. Gleichzeitig mit dem RRErwerbG
hat der Gesetzgeber einen Rentenabschlag bei der Alterssicherung für Landwirte eingeführt, der demjenigen in der allgemeinen
Rentenversicherung entsprechen sollte. Da die Renten nach dem Gesetz über die Alterssicherung der Landwirte (ALG) ohne Zugangsfaktor berechnet werden, musste die Neuregelung anders formuliert werden als im
SGB VI. Infolgedessen ordnete § 23 Abs. 8 Satz 1 Nr. 1 ALG in der bis zum 31.12.2007 geltenden Fassung eine Minderung des (dortigen) allgemeinen Rentenwerts um 0,3 % für jeden Kalendermonat
an, für den eine Rente wegen Erwerbsminderung vor Ablauf des Kalendermonats der Vollendung des 63. Lebensjahres in Anspruch
genommen wird; § 23 Abs. 8 Satz 2 Halbsatz 1 ALG begrenzte den Abschlag (grundsätzlich) auf höchstens 10,8 %. Zwischen Rentenbezugszeiten vor und nach Vollendung des 60.
Lebensjahres wurde dabei nicht unterschieden, sodass Erwerbsminderungsrenten nach dem ALG auch dann abzusenken sind, wenn sie vor dem 60. Lebensjahr des Versicherten beginnen. Das muss infolgedessen auch im Rahmen
von §
77 SGB VI gelten. Diese Vorschrift ist in diesem Punkt nicht anders zu verstehen als die Parallelregelung im ALG, nachdem die angeordnete Rentenkürzung in allen übrigen Punkten in beiden Bereichen gleich ist.
Sinn und Zweck der Vorschrift bestätigen die Auffassung, dass §
77 Abs.
2 SGB VI die Minderung des Zugangsfaktors auch für Zeiten des Bezugs einer Erwerbsminderungsrente vor der Vollendung des 60. Lebensjahres
regelt.
Die Absenkung des Zugangsfaktors bei Inanspruchnahme von Renten wegen Erwerbsminderung vor Vollendung des 63. Lebensjahres
durch die Neufassung des §
77 SGB VI in Art 1 Nr. 22 RRErwerbG vom 20.12.2000 ist Teil einer Gesamtstrategie, mit der in mehreren aufeinander aufbauenden Schritten auf
die demografische Entwicklung reagiert und die Finanzierbarkeit der gesetzlichen Rentenversicherung gesichert werden soll.
Sie enthielt zunächst die Anhebung des Renteneintrittsalters und die Minderung des Zugangsfaktors für vorzeitige Altersrenten
durch das Rentenreformgesetz 1992 (RRG 1992) und wurde mit einer nochmaligen Anhebung der regelmäßigen Altersgrenze durch das RV-Altersgrenzenanpassungsgesetz vom
20.4.2007 in jüngster Vergangenheit fortgeführt. Damit soll eine sozial angemessene und finanziell tragfähige Alterssicherungspolitik
verwirklicht und ein wichtiger Beitrag zu mehr Wachstum und Beschäftigung geleistet werden.
In dieses Gesamtkonzept fügt sich die Absenkung des Zugangsfaktors für Erwerbsminderungs-, Erziehungs- und Hinterbliebenenrenten
nur dann ohne gravierende Widersprüche ein, wenn sie auch in den Fällen angewandt wird, in denen der Leistungsfall vor dem
60. Lebensjahr des Versicherten liegt. Die Höhe des Zugangsfaktors hängt seit 1992 bei den Altersrenten vom Zeitpunkt des
Rentenbeginns ab, damit Vorteile und Nachteile einer unterschiedlichen Rentenbezugsdauer vermieden werden. Der Vorteil einer
früheren Inanspruchnahme einer Rente liegt darin, dass die Summe der gezahlten Rentenleistungen (statistisch gesehen) höher
ist als bei einem späteren Rentenbeginn, weil die Rentenlaufzeit (statistisch) insgesamt länger ist. Ein früher Renteneintritt
bedeutet trotz der durch fehlende Beitragszeiten bedingten geringeren Rente eine Mehrbelastung der Versichertengemeinschaft,
die durch einen abgesenkten Zugangsfaktor begrenzt werden soll; dieser ist so bestimmt, dass der jeweilige Gesamtwert der
lebenslangen Rente unabhängig vom Rentenbeginn im statistischen Durchschnitt gleich hoch ist Denn die möglichst frühzeitige
Inanspruchnahme einer Rente entspricht nicht dem eine Versicherung prägenden Prinzip der Äquivalenz zwischen Beitrag und Leistung.
Eine wesentliche Durchbrechung dieses Äquivalenz- bzw. Versicherungsprinzips lag im früheren Recht darin, dass Versicherte
die Altersrente ohne Abschlag bis zu fünf Jahre vor der regulären Altersgrenze erhalten konnten und durch den (statistisch)
verlängerten Rentenbezug die insgesamt zu zahlende Rentensumme beträchtlich erhöhten.
Unter dem Gesichtspunkt des Versicherungsprinzips gilt für die übrigen Rentenarten nichts anderes, soweit der Berechtigte
die Rente (oder weitere Renten) durchgehend bis zu seinem Tode in Anspruch nimmt. Nachdem das Missverhältnis zwischen Beitrag
und Leistung bei einem vorzeitigen Altersrentner zur Absenkung des Zugangsfaktors führte, war es im Grunde nur schwer verständlich,
dass ein gleichaltriger Erwerbsminderungsrentner von jeglicher Kürzung verschont bleiben sollte, zumal bei erheblich gesenkten
Altersrenten in der betroffenen Altersgruppe mit einer massiven Zunahme der Anträge auf Erwerbsminderungsrente zu rechnen
war. Deshalb forderte der Bundesrat bei den Beratungen über das RRG 1992 die Bundesregierung zu einer Änderung des Rechts der Erwerbsminderungsrenten auf, "die zu einer sachgerechten und sozial
ausgewogenen Risikoabgrenzung zwischen Renten- und Arbeitslosenversicherung führt und gleichzeitig verhindert, dass die im
RRG 1992 vorgesehene Heraufsetzung der Altersgrenzen unterlaufen wird". Sowohl der Äquivalenzgedanke als auch der Hinweis auf
die Gefahr von Ausweichreaktionen finden sich in der Gesetzesbegründung zum RRErwerbG wieder. Die in allen Rentenarten vergleichbare
Mehrbelastung durch einen frühen Renteneintritt würde allerdings eine völlige Angleichung des Zugangsfaktors der übrigen Rentenarten
an denjenigen der Altersrente kaum rechtfertigen können. Denn die Altersrente darf erst ab einem bestimmten Mindestalter in
Anspruch genommen werden, während die anderen Renten schon in sehr jungen Jahren beginnen können. Zudem können die Versicherten
(außer in bestimmten Fällen der Arbeitslosigkeit) regelmäßig frei wählen, ab wann sie eine Altersrente beziehen wollen. Im
Lichte dieser Unterschiede passen die im RRErwerbG getroffenen Regelungen in die Gesamtstrategie zur Anhebung der Altersgrenzen
in der gesetzlichen Rentenversicherung; gleichzeitig wurde vermieden, dass sich der Zugangsfaktor im Laufe der Rentenbezugszeit
ändert, was das überkommene System der Rentenberechnung mit einer grundsätzlich einmalig zu ermittelnden konstanten Rechengröße
und nur einem dynamischen Faktor durchbrochen hätte.
Infolgedessen ging es dem Gesetzgeber des RRErwerbG nur um eine "Anpassung" und nicht um eine "Gleichstellung" von Erwerbsminderungsrenten
und Altersrenten. Dabei werden der Versicherte und seine Hinterbliebenen - wie bereits dargelegt - vor einer allzu empfindlichen
Minderung geschützt, indem der Zugangsfaktor bei jüngeren Versicherten so festgesetzt wird, als habe der Versicherte das Mindestalter
für eine Altersrente (in der hier anwendbaren Fassung 60 Jahre) bereits erreicht, und indem die Absenkung auf einen Renteneintritt
vor dem 63. Lebensjahr beschränkt wird, während der Anspruch auf Altersrente erst ab dem 65. Lebensjahr in voller Höhe besteht;
dadurch beträgt die Absenkung maximal 10,8 % im Vergleich zu 18 % bei der Altersrente. Darüber hinaus wird der Versicherte
mit Hilfe zusätzlicher Zurechnungszeiten jetzt so gestellt, als ob er bis zur Vollendung des 60. Lebensjahres weitergearbeitet
hätte ; vorher wurde die Zeit ab dem 55. Lebensjahr lediglich zu einem Drittel berücksichtigt. Die weitergehende Anrechnung
von Zurechnungszeiten soll die Anpassung der Höhe der Erwerbsminderungsrenten an die Höhe der vorzeitig in Anspruch genommenen
Altersrenten zusätzlich begrenzen. Bei Inanspruchnahme einer Rente wegen Erwerbsminderung im Alter von 56 Jahren und acht
Monaten reduziert sich die Rentenminderung bei einem "Eckrentner" dadurch auf 3,3 % - je nach Versicherungsbiografie kann
sie geringer oder höher ausfallen. Jedenfalls kommt der effektive Abschlag dem Maximalwert von 10,8 % umso näher, je mehr
sich der Rentenbeginn dem 60. Lebensjahr des Versicherten nähert; bei späterem Renteneintritt sinkt der prozentuale Rentenabschlag
allmählich wieder, bis er bei 63 Jahren ganz entfällt. Die Fokussierung der Rentenminderung auf den Renteneintritt mit 60
stellt insofern ein schlüssiges Konzept dar, als sich gerade die Versicherten dieser Altersgruppe unter der Geltung des bisherigen
Rechts zB insbesondere bei Arbeitslosigkeit vor die Frage gestellt sehen konnten, ob sie statt der vorzeitigen Altersrente
mit einem Abschlag von 18 % eine wegen Verschlossenheit des Arbeitsmarkts mögliche Erwerbsminderungsrente ohne Abschlag anstreben
sollten.
Ein ganz wesentliches Element dieses Konzepts ist die Abschwächung des Rentenabschlags durch die zusätzliche Zurechnungszeit
bei einem Renteneintritt vor dem 60. Lebensjahr. Wäre der nach §
77 Abs.
2 SGB VI abgesenkte Zugangsfaktor nur bei Renteneintritt bzw. Rentenbezug ab dem 60. Lebensjahr anwendbar, würde der Rentenabschlag
gerade nicht abgeschwächt, sondern das RRErwerbG hätte bei früherem Renteneintritt im Vergleich zum bisherigen Recht zu einer
Rentenerhöhung geführt und entgegen den dargestellten Bemühungen des Gesetzgebers um eine Anhebung des Renteneintrittsalters
einen Anreiz geschaffen, mittels frühen Rentenantrags zu versuchen, zumindest vorübergehend den Abschlag zu vermeiden. Infolgedessen
bestätigt die Neuregelung der Zurechnungszeit die mit den Absichten des Gesetzgebers im Einklang stehende Auslegung, nach
der die Rentenminderung auch Renten erfasst, die vor dem 60. Lebensjahr des Versicherten gewährt werden. Die §
59 Abs.
2 Satz 2, §
63 Abs.
5, §§
77,
253a,
264c SGB VI bilden ein aufeinander abgestimmtes "Gesamtpaket". Dies wird besonders deutlich in der Anlage 23 zum
SGB VI, die übergangsweise je nach Zeitpunkt des Rentenbeginns festlegt, in welchem Umfang der Zugangsfaktor zu senken bzw. - in
darauf abgestimmten Stufen - die Zurechnungszeit zu verlängern ist.
Schließlich bestätigt die Einfügung von Abs.
4 in §
77 SGB VI durch Art 1 Nr
23 RV-Altersgrenzenanpassungsgesetz vom 20.4.2007 ab dem 1.1.2008 das dargestellte Gesamtkonzept und führt es fort, indem für
langjährig Versicherte die Weitergeltung der bisherigen Altersgrenzen angeordnet wird. Folgte man der Auffassung, wonach der
Rentenabschlag erst ab Vollendung des 60. Lebensjahres greifen soll, so würde diese zu Zwecken des Vertrauensschutzes geschaffene
Regelung in ihr Gegenteil verkehrt: Versicherte mit mindestens 40 Pflichtbeitragsjahren würden durch die Herabsetzung des
62. auf das 60. Lebensjahr nicht begünstigt, sondern benachteiligt.
Entgegen der Ansicht des Klägers verstößt die Regelung des §
77 Abs.
2 SGB VI nicht gegen das
GG ...
Rentenansprüche und -anwartschaften werden vom verfassungsrechtlichen Eigentumsschutz nach Art
14 Abs.
1 GG erfasst. Der Schutzbereich des Art
14 Abs.
1 GG ist vorliegend dadurch tangiert, dass im Vergleich zur früheren Rechtslage mit der Rechtsänderung durch das RRErwerbG eine
Verschlechterung für den Kläger insoweit eingetreten ist, als nunmehr bei einer Inanspruchnahme einer Rente wegen verminderter
Erwerbsfähigkeit vor Vollendung des 63. Lebensjahres der Zugangsfaktor gemindert wird.
Der Kläger wird jedoch nicht in seinem Grundrecht aus Art
14 GG verletzt. Bei der in Streit stehenden Vorschrift handelt es sich um eine zulässige Inhalts- und Schrankenbestimmung durch
den Gesetzgeber. Der Eingriff in die Rechtsposition des Klägers erweist sich gemessen an der gesetzgeberischen Zielsetzung
als geeignet und erforderlich und ist andererseits gemessen an der vom Kläger erworbenen Rechtsposition sowie Art und Umfang
seiner Beitragsleistung verhältnismäßig und zumutbar.
Eingriffe in rentenrechtliche Anwartschaften sind zulässig, wenn sie einem Gemeinwohlzweck dienen und verhältnismäßig sind.
Dabei verengt sich die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers in dem Maße, in dem Rentenanwartschaften durch den personalen
Anteil eigener Leistungen der Versicherten geprägt sind. Die eigene Leistung findet vor allem in einkommensbezogenen Beitragszahlungen
ihren Ausdruck. Sie rechtfertigt es, dass der durch sie begründeten rentenrechtlichen Rechtsposition ein höherer Schutz gegen
staatliche Eingriffe zuerkannt wird als einer Anwartschaft, soweit sie nicht auf Beitragsleistungen beruht. Knüpft der Gesetzgeber
an ein bereits bestehendes Versicherungsverhältnis an und verändert er die in dessen Rahmen begründete Anwartschaft zum Nachteil
des Versicherten, so ist darüber hinaus ein solcher Eingriff am rechtsstaatlichen Grundsatz des Vertrauensschutzes zu messen,
der für die vermögenswerten Güter und damit auch für die rentenrechtliche Anwartschaft in Art
14 GG eine eigene Ausprägung erfahren hat.
Wie bereits näher dargelegt, wollte der Gesetzgeber mit den in Rede stehenden Regelungen des §
77 Abs.
2 Satz 1 Nr.
3, Satz 2 und 3
SGB VI idF des RRErwerbG zum einen der Gefahr begegnen, dass im Hinblick auf die gesetzlich normierten Abschläge bei vorzeitiger
Inanspruchnahme von Altersrenten unverhältnismäßig viele Anträge auf Erwerbsminderungsrenten gestellt würden; zum anderen
hat er das Ziel verfolgt, das Versicherungsrisiko der unterschiedlich langen Rentenbezugsdauer mit Hilfe versicherungsmathematischer
Abschläge zu neutralisieren.
Die mit dem RRErwerbG normierte Absenkung des Zugangsfaktors bei Inanspruchnahme einer Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit
vor Vollendung des 63. Lebensjahres stellt allein schon deshalb eine zulässige Inhalts- und Schrankenbestimmung dar, weil
sie ersichtlich dazu dient, die Funktions- und Leistungsfähigkeit der Rentenversicherung im Interesse aller zu erhalten und
den - u. a. durch die demografische Entwicklung - veränderten wirtschaftlichen Bedingungen anzupassen. Wie der Hochrechnung
der finanziellen Auswirkungen der im RRG 1992 und im RRErwerbG beschlossenen Maßnahmen zu entnehmen ist, geht es dabei in erster Linie um eine Verlangsamung der nach
früherem Recht zu erwarten gewesenen Erhöhungen des Beitragssatzes in der Rentenversicherung und der entsprechenden Mehrausgaben
des Bundes. Sind allein die finanziellen Erwägungen ein legitimer Grund für den Eingriff, so kann offen bleiben, ob auch andere
mit der Regelung vom Gesetzgeber verfolgte Ziele für sich oder zusätzlich die in Frage stehende Regelung rechtfertigen könnten.
Die im öffentlichen Interesse liegende Minderung des Zugangsfaktors bei Inanspruchnahme einer Rente wegen Erwerbsminderung
vor Vollendung des 63. Lebensjahres war auch verhältnismäßig im weiteren Sinne (d.h. geeignet, erforderlich und zumutbar).
Die Regelung war geeignet, die vom Gesetzgeber angestrebten Ziele zu erreichen. Ihm steht - wie dies das BVerfG erneut in
seinem Beschluss vom 27.2.2007 zum Ausdruck gebracht hat - im Sozialversicherungsrecht wie in allen komplexen, von künftigen
Entwicklungen abhängigen Regelungsbereichen ein weiter Einschätzungsspielraum zu. Bei der Ausgestaltung der Versicherungsverhältnisse
benötigt der Rentengesetzgeber Flexibilität, die ihm nach der Rechtsprechung des BVerfG verfassungsrechtlich nicht verwehrt
werden kann. Mit Rücksicht auf das unterschiedliche Versicherungsrisiko von in niedrigerem oder höherem Alter beginnenden
Renten und auf die dadurch gebotene Annäherung von Erwerbsminderungs- und Altersrenten bewegt sich die Vorschrift über die
Absenkung des Zugangsfaktors bei Inanspruchnahme einer Erwerbsminderungsrente vor Vollendung des 63. Lebensjahres innerhalb
dieses verfassungsrechtlichen Einschätzungsspielraums.
Die Regelung genügt auch dem Gebot der Erforderlichkeit. Es ist nicht ersichtlich, dass der Gesetzgeber ein anderes, gleich
wirksames, aber das Grundrecht des Klägers nicht oder doch weniger einschränkendes Mittel hätte wählen können. Der Gesetzgeber
kann insbesondere nicht darauf verwiesen werden, eine Einsparung in anderen, von dem betroffenen Gesetz nicht erfassten Bereichen
zu erzielen. Unter dem Gesichtspunkt des Erforderlichkeitsgrundsatzes war er nicht verpflichtet, auf andere Maßnahmen auszuweichen,
insbesondere - im Rahmen der verfassungsrechtlichen Grenzen - die Beitragssätze zu erhöhen, die Bestandsrenten abzusenken
oder auf eine Anpassung der Renten an die Lohn- und Gehaltsentwicklung zu verzichten. Um dem Erforderlichkeitsgebot Rechnung
zu tragen, war er ebenso wenig gehalten, einen höheren Bundeszuschuss vorzusehen und ggf. für diesen Zweck Steuern einzuführen
oder zu erhöhen.
Die Absenkung des Zugangsfaktors bei Inanspruchnahme einer Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit vor Vollendung des 63.
Lebensjahres ist für den Kläger auch zumutbar. Hierbei ist zu beachten, dass das Gesetz nicht in einen schon bestehenden Rentenanspruch
des Klägers, sondern in seine Rentenanwartschaft eingegriffen hat. Anwartschaften sind aber wegen des großen Zeitraums zwischen
ihrem Erwerb und der Aktivierung des Rentenanspruchs naturgemäß stärker einer Veränderung der für die Rentenberechnung maßgeblichen
Verhältnisse unterworfen und genießen nicht denselben eigentumsrechtlichen Schutz wie die Rente. In diesem Zusammenhang ist
auch zu berücksichtigen, dass der Gesetzgeber durch die Übergangsregelung des §
264c SGB VI und die Kompensation über die verlängerte Zurechnungszeit nach §§
59,
253a SGB VI die Wirkung der Absenkung des Zugangsfaktors abgemildert hat ...
Die Neuregelung durch das RRErwerbG genügt auch dem verfassungsrechtlichen Grundsatz des Vertrauensschutzes. Die hier für
den Eingriff - Absenkung des Zugangsfaktors - maßgebliche Regelung des §
77 Abs.
2 Nr.
3 SGB VI idF des RRErwerbG greift nicht im Sinne einer (echten) Rückwirkung zu Ungunsten des Klägers in eine Rechtsposition ein, die
dieser bereits vor deren Inkrafttreten am 1.1.2001 inne hatte. Im Übrigen war die Änderung der Rechtslage für die Versicherten
nicht völlig überraschend, nachdem der Bundesrat bereits im April 1989 die Bundesregierung zu einer Reform der Erwerbsminderungsrenten
in diesem Sinne aufgefordert hatte.
Die Regelungen des §
77 Abs.
2 Satz 1 Nr.
3, Satz 2 und 3
SGB VI verstoßen auch nicht gegen Art
3 Abs.
1 GG.
Der darin enthaltene allgemeine Gleichheitssatz gebietet, alle Menschen vor dem Gesetz gleich zu behandeln. Dem gemäß ist
dieses Grundrecht vor allem dann verletzt, wenn eine Gruppe von Normadressaten im Vergleich zu anderen Normadressaten anders
behandelt wird, obwohl zwischen beiden Gruppen keine Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, dass sie die
Ungleichbehandlung rechtfertigen könnten ; Entsprechendes gilt für eine Gleichbehandlung trotz Bestehens gewichtiger Unterschiede.
Nachdem die getroffenen Maßnahmen durch das Ziel gerechtfertigt sind, die Finanzierbarkeit der gesetzlichen Rentenversicherung
zu erhalten, ist es unter dem Blickwinkel des Gleichheitssatzes nicht zu beanstanden, dass die Versichertengruppe, zu welcher
der Kläger gehört, gegenüber derjenigen anders behandelt wird, die wegen eines Rentenbeginns vor dem 1.1.2001 noch nicht von
der Absenkung des Zugangsfaktors betroffen war. Mit jeglicher Anpassung des Rechts an geänderte Verhältnisse ist zwangsläufig
eine ungleiche Behandlung von Betroffenen vor und nach dem Inkrafttreten einer Rechtsänderung verbunden und kann daher für
sich allein nicht zur Verfassungswidrigkeit führen.
Der Gesetzgeber war durch das im Gleichheitssatz enthaltene Differenzierungsgebot nicht gehalten, Erwerbsminderungsrenten
wegen gewichtiger Unterschiede zu den Altersrenten von den dort eingeführten Rentenabschlägen ganz auszunehmen. Dem Kläger
ist zuzustimmen, dass ein Versicherter es letztlich nicht in der Hand hat, den Zeitpunkt einer rentenberechtigenden Erwerbsminderung
selbst zu bestimmen. Jedoch kann es bei länger währender Arbeitslosigkeit im rentennahen Alter ebenfalls kaum noch praktische
Alternativen zu einem Antrag auf vorgezogene Altersrente mit Rentenabschlägen geben; bei Entlassungen gegen Abfindung kann
sogar eine arbeitsrechtliche Verpflichtung zu einem solchen Antrag bestehen. Insofern haben die Unterschiede nicht das ihnen
vom Kläger beigemessene Gewicht. Sie sind durch den geringeren Abschlag in Höhe von maximal 10,8 statt 18 % und die erhöhte
Zurechnungszeit bei jüngeren Erwerbsminderungsrentnern angemessen berücksichtigt. Aus Sicht des Senats war es im Hinblick
auf den Gleichheitssatz nicht nur gerechtfertigt, sondern möglicherweise sogar geboten, die Finanzierungsschwierigkeiten der
Rentenversicherung durch längere Rentenlaufzeiten nicht allein zu Lasten der Altersrentner zu lösen, nachdem der Bundesrat
im Jahre 1989 auf diese Problematik hingewiesen hatte.
Schließlich greift der Einwand nicht, der Gesetzgeber habe auch für Erwerbsminderungsrentner eine dem §
187a SGB VI entsprechende Möglichkeit schaffen müssen, die bei Anwendung von §
77 Abs.
2 SGB VI entstehende Rentenminderung durch Beitragszahlungen auszugleichen. Ein diesbezügliches Verfassungsgebot ist schon deshalb
zu verneinen, weil die Erwerbsminderungsrente in deutlich geringerem Ausmaß abgesenkt wird als die Altersrente, sodass die
unterschiedlich hohen Versorgungslücken eine unterschiedliche Behandlung sachlich rechtfertigen. Im Übrigen sind keine Gründe
ersichtlich, die den Erwerbsminderungsrentner an der Entrichtung freiwilliger Beiträge hindern würden, um seine künftig zu
erwartende Altersrente aufzubessern ; da §
7 Abs.
3 SGB VI das Recht zur freiwilligen Versicherung ausschließt, wenn eine Vollrente wegen Alters bindend bewilligt ist, bedarf es lediglich
für vorzeitig in Anspruch genommene Altersrenten der Sonderregelung des §
187a SGB VI.
Ein Verstoß gegen Art
3 Abs.
3 Satz 2
GG liegt ebenfalls nicht vor.
Art
3 Abs.
3 Satz 2
GG bezweckt die Stärkung der Stellung behinderter Menschen in Recht und Gesellschaft. Sie enthält ein Gleichheitsrecht zu Gunsten
Behinderter sowie einen Auftrag an den Staat, auf die gleichberechtigte Teilhabe behinderter Menschen hinzuwirken. Es ist
bereits fraglich, ob der Schutzbereich des Grundrechts, der zunächst eine Ungleichbehandlung voraussetzt, tangiert ist. Jedenfalls
liegt eine Benachteiligung wegen Behinderung nicht vor. Die Absenkung des Zugangsfaktors nach §
77 Abs.
2 SGB VI betrifft seit dem RRErwerbG alle Rentenarten, wenn die jeweilige Rente vor der im Gesetz normierten Altersgrenze in Anspruch
genommen wird. Damit sollen Vor- und Nachteile einer unterschiedlichen Rentenbezugsdauer bei allen Rentenarten ausgeglichen
werden. Eine Benachteiligung des Klägers wegen einer Behinderung liegt somit nicht vor."
Der Senat schließt sich, ebenso wie dies bereits das Sozialgericht getan hat, dieser Rechtsprechung in vollem Umfang an.
Im Übrigen weist der Senat noch auf Folgendes hin: Jedes gerichtliche Urteil, auch ein solches des BSG, ergeht im Einzelfall,
denn nach §
141 Abs.
1 Nr.
1 SGG binden rechtskräftige Urteile, soweit über den Streitgegenstand entschieden worden ist, die Beteiligten (des jeweiligen Rechtsstreits
und nur im Verhältnis dieser Beteiligten zueinander) und ihre Rechtsnachfolger. An einem Rechtsstreit nicht Beteiligte können
mithin aus einem solchen Urteil unmittelbar keine Rechte zu ihren Gunsten herleiten. Dies schließt nicht aus, dass sich nicht
Beteiligte solche Urteile zu Eigen machen und sich darauf wegen der Begründung beziehen. Soweit Urteile nämlich überzeugend
sind, ist zu erwarten, dass sich in einem anderen Rechtsstreit ein anderes Gericht diesen überzeugenden Gründen anschließen
und ebenso entscheiden wird. Fehlt einem Urteil allerdings eine entsprechende Überzeugungskraft, werden andere Gerichte diesem
Urteil nicht folgen. Das von der Klägerin genannte Urteil des BSG vom 16. Mai 2006 - B 4 RA 22/05 R hat nicht nur die Beklagte, sondern auch eine erhebliche Zahl von Instanzgerichten der Sozialgerichtsbarkeit nicht überzeugt,
weil dieses Urteil weder mit dem Gesetzeswortlaut noch mit dem Gesetzeszweck für vereinbar gehalten wurde. Bei einer solchen
Sachlage, wenn sich also noch keine einheitliche und abschließende Rechtsmeinung zur Auslegung einer Vorschrift gebildet hat,
darf die Beklagte, auch wenn sie als Teil der vollziehenden Gewalt an Gesetz und Recht, so wie dieses durch die höchstrichterliche
Rechtsprechung angewandt und ausgelegt wird, nach Art.
20 Abs.
3 Grundgesetz (
GG) gebunden ist, ein einzelnes Urteil des BSG unbeachtet lassen und in weiteren nachfolgenden gerichtlichen Verfahren eine
ständige und einheitliche Rechtsprechung aller Senate des BSG, die für Rentenangelegenheiten zuständig sind, herbeiführen.
Allein auf diese Weise kann Rechtsklarheit und Rechtssicherheit bei der Auslegung einer Rechtsvorschrift bei unterschiedlichen
Rechtsauffassungen erzielt werden.
Die Rechtsfrage, wie §
77 Abs.
2 Satz 2
SGB VI auszulegen ist, ist zwischenzeitlich mit dem o. g. Urteil des BSG abschließend geklärt, nachdem auch der 13. Senat des BSG
in dem im Urteil vom 14. August 2008 - B 5 R 32/07 R erwähnten Beschluss vom 26. Juni 2008 - B 13 R 9/08 S sich der Rechtsprechung des 4. Senats im Urteil vom 16. Mai 2006 - B 4 RA 22/05 R nicht angeschlossen hat. Der für die Alterssicherung der Landwirte zuständige 10. Senat des BSG hat im Urteil vom 25. Februar
2010 - B 10 LW 3/09 R unter Hinweis auf die jetzt maßgebliche Auslegung des §
77 Abs.
2 SGB VI durch die zuständigen Rentensenate des BSG die vergleichbare Vorschrift des § 23 Abs. 8 Gesetz über die Alterssicherung der Landwirte (ALG) im gleichen Sinne wie diese Rentensenate ausgelegt.
Die Berufung muss somit erfolglos bleiben.
Die Kostenentscheidung folgt aus §
193 Abs.
1 SGG und entspricht dem Ergebnis des Rechtsstreits.
Die Revision ist nicht zuzulassen, da die Voraussetzungen hierfür (§
160 Abs.
2 Nrn. 1 und 2
SGG) nicht vorliegen.