Anspruch auf Grundsicherung für Arbeitsuchende, Regelleistung zur Sicherung des Lebensunterhalts, Erlass einer einstweiligen
Anordnung zur rückwirkenden Leistungserhöhung, Verfassungsmäßigkeit der Einkommensanrechnung
Gründe:
I. Die Antragsteller begehren im Wege des Erlasses einer einstweiligen Anordnung die Gewährung von Leistungen nach dem Zweiten
Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) für die Zeit vom 15. Februar 2007 bis zum 31. Juli 2007 (Ende des Bewilligungszeitraumes).
Die Antragstellerin zu 1) ist die Mutter der 1991 geborenen Antragstellerin zu 2). Gemeinsam bewohnen sie mit dem Lebensgefährten
der Antragstellerin zu 1), Herrn DC, eine Mietwohnung unter der im Rubrum genannten Anschrift. Der Mietzins beträgt einschließlich
Nebenkosten 528,70 EUR monatlich. Die Antragstellerin zu 1) bezieht aus einer Nebenbeschäftigung ein Einkommen in Höhe von
165,- EUR brutto monatlich, für die Antragstellerin zu 2) wird ein monatliches Kindergeld von 154,- EUR gewährt. Herr C verfügt
über ein Einkommen aus Arbeitslosengeld I in Höhe von 1.438,80 EUR (bereinigt um eine Versicherungspauschale von 30,- EUR)
monatlich.
Mit - hier nicht streitgegenständlichem - Bescheid vom 12. Juli 2006 gewährte der Antragsgegner den Antragstellerinnen für
den Zeitraum vom 1. August 2006 bis zum 31. Januar 2007 Hilfe zum Lebensunterhalt in Höhe von 298,23 EUR monatlich. Hinsichtlich
der Antragstellerin zu 1) ergab sich unter Anrechung des Einkommens des Herrn C kein ungedeckter Bedarf; hinsichtlich der
Antragstellerin zu 2) fand eine Einkommensanrechnung nicht statt, so dass sich nach Abzug des gewährten Kindergeldes in Höhe
von 154,- EUR vom ermittelten Bedarf von 452,23 EUR ein monatlicher Zahlbetrag in der genannten Höhe (298,23 EUR) ergab. Mit
Bescheid vom 17. November 2006 hob der Antragsgegner unter Hinweis auf den zum 1. August 2006 geänderten § 9 Abs. 2 Satz 2
SGB II vorgenannten Bescheid auf: Nach dieser Vorschrift sei u. a. auch das Einkommen und Vermögen des in Bedarfsgemeinschaft
lebenden Partners eines Elternteils beim Bedarf des in der Gemeinschaft lebenden unverheirateten Kindes zu berücksichtigen.
Durch das Einkommen des Herrn C könne demzufolge für den vorgenannten Zeitraum auch der Bedarf der Antragstellerin zu 2) vollständig
gedeckt werden.
In einem gegen vorgenannten Bescheid geführten einstweiligen Rechtsschutzverfahren ordnete das Sozialgericht Berlin mit Beschluss
vom 8. Januar 2007 (Az: S 103 AS 10869/06 ER) die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs der Antragstellerinnen gegen den (Aufhebungs-) Bescheid vom 17. November 2006
an und verpflichtete den Antragsgegner im Wege der Aufhebung der Vollziehung zur Auszahlung der mit Bescheid vom 12. Juli
2006 bewilligten Leistungen für Dezember 2006 und Januar 2007. Zur Begründung führte das Sozialgericht aus, dass das Aussetzungsinteresse
der Antragstellerinnen überwiege; denn von der Verfassungswidrigkeit des § 9 Abs. 2 Satz 2 SGB II sei auszugehen. Mit Beschluss
vom 22. Mai 2007 hob das Landessozialgericht Berlin-Brandenburg (Az: L 5 B 240/07 AS ER) vorgenannten Beschluss auf und wies das vorläufige Rechtsschutzbegehren unter Hinweis darauf, dass das Gericht im
vorläufigen Rechtsschutzverfahren an das geltende Recht, mithin an § 9 Abs. 2 Satz 2 SGB II, gebunden sei, zurück.
Mit streitgegenständlichem Bescheid vom 5. Februar 2007 lehnte der Antragsgegner den Folgeantrag auf Gewährung von Leistungen
nach dem SGB II für den Zeitraum vom 1. Februar 2007 bis zum 31. Juli 2007 unter Hinweis darauf, dass der Bedarf der Antragstellerinnen
aufgrund der Einkommenssituation der Bedarfsgemeinschaft gemäß § 9 Abs. 1 Nr. 2 SGB II gedeckt sei, ab. Den hiergegen erhobenen
Widerspruch wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 19. Februar 2007 zurück, woraufhin die Antragstellerinnen am 21.
März 2007 Klage vor dem Sozialgericht Berlin erhoben haben (Az: S 119 AS 3841//07).
Mit dem hier angefochtenen Beschluss vom 7. Mai 2007 hat das Sozialgericht Berlin den Antragsgegner im Wege der einstweiligen
Anordnung aus den Gründen des Beschlusses des Sozialgerichts Berlin vom 8. Januar 2007 verpflichtet, den Antragstellerinnen
Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem SGB II ab dem 15. Februar 2007 (gerichtliche Antragstellung) bis zum Abschluss des Bewilligungszeitraumes
(31. Juli 2007) zu bewilligen, und zwar in Höhe von 99,30 EUR monatlich für die Antragstellerin zu 1) und in Höhe von 386,93
EUR monatlich für die Antragstellerin zu 2).
Hiergegen hat der Antragsgegner mit Telefax vom 18. Mai 2007 an demselben Tag vorliegende Beschwerde eingelegt. Mit Beschluss
vom 27. Juli 2007 hat der Senat auf Antrag des Antragsgegners die Vollziehung aus dem Beschluss des Sozialgerichts Berlin
vom 7. Mai 2007 im Wege der einstweiligen Anordnung gemäß §
199 Abs.
2 SGG ausgesetzt.
Der Antragsgegner beantragt,
den Beschluss des Sozialgericht Berlin vom 7. Mai 2007 aufzuheben und den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung
abzulehnen.
Die Antragstellerinnen beantragen,
die Beschwerde zurückzuweisen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte und die beigezogenen Verwaltungsvorgänge
des Antragsgegners Bezug genommen.
II. Die Beschwerde des Antragsgegners ist nach §§
172,
173 Sozialgerichtsgesetz (
SGG) zulässig, insbesondere statthaft, und hat auch in der Sache Erfolg.
Gemäß §
86 b Abs.
2 Satz 2
SGG kann eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis ergehen,
wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Hierzu hat der betreffende Antragsteller das
Bestehen des zu sichernden materiellen Anspruches (Anordnungsanspruch) sowie die besondere Dringlichkeit des Erlasses der
begehrten einstweiligen Regelung (Anordnungsgrund) glaubhaft zu machen (vgl. §
86 b Abs.
2 Satz 4
SGG in Verbindung mit §§
920 Abs.
2,
294 Zivilprozessordnung).
Hiervon ausgehend hat die Beschwerde des Antragsgegners Erfolg. Die Antragstellerinnen haben entgegen der Auffassung des Sozialgerichts
weder einen Anordnungsgrund noch einen Anordnungsanspruch auf Gewährung der begehrten Leistungen für den Zeitraum vom 15.
Februar 2007 bis zum 31. Juli 2007 glaubhaft gemacht.
Vorliegend fehlt es bereits am Bestehen eines Anordnungsgrundes. Nach ständiger Rechtsprechung des Senats (vgl. u. a. Beschluss
vom 19. Februar 2008, Az: L 25 B 238/08 AS ER) beurteilt sich im Verfahren auf Erlass einer einstweiligen Anordnung das Vorliegen eines Anordnungsgrundes nach dem
Zeitpunkt, in dem das Gericht über den Eilantrag entscheidet; im Beschwerdeverfahren ist dies der Zeitpunkt der Beschwerdeentscheidung.
Denn eine besondere Dringlichkeit kann grundsätzlich nur auf Wirkungen für die Zukunft gerichtet sein. Für vergangene, d.
h. abgelaufene Zeiträume, ist die Annahme einer besonderen Dringlichkeit nur ausnahmsweise für den Fall gerechtfertigt, dass
eine Entscheidung im - grundsätzlich vorrangigen - Verfahren der Hauptsache zu spät käme, weil ohne sie schwere und unzumutbare,
anders nicht abwendbare Nachteile entstünden, zu deren nachträglicher Beseitigung die Entscheidung in der Hauptsache nicht
mehr in der Lage wäre.
Dies zugrunde gelegt, drohen den Antragstellerinnen keine unzumutbaren Nachteile, wenn ihrem Begehren auf Gewährung höherer
Grundsicherungsleistungen für vergangene Zeiträume, die hier allein streitgegenständlich sind, nicht sofort entsprochen wird.
Dem steht nicht entgegen, dass bereits im erstinstanzlichen Verfahren vor dem Sozialgericht eine Entscheidung ergangen ist,
mit der der Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zur Gewährung von Leistungen für den hier maßgeblichen Bewilligungszeitraum
verpflichtet wurde. Denn die Entscheidung ist nicht entsprechend umgesetzt worden. Weder hat der Antragsgegner entsprechende
Leistungen erbracht, noch haben die Antragstellerinnen vor der Aussetzungsentscheidung des Senats mit Beschluss vom 27. Juli
2007 entsprechende Vollstreckungsmaßnahmen eingeleitet. Vor diesem Hintergrund fehlt es daher an einer Eilbedürftigkeit und
ist es den Antragstellerinnen zuzumuten, die Entscheidung im Hauptsacheverfahren abzuwarten.
Überdies fehlt es aber auch am Bestehen eines Anordnungsanspruchs.
Soweit es die Antragstellerin zu 1) betrifft, folgt dies daraus, dass deren ungedeckter Bedarf von 435,24 EUR monatlich (Regelsatz
von 311,- EUR plus anteilige Unterkunftskosten in Höhe von 176,24 EUR nach Abzug des bereinigten Einkommens von 52,- EUR)
durch einen bestehenden Einkommensüberhang des Herrn C mit dem die Antragstellerin zu 1) in eheähnlicher Gemeinschaft lebt,
vollständig abgedeckt ist, vgl. § 9 Abs. 2 Satz 1 SGB II in Verbindung mit § 7 Abs. 3 Nr. 3 c) SGB II. Denn selbst wenn zugunsten
des Herr C, wie das Sozialgericht meint, lediglich ein Einkommen in Höhe des Pfändungsfreibetrages von 930,- EUR monatlich
berücksichtigt werden könnte, ergibt sich nach Abzug seines Bedarfs von monatlich 487,23 EUR (Regelsatz von 311,- EUR plus
anteilige Unterkunftskosten in Höhe von 176,24 EUR) ein Überhang von monatlich 442,77 EUR, dem ein ungedeckter Bedarf der
Antragstellerin zu 1) von 435,24 EUR gegenübersteht. Die vom Sozialgericht insoweit vorgenommene Berechnung des Bedarfs der
Antragstellerin zu 1) unter Gegenüberstellung des Gesamteinkommens der Bedarfsgemeinschaft findet im Gesetz keine Stütze.
Ein Anordnungsanspruch ist aber auch nicht gegeben, soweit es den ungedeckten Bedarf der Antragstellerin zu 2) betrifft.
Als ungedeckter Bedarf ist entgegen den Berechnungen des Sozialgerichts von einem Betrag von 298,23 EUR monatlich auszugehen.
Insoweit ist von deren Bedarf von 452,23 EUR monatlich (Regelleistung 276,- EUR und anteilige Unterkunftskosten von 176,23
EUR) das gewährte Kindergeld von 154,- EUR gemäß § 11 Abs. 1 Satz 3 SGB II als deren Einkommen in Abzug zu bringen, da es
zur Sicherung ihres Lebensunterhaltes benötigt wird.
Ob hinsichtlich des ungedeckten Bedarfs der Antragsstellerin zu 2) ein Anordnungsanspruch ausscheidet, weil der insoweit anfallende
Bedarf aus dem vorhandenen und einzusetzenden Einkommen des Herrn D C zu bestreiten ist, lässt sich derzeit im Eilverfahren
nicht abschließend klären. Für eine Anrechung spricht grundsätzlich die Vorschrift des § 9 Abs. 2 Satz 2 SGB II, wonach bei
unverheirateten Kindern, die u. a. mit einem Elternteil in einer Bedarfsgemeinschaft leben und die die Leistungen zur Sicherung
ihres Lebensunterhaltes nicht aus ihrem eigenen Einkommen und Vermögen beschaffen können, auch das Einkommen und Vermögen
des in Bedarfsgemeinschaft lebenden Partners zu berücksichtigen ist. Diese Voraussetzungen wären vorliegend gegeben. Auch
würde das Einkommen des Herrn C ausreichen, um neben dem Bedarf der Antragstellerin zu 1) den ungedeckten Bedarf der Antragstellerin
zu 2) abzudecken. Insoweit ist entgegen der Auffassung des Sozialgerichts von einem monatlich verfügbaren Einkommen von 1.438,80
EUR - und nicht in Höhe des Pfändungsfreibetrages von 930,- EUR - auszugehen. Denn die insoweit behaupteten anderweitigen
Verbindlichkeiten des Herrn C können mangels ihrer Titulierung vorliegend keine einkommensmindernde Anrechnung finden (vgl.
LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 22. Mai 2007 - Az: L 5 B 240/07 AS ER).
Ob die einen Anordnungsanspruch ausschließende Vorschrift des § 9 Abs. 2 Satz 2 SGB II indes verfassungsgemäß ist, ist derzeit
nicht geklärt, so dass der Senat seine Entscheidung vorliegend im Rahmen einer Abwägung der Folgen trifft, die entstehen würden,
wenn das Gericht die begehrte Anordnung nicht erließe, sich später im Hauptsacheverfahren allerdings herausstellte, dass der
Anspruch besteht, gegenüber den Folgen, die entstünden, wenn das Gericht die begehrte Anordnung erließe, sich aber in der
Hauptsache herausstellte, dass der Anspruch nicht besteht (vgl. hierzu: LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 23. Oktober
2006 - L 19 B 599/06 AS ER -). Die insoweit zu treffende Folgenabwägung fällt hier zu Lasten der Antragstellerin zu 2) aus. Dabei fällt einerseits,
auch wenn es hier bei Leistungen der Grundsicherung um die Sicherstellung eines menschenwürdigen Lebens und damit die Absicherung
des Existenzminimums geht, ins Gewicht, dass der Senat sich grundsätzlich an das geltende Recht gebunden fühlt und sich die
Verfassungswidrigkeit der Vorschrift des § 9 Abs. 2 Satz 2 SGB II nicht dergestalt ausdrängt, dass jedenfalls ihre Anwendung
im Rahmen des vorliegenden Eilrechtsschutzverfahrens auszusetzen wäre. Andererseits führt ihre Anwendung angesichts der vorliegenden
Einkommenssituation der Bedarfsgemeinschaft auch nicht zu unerträglichen Ergebnissen. Nicht unberücksichtigt bleiben kann
schließlich, dass es vorliegend allein darum geht, inwieweit ein ungedeckter Bedarf der Antragstellerin zu 2) für einen allein
zurückliegenden Zeitraum durch anzurechnendes Einkommen des Herr Cgedeckt wäre.
Angesichts dessen war auf die Beschwerde hin die erstinstanzliche Entscheidung insgesamt aufzuheben und der Antrag auf Erlass
einer einstweiligen Anordnung abzulehnen.
Die Kostenentscheidung beruht auf §
193 SGG analog.
Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht angefochten werden, §
177 SGG.