Anspruch auf Grundsicherung für Arbeitsuchende; Europarechtskonformität des Leistungsausschlusses für Ausländer bei Aufenthalt
zur Arbeitsuche
Gründe:
Die Beschwerde des Antragsgegners gegen den Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 31. Juli 2013 ist zulässig und begründet.
Zu Unrecht hat das Sozialgericht den Antragsgegner im Wege des Erlasses einer einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem Antragsteller
für die Zeit vom 1. August 2013 bis zum 31. Januar 2014 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) in Höhe von 670,70 € monatlich zu gewähren. Denn es ist nicht glaubhaft, dass der Antragsteller aus § 7 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) in Verbindung mit § 19 Abs. 1 Satz 1 SGB II einen Anordnungsanspruch (§
86b Abs.
2 Satz 2,
4 Sozialgerichtsgesetz [SGG] in Verbindung mit §
920 Abs.
2 Zivilprozessordnung [ZPO]) hat.
Der Antragsteller (österreichischer Staatsangehöriger) ist gemäß § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II von den Leistungen des SGB II ausgenommen. Sein Aufenthaltsrecht ergibt sich allein aus dem Zweck der Arbeitssuche (§ 2 Abs. 2 Nr. 1 Alt. 2 des Gesetzes über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern [FreizügG/EU]). Denn er hält sich derzeit
weder als Arbeitnehmer (§ 2 Abs. 2 Nr. 1 Alt. 1 FreizügG/EU), noch zur Berufsausbildung (§ 2 Abs. 2 Nr. 1 Alt. 3 FreizügG/EU: der Antragsteller hat lediglich vom 17. Juni 2011 bis zum 10. Januar 2013 an einer Weiterbildungsmaßnahme teilgenommen)
in der Bundesrepublik Deutschland auf. Ein Recht zum Aufenthalt ergibt sich für ihn auch nicht aus § 2 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2, Satz 2 FreizügG/EU. Denn er war in der Bundesrepublik Deutschland weniger als ein Jahr selbständig erwerbstätig (und zwar vom 1. September 2010
bis zum 31. Januar 2011). Diese Tätigkeit ist zudem seit mehr als sechs Monaten beendet.
Die Regelung des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II ist anzuwenden. Das Europäische Unionsrecht verletzt sie nicht (vgl. Landessozialgericht [LSG] Berlin-Brandenburg, Beschluss
vom 29. Februar 2012, L 20 AS 2347/11 B ER; LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 3. April 2012, L 5 AS 2157/11 B ER, L 5 AS 2177/11 B PKH; LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 10. Mai 2012, L 20 AS 802/12 B ER; LSG, Baden-Württemberg, Urteil vom 16. Mai 2012, L 3 AS 1477/11; LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 23. Mai 2012, L 9 AS 47/12 B ER; LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 21.06.2012, L 20 AS 1322/12 B ER; LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 9. November 2012, L 29 AS 1782/12 B ER, L 29 AS 1783/12 B PKH; a. A.: Sächsisches LSG, Beschluss vom 31. Januar 2013, L 7 AS 964/12 B ER; Bayrisches LSG, Urteil vom 19. Juni 2013, L 16 AS 847/12 m. w. N.)
Denn sie beruht er auf Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38/EG vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten
frei zu bewegen und aufzuhalten (ABl. L 158 S. 77, 112). Auf diese europarechtliche Bestimmung hat der Gesetzgeber die Regelung
des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II ausdrücklich gestützt (BT-Drucksache 16/688, S. 13). Nach Art. 24 Abs. 2 Richtlinie 2004/38/EG ist der Aufnahmemitgliedstaat nicht verpflichtet, anderen Personen als Arbeitnehmern oder Selbständigen, Personen, denen
dieser Status erhalten bleibt, und ihren Familienangehörigen während der ersten drei Monate des Aufenthalts oder gegebenenfalls
während des längeren Zeitraums nach Art. 14 Abs. 4 Buchst. b Richtlinie 2004/38/EG einen Anspruch auf Sozialhilfe oder vor Erwerb des Rechts auf Daueraufenthalt Studienbeihilfen, einschließlich Beihilfen
zur Berufsausbildung, in Form eines Stipendiums oder Studiendarlehens zu gewähren. Art. 14 Abs. 4 Buchst. b Richtlinie 2004/38/EG bestimmt, dass auf keinen Fall eine Ausweisung verfügt werden darf, wenn die Unionsbürger in das Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats
eingereist sind, um Arbeit zu suchen. In diesem Fall dürfen die Unionsbürger und ihre Familienangehörigen nicht ausgewiesen
werden, solange die Unionsbürger nachweisen können, dass sie weiterhin Arbeit suchen und dass sie eine begründete Aussicht
haben, eingestellt zu werden. Damit dürfen die Mitgliedstaaten einem Unionsbürger die Sozialhilfe versagen, wenn er zum Zwecke
der Arbeitsuche eingereist ist.
Die Frage, welche Leistungen unter den Begriff der Sozialhilfe im Sinne des Art. 24 Abs. 2 Richtlinie 2004/38/EG fallen, ist nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften (EuGH), der in einem Vorabentscheidungsverfahren
über die Vereinbarkeit von § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II mit dem Recht der Europäischen Union zu entscheiden hatte, im Einklang mit dem Gleichbehandlungsanspruch im Rahmen der Arbeitnehmerfreizügigkeit
aus Art. 39 Abs. 2 des Vertrages zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (EGV) zu beantworten. Dieser umfasst die Abschaffung jeder auf der Staatsangehörigkeit beruhenden unterschiedlichen Behandlung
der Arbeitnehmer der Mitgliedstaaten in Bezug auf Beschäftigung, Entlohnung und sonstige Arbeitsbedingungen. Vor dem Hintergrund
dieses Gleichbehandlungsgrundsatzes ist es nicht möglich, Staatsangehörige eines Mitgliedstaates, die in einem anderen Mitgliedstaat
eine Beschäftigung suchen, von finanziellen Leistungen auszunehmen, sofern diese den Zugang zum Arbeitsmarkt des Mitgliedstaates
erleichtern sollen. Jedoch ist es legitim, dass ein Mitgliedstaat solche Leistungen erst gewährt, nachdem das Bestehen einer
tatsächlichen Verbindung des Arbeitsuchenden mit dem Arbeitsmarkt dieses Staates festgestellt wurde. Es ist Sache der zuständigen
nationalen Behörden und gegebenenfalls der innerstaatlichen Gerichte, nicht nur das Vorliegen einer tatsächlichen Verbindung
mit dem Arbeitsmarkt festzustellen, sondern auch die grundlegenden Merkmale dieser Leistung zu prüfen, insbesondere ihren
Zweck und die Voraussetzungen ihrer Gewährung. Der Zweck der Leistung ist nach Maßgabe ihrer Ergebnisse und nicht anhand ihrer
formalen Struktur zu untersuchen. Finanzielle Leistungen, die unabhängig von ihrer Einstufung nach nationalem Recht den Zugang
zum Arbeitsmarkt erleichtern sollen, können somit nicht als Sozialhilfeleistungen angesehen werden (Urteil vom 4. Juni 2009,
C 22/08, C 23/08, Vatsouras, Koupatantze).
Unter Berücksichtigung dieser Vorgaben handelt es sich bei den im vorliegenden Verfahren begehrten Leistungen um Sozialhilfeleistungen
im Sinne des Art. 24 Abs. 2 Richtlinie 2004/38/EG (vgl. LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 3. April 2012, L 5 AS 2157/11 B ER; LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 5. März 2012, L 29 AS 414/12 B ER; LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 29. Februar 2012, L 20 AS 2347/11 B ER; LSG Berlin-Brandenburg Beschluss vom 8. Juni 2009, L 34 AS 790/09 B ER; LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 23. Mai 2012, L 9 AS 347/12 B ER; LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 16. Mai 2012, L 3 AS 1477/11; Oberverwaltungsgericht (OVG) Bremen, Beschluss vom 15. November 2007, S 2 B 426/07). Diese Leistungen haben nämlich nicht den Zweck, den Zugang zum Arbeitsmarkt zu erleichtern, sondern die Existenzsicherung
zu gewährleisten. Zwar soll die Grundsicherung für Arbeitsuchende nach § 1 Abs. 2 Satz 2 SGB II erwerbsfähige Leistungsberechtigte auch bei der Aufnahme oder Beibehaltung einer Erwerbstätigkeit unterstützen. Dass diese
Zielsetzung jedoch nicht für alle Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende zutrifft, zeigt bereits die in § 1 Abs. 3 SGB II vorgenommene Unterscheidung zwischen Leistungen zur Beendigung oder Verringerung der Hilfebedürftigkeit, insbesondere durch
Eingliederung in Arbeit (Nr. 1) und solchen zur Sicherung des Lebensunterhalts (Nr. 2). Letztere beinhalten den im vorliegenden
Verfahren in Betracht kommenden Regelbedarf sowie den Bedarf für Unterkunft und Heizung. Diese haben rechtlich keinen Bezug
zur Eingliederung in den Arbeitsmarkt. Die genannten Leistungen sind in der Nachfolge des zum 31. Dezember 2004 aufgehobenen
Bundessozialhilfegesetzes (BSHG) zur Sicherung des Lebensunterhalts eingeführt worden. Sie unterscheiden sich in Höhe und Art nicht von den entsprechenden
Leistungen nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII), denen ausdrücklich ein Bezug zum Arbeitsmarkt fehlt (§ 21 SGB XII). Sie sind auch faktisch grundsätzlich nicht geeignet, einen Beitrag zur Eingliederung in den Arbeitsmarkt zu leisten, da
der Hilfebedürftige mit diesen Leistungen seinen Lebensunterhalt bestreiten muss. Zur Eingliederung in den Arbeitsmarkt sieht
das Recht der Grundsicherung für Arbeitsuchende vielmehr in den §§ 16 ff. SGB II weitere Leistungen vor, die vom Leistungsträger gesondert gewährt werden.
Die Ausschlussregelung des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II verstößt auch nicht gegen die seit dem 1. Mai 2010 anwendbare Verordnung (EG) Nr. 883/2004 zur Koordinierung der Systeme
der sozialen Sicherheit (VO 883/2004) vom 29. April 2004 (ABl. L 166 S. 1). Diese Rechtsfrage hat das Bundessozialgericht
(BSG) bislang offen gelassen (BSG, Urteil vom 25. Januar 2012, B 14 AS 138/11 R; BSG, Urteil vom 19. Oktober 2010, B 14 AS 23/10 R). Sie ist bundesweit unter den LSG umstritten (Rechtmäßigkeit wird bejaht vom: LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 3.
April 2012, L 5 AS 2157/11 B ER; LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 5. März 2012, L 29 AS 414/12 B ER; LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 29. Februar 2012, L 20 AS 2347/11 B ER; LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 8. Juni 2009, L 34 AS 790/09 B ER; LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 23. Mai 2012, L 9 AS 347/12 B ER; LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 16. Mai 2012, L 3 AS 1477/11; OVG Bremen, Beschluss vom 15. November 2007, S 2 B 426/07; zweifelnd dagegen: LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 30. September 2011, L 14 AS 1148/11 B ER; LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 30. November 2010, L 34 AS 1501/10 B ER; LSG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 14. November 2011, L 5 AS 406/11 B ER; LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 24. Oktober 2011, L 12 AS 3938/11 ER-B; LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 11. August 2011, L 15 AS 188/11 B ER; Hessisches LSG, Beschluss vom 14. Juli 2011, L 7 AS 107/11 B ER).
Nach Art. 4 VO 883/2004 haben Personen, für die diese Verordnung gilt, die gleichen Rechte und Pflichten aufgrund der Rechtsvorschriften
eines Mitgliedstaats wie die Staatsangehörigen dieses Staates. Der persönliche Geltungsbereich der Verordnung umfasst gemäß
Art. 2 Abs. 1 VO 883/2004 alle Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats. Gemäß Art. 3 Abs. 3 VO 883/2004 gilt die Verordnung
ausdrücklich auch für die besonderen beitragsunabhängigen Geldleistungen im Sinne des Art. 70 Abs. 1 VO 883/2004, also solche
Leistungen, die nach Rechtsvorschriften gewährt werden, die aufgrund ihres persönlichen Geltungsbereiches, ihrer Ziele und/oder
ihrer Anspruchsvoraussetzungen sowohl Merkmale der Rechtsvorschriften der sozialen Sicherheit als auch der Sozialhilfe aufweisen.
Dazu gehören nach Art. 70 Abs. 2 Buchst. c VO 883/2004 in Verbindung mit Anhang X VO 883/2004 in Deutschland ausdrücklich
auch die Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts der Grundsicherung für Arbeitsuchende, soweit für diese Leistungen
nicht dem Grunde nach die Voraussetzungen für den befristeten Zuschlag nach Bezug von Arbeitslosengeld (§ 24 Abs. 1 SGB II) erfüllt sind.
Zwar sprechen diese Regelungen der VO 883/2004 bei isolierter Betrachtung für einen Gleichbehandlungsanspruch aller Unionsbürger
auch hinsichtlich der Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts. Jedoch ist § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II in Verbindung mit Art. 24 Abs. 2 Richtlinie 2004/38/EG als speziellere Regelung anwendbar. Im Recht der Europäischen Union sind sekundärrechtliche Normenkollisionen nach den allgemeinen
Rechtsgrundsätzen "lex posterior derogat legi priori" und "lex specialis derogat legi generali" zu lösen (Nettesheim, in:
Grabitz/Hilf, Das Recht der Europäischen Union, Stand Mai 2008, Art. 249 EGV Rn. 234). Die Anwendung des erstgenannten Rechtsgrundsatzes ist im vorliegenden Fall ausgeschlossen, da von einer früheren
und einer späteren Regelung keine Rede sein kann. Die Richtlinie 2004/38/EG und die VO 883/2004 wurden am selben Tag erlassen, nämlich am 29. April 2004. An dieser Ausgangslage hat sich auch durch
die Verordnung (EG) Nr. 987/2009 vom 16. September 2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung
(EG) 883/2004 (ABl. L 284 S. 1) sowie durch die Verordnung (EG) Nr. 988/2009 vom 16. September 2009 zur Änderung der VO 883/2004
und zur Festlegung des Inhalts ihrer Anhänge (ABl. L 284 S. 43) nichts geändert. Diese Verordnungen waren nach Art. 91 Verordnung
(EG) Nr. 988/2009 sowie nach den Anhängen II, X und XI erforderlich, um die Anwendung der VO 883/2004 überhaupt erst zu ermöglichen.
Sie enthalten aber keine Regelungen, die der Anwendung des Art. 24 Abs. 2 Richtlinie 2004/38/EG entgegenstehen. Auch soweit Art. 70 VO 883/2004 in Verbindung mit Anlage X VO 883/2004 die Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts ausdrücklich als besondere
beitragsunabhängige Leistungen einstuft, steht das der Anwendung des Art. 24 Abs. 2 Richtlinie 2004/38/EG nicht entgegen. Im Europarecht entspricht es der ständigen Rechtsetzungspraxis, die Inanspruchnahme von Sozialhilfeleistungen
durch Wanderarbeitnehmer einzuschränken (vgl. schon Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 90/364/EWG vom 28. Juni 1990 über das Aufenthaltsrecht [ABl. L 180 S. 26], Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 90/365/EWG vom 28. Juni 1990 über das Aufenthaltsrecht der aus dem Erwerbsleben ausgeschiedenen Arbeitnehmer und selbständig Erwerbstätigen
[ABl. L 180 S. 28]). Daran ist mit Art. 24 Abs. 2 Richtlinie 2004/38/EG festgehalten worden. Der Sinn und Zweck dieser Regelung liegt darin, eine Zuwanderung unter Ausnutzung des jeweiligen Fürsorgesystems
zu unterbinden. Die Richtlinie 2004/38/EG enthält demnach gegenüber der VO 1408/71 ein eigenständiges Regelungswerk. Während die VO 883/2004 allgemeine Vorschriften
zur Koordinierung der sozialen Sicherungssysteme beinhaltet, regelt die Richtlinie 2004/38/EG das Aufenthaltsrecht der Unionsbürger. In Art. 24 Abs. 1 Richtlinie 2004/38/EG ist auch das Gleichbehandlungsgebot gesondert geregelt. Art. 24 Abs. 2 Richtlinie 2004/38/EG stellt hierzu eine Ausnahmevorschrift dar. Sie ist erforderlich, weil das Aufenthaltsrecht einerseits unter anderem schon
tatbestandlich davon abhängt, dass Sozialhilfeleistungen nicht oder nicht unangemessen in Anspruch genommen werden (Art. 7 Abs. 1 Buchst. b und c, 12 Abs. 2, 14 Abs. 1 Richtlinie 2004/38/EG), andererseits aber die Inanspruchnahme von Sozialhilfeleistungen gemäß Art. 14 Abs. 3 Richtlinie 2004/38/EG nicht automatisch zu einer Ausweisung führen darf. Aus dieser Regelungssystematik ebenso wie aus Sinn und Zweck der Richtlinie 2004/38/EG folgt ein gegenüber der VO 883/2004 eigenständiger Sozialhilfebegriff. Dieses Ergebnis wird auch dadurch bestätigt, dass
der EuGH in seiner oben erwähnten Entscheidung, in welcher es um Leistungen für die Zeit ab dem 28. April 2007 ging, die Ausschlussregelung
des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II a. F. nicht für unanwendbar gehalten hat, obwohl er hierzu hinreichend Anlass gehabt hätte. Das Gleichbehandlungsgebot und
die Einstufung der Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts als besondere beitragsunabhängige Leistungen galt nämlich
bereits nach der Vorgängerregelung des Art. 3 Abs. 1 und Abs. 2a in Verbindung mit Anhang IIa der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71
(VO 1408/71) vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und deren Familien, die
innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern (ABl. L 149, S. 2), in der Fassung der Verordnung (EG) Nr. 629/2006 vom 5. April
2006 zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 (ABl. L 114 S. 1). Die im Rahmen des damaligen Vorabentscheidungsverfahrens
gestellten Rechtsfragen des vorlegenden Sozialgerichts betrafen zwar ausdrücklich nur die Vereinbarkeit des Leistungsausschlusses
mit Art. 24 Abs. 2 Richtlinie 2004/38/EG und mit dem Primärrecht der Europäischen Union. Im Rahmen der Entscheidungserheblichkeit der Vorlagefragen hätte sich der
EuGH jedoch auch mit der VO 1408/71 auseinandersetzen müssen, wenn er davon ausgegangen wäre, dass der Leistungsausschluss
dem dort enthaltenen Gleichbehandlungsgebot widerspricht, zumal er den persönlichen Anwendungsbereich der VO 1408/71 bereits
dann als eröffnet ansieht, wenn die betreffende Person in dem maßgeblichen Zeitraum auch nur gegen ein einziges Risiko im
Rahmen eines der in Art. 1 Buchst. a VO 1408/71 genannten allgemeinen oder besonderen Systeme der sozialen Sicherheit pflichtversichert
oder freiwillig weiter versichert ist (Urteil vom 10. März 2011, C-516/09, Borger).
§ 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II ist auch nicht wegen des Gleichbehandlungsgebots aus Art. 1 des Europäischen Fürsorgeabkommens (EFA) vom 11. Dezember 1953 (BGBl. Teil II 1956, S. 564) unanwendbar (vgl. hierzu Bundessozialgericht, Urteil vom 19. Oktober 2010, B 14 AS 23/10 R). Denn die Republik Österreich hat dieses nicht unterzeichnet und ratifiziert.
Darüber hinaus ist § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II nicht wegen Art. 2 Abs. 1 des Abkommens zwischen der Republik Österreich und der Bundesrepublik Deutschland über Fürsorge und Jugendwohlfahrtspflege
(AbkFürJu-Öst) vom 17. Januar 1966 (BGBl. Teil II 1969, S. 1) unanwendbar (zur Fortgeltung dieses Abkommens auch nach dem Beitritt Österreichs zur Europäischen Union vgl. Art. 307 EG, jetzt Art. 351 AEUV). Zwar ergibt sich aus Art. 2 Abs. 1 AbkFürJu-Öst ein Anspruch auf Gleichbehandlung österreichischer und deutscher Staatsangehöriger hinsichtlich der Leistungen
der sozialen Fürsorge. Die Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II sind jedoch keine solche Fürsorgeleistungen (wie hier: LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 22. Juni 2010, L 1 AS 36/08; Thie/Schoch, in: Münder, SGB II, 4. Aufl. 2011, § 7 Rn. 29; a. A.: LSG Mecklenburg-Vorpommern, Beschluss vom 7. März 2012, L 8 B 489/10 ER). Denn Art. 1 Nr. 4 AbkFürJu-Öst definiert "Fürsorge" als "alle gesetzlich begründeten Geld-, Sach-, Beratungs-, Betreuungs-
und sonstigen Hilfeleistungen aus öffentlichen Mitteln zur Deckung und Sicherung des Lebensbedarfes für Personen, die keine
andere Voraussetzung als die der Hilfsbedürftigkeit zu erfüllen haben". Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts
nach dem SGB II haben Personen nicht schon dann, wenn sie hilfebedürftig sind, sondern nur, wenn sie zugleich das 15. Lebensjahr vollendet
und die Altersgrenze des § 7a SGB II noch nicht erreicht haben und wenn sie erwerbsfähig sind (vgl. § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, 2 und 3 SGB II in Verbindung mit § 7a SGB II, § 8 SGB II, § 9 SGB II).
Entgegen der Auffassung des LSG Mecklenburg-Vorpommern (vgl. dessen Beschluss vom 7. März 2012, L 8 B 489/10 ER) dienen die Nummern 1 und 2 des § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II nicht lediglich "der mit dem Dritten Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt vom 23. Dezember 2003 neu geschaffenen
Abgrenzung zum (Adressatenkreis des) [...] SGB XII". Denn schon die Überschrift des 2. Kapitels des SGB II weist aus, dass (auch) die Nummern 1 und 2 des § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II "Anspruchsvoraussetzungen" enthalten (vgl. Spellbrink/Becker, in: Eicher, SGB II, 3. Aufl. 2013, § 7 Rn. 1). Zudem heißt es in der amtlichen Begründung zu § 7 SGB II in der Fassung des Vierten Gesetzes für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt vom 24. Dezember 2003 (BGBl. Teil I 2003
Nr. 66, S. 2954), dass § 7 Abs. 1 SGB II "für die Leistungen zur Eingliederung in Arbeit den Kreis der Berechtigten" festlege (vgl. BT-Drucks. 15/1516 S. 52; vgl.
auch BT-Drucks. 15/1516 S. 46: "Anspruchsberechtigt sind alle erwerbsfähigen Hilfebedürftigen zwischen 15 und unter 65 Jahren
sowie ihre Angehörigen.").
Nicht stichhaltig ist auch die Auffassung des LSG Mecklenburg-Vorpommern (vgl. dessen Beschluss vom 7. März 2012, L 8 B 489/10 ER), dass "nach dem (mutmaßlichen) Willen der Vertragsschließenden" des AbkFürJu-Öst nur die "Sozialleistungen vom Anwendungsbereich"
des AbkFürJu-Öst ausgeschlossen seien, die "auf Beiträge oder sonstige Leistungen der Fürsorgebedürftigen zurückgehen". Dieser
Auffassung widerspricht bereits, dass der Wortlaut des Art. 1 Nr. 4 AbkFürJu-Öst von dem (deutlich weiter gefassten) Wortlaut
des Art. 2 Buchst. a Abs. i des (von der Bundesrepublik Deutschland bereits am 11. Dezember 1953 unterzeichneten und am 24.
August 1956 ratifizierten) EFA abweicht, und dass das AbkFürJu-Öst keinen Anhalt für die Annahme bietet, dass diese Abweichung
auf einem Irrtum beruht. Hinzu kommt, dass nach Art. 31 Abs. 4 der Wiener Übereinkunft über das Recht der Verträge (BGBl.
Teil II 1985, S. 926) einem Ausdruck dann eine besondere Bedeutung beizulegen ist, wenn feststeht, dass die Vertragsparteien dies beabsichtigt
haben. So ist es hier. Denn Art. 1 Nr. 4 AbkFürJu-Öst enthält eine Definition ("In diesem Abkommen bedeuten die Ausdrücke
[...]."). Sinn und Zweck einer Definition ist es, den Inhalt eines Begriffs zu bestimmen.
Dass die Wiener Übereinkunft über das Recht der Verträge nach Art. 4 dieser Übereinkunft nur auf Verträge Anwendung findet,
die von Staaten geschlossen werden, nachdem das Übereinkommen für sie in Kraft getreten ist, und dass die Wiener Übereinkunft
über das Recht der Verträge von der Bundesrepublik Deutschland erst 21. Juli 1987 und von der Republik Österreich erst am
30. April 1979 ratifiziert wurde, ist unerheblich. Denn die Regelungen der Wiener Übereinkunft über das Recht der Verträge
(der Vertragstext wurde 1969 angenommen und zur Unterzeichnung freigegeben) sind Ausdruck des Völkergewohnheitsrechts (vgl.
EuGH, Urteil vom 19. November 2009, C-118/07, Kommission/Finnland).
Leistungen des SGB XII kann der Antragsteller ebenfalls nicht beanspruchen. Dies ergibt sich aus § 21 Satz 1 SGB XII. Entgegen der Auffassung des 14. Senats des LSG Berlin-Brandenburg (Beschluss vom 28.06.2012, L 14 AS 933/12 B ER) ist der Antragsteller nicht "dem Grunde nach" von den Leistungen des SGB II ausgeschlossen (vgl. LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 21. Juni 2012, L 20 AS 1322/12 B ER; LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 25. Juli 2012, L 29 AS 1504/12 B ER).
Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung des §
193 Abs.
1 Satz 1
SGG.
Obgleich der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung aus den vorstehenden Gründen vollständig abzulehnen war, war
dem Antragsteller für das Beschwerdeverfahren Prozesskostenhilfe zu bewilligen und Rechtsanwalt Oliver Gaßner, Mühlenstraße
16, 17109 Demmin, beizuordnen. Denn eingelegt hat das Rechtsmittel der Antragsgegner (§
73a Abs.
1 Satz 1
SGG in Verbindung mit §
119 Abs.
1 Satz 2
ZPO).
Dieser Beschluss kann gemäß §
177 SGG nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht angefochtenen werden.
Mit ihm erledigt sich der Antrag nach §
199 Abs.
2 SGG.