Anspruch auf Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem SGB II; Keine Bewilligung eines Mehrbedarfs wegen kostenaufwändiger Ernährung bei Laktoseintoleranz; Klassifizierung einer im Verwaltungsverfahren
vorgelegten ärztlichen Bescheinigung über einen Ernährungsmehrbedarf als Änderungsantrag
Tatbestand:
Der Beklagte wendet sich gegen die Verurteilung zur Bewilligung eines Mehrbedarfs wegen kostenaufwändiger Ernährung nach §
21 Abs. 5 Zweites Buch Sozialgesetzbuch - Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II) wegen einer Laktose- und Fruktoseintoleranz für die Zeit vom 1. Juli 2009 bis 31. Mai 2013.
Die am ... 1980 geborene alleinstehende Klägerin bezieht seit 2005 Leistungen nach dem SGB II. Zuletzt waren ihr mit Bescheid vom 18. Juni 2009 Leistungen für die Zeit vom 1. Juli bis 31. Dezember 2009 i.H.v. 520,81
EUR/Monat ohne Mehrbedarf wegen kostenaufwändiger Ernährung bewilligt worden.
Die Klägerin legte am 25. Juni 2009 eine ärztliche Bescheinigung der Fachärztin für Allgemeinmedizin H. vom 23. Juni 2009
vor. Danach bestehe eine Laktoseintoleranz und es sei eine laktosefreie Kost erforderlich.
Die Beklagte lehnte den Antrag mit Bescheid vom 26. Juni 2009 ab. Es bestehe kein Mehrbedarf wegen einer kostenaufwändigen
Ernährung. Laktosefreie oder -reduzierte Nahrungsmittel seien in einigen Verbrauchermärkten kostengünstig zu erwerben.
In ihrem dagegen gerichteten Widerspruch machte die Klägerin geltend, die erforderlichen Lebensmittel könne sie nicht ohne
erhebliche Mehrkosten erwerben. Sie legte einen Preisvergleich verschiedener Lebensmittel vor.
Der Beklagte holte eine Stellungnahme des Facharztes für Innere Medizin Dr. R. vom 30. Oktober 2009 ein. Die aus dessen Sicht
lebenslang notwendige laktosefreie Diät sei im Vergleich zu der normalen Kostform um etwa 10 bis 20 % teurer.
Der Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 13. Januar 2010 als unbegründet zurück. Ergänzend führte er
aus, seit einigen Jahren gäbe es laktosefreie Produkte auch im Disccountbereich; deshalb seien diese nicht teurer als normale
Vergleichskost.
Dagegen hat die Klägerin am 9. Februar 2010 Klage beim Sozialgericht Magdeburg erhoben und sich auf die Einschätzung von Dr.
R. bezogen. Im Februar 2012 sei auch eine Fruktoseintoleranz nachgewiesen worden. Ferner hat sie ein Haushaltsbuch für die
Zeit von März bis Oktober 2011 vorgelegt.
Das Sozialgericht hat einen Befundbericht von der Fachärztin für Allgemeinmedizin B. vom 14. August 2012 eingeholt. Diese
hat als Diagnosen eine Laktose- und Fruktoseintoleranz sowie ein Reizdarmsyndrom genannt. Erforderlich sei eine ständige möglichst
laktose- und fruktosearme Kostform.
Zwischenzeitlich hat der Beklagte antragsgemäß weitere Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts, jeweils ohne Mehrbedarf
wegen kostenaufwändiger Ernährung, bewilligt vom 1. Januar bis 30. November 2010 (Bescheid vom 9. Dezember 2009), für die
Zeit vom 1. Dezember 2010 bis 31. Mai 2011 (Bescheid vom 12. Oktober 2010), für die Zeit vom 1. Juni bis 30. November 2011
(Bescheid vom 16. Mai 2011), für die Zeit vom 1. Dezember 2011 bis 31. Mai 2012 (Bescheid vom 15. November 2011), für die
Zeit vom 1. Dezember 2012 bis 31. Mai 2013 (Bescheid vom 20. November 2012). Alle Bescheide sind bestandskräftig geworden.
Das Sozialgericht hat mit Urteil vom 9. März 2013 den Bescheid vom 26. Juni 2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids
vom 14. Januar 2010 aufgehoben und den Beklagten verpflichtet, der Klägerin für die Zeit ab dem 1. Juli 2009 einen ernährungsbedingten
Mehrbedarf i.H.v. 26,57 EUR für die Zeit vom 1. Juli 2009 bis 31. Dezember 2010, i.H.v. V6,94 EUR vom 1. Januar bis 31. Dezember
2011, i.H.v. 27,68 EUR für die Zeit vom 1. Januar bis 31. Dezember 2012 und i.H.v. 28,27 Euro ab dem 1. Januar 2013 zu gewähren.
Die Klägerin habe Anspruch auf den begehrten Mehrbedarf. Zur Höhe orientiere sich die Kammer an der Einschätzung von Dr. R.,
der einen Mehrbedarf von 10 bis 20 % angenommen habe. Angesichts der Preise für laktosefreie Milch seien 20 % Mehrkosten des
in der Regelleistung enthaltenen Bedarfs für die Ernährung angemessen.
Gegen das ihm am 27. März 2013 zugestellte Urteil hat der Beklagte am 25. April 2013 Berufung eingelegt. Zu Unrecht sei er
vom Sozialgericht ohne zeitliche Begrenzung zur Bewilligung eines Mehrbedarfs verpflichtet worden. Dieser sei auch kein abtrennbarer
Streitgegenstand des gerichtlichen Verfahrens. Der Mehrbedarf bestehe aber auch nicht, vielmehr sei eine Ernährung mit "Vollkost"
ausreichend. Die Klägerin habe erhebliche erhöhte Aufwendungen nicht nachgewiesen. Aus der Einschätzung des Dr. R. lasse sich
nicht endgültig beurteilen, ob sich ein Mehrbedarf ergebe. Darüber hinaus könne kein Mehrbedarf wegen kostenaufwändiger Ernährung
für Zeiträume bewilligt werden, in denen die besondere Ernährungsform nicht durchgeführt wurde.
Der Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Magdeburg vom 19. März 2013 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil in vollem Umfang für zutreffend. Zu beachten sei, dass auch eine Fruktoseintoleranz vorliege.
Der Senat hat zunächst verschiedene von anderen Gerichten eingeholte Sachverständigengutachten hinsichtlich eines monatlichen
Mehrbedarfs bei Laktoseintoleranz beigezogen und ferner Befundberichte der behandelnden Ärzte eingeholt. Die Fachärztin für
Allgemeinmedizin B. hat unter dem 20. Januar 2014 über vielfältige Beschwerden der Klägerin berichtet. Es bestünden u.a. eine
Laktoseintoleranz und Störungen des Fruktosestoffwechsels, ein Reizdarmsyndrom ohne Diarrhoe und eine somatoforme autonome
Funktionsstörung des oberen Verdauungssystems. Der Facharzt für Innere Medizin und Gastroenterologie Dr. Z. hat unter dem
20. Januar 2014 als Diagnose einen Reizmagen und Fruktoseintoleranz genannt.
Die AOK Gesundheitskasse hat unter dem 20. März 2014 mitgeteilt, seit Juni 2010 habe keine Ernährungsberatung stattgefunden.
Nach dem beigezogenen arbeitsamtsärztlichen Gutachten des Facharztes für Allgemeinmedizin DM K. vom 11. November 2009 bestehe
ein vollschichtiges Leistungsvermögen.
Ferner hat der Senat den Facharzt für Innere Medizin/Kardiologie, Ernährungsmedizin, Sozialmedizin/Rehabilitationswesen Dr.
M. das Gutachten vom 2. März 2015 nach Untersuchung der Klägerin am 8. Juli 2014 erstatten lassen. Dem Sachverständigen sind
die Empfehlungen des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge e.V. (Deutscher Verein), Stand 2008 und 2014,
vorgelegt worden. Die Klägerin hat angegeben, trotz Einhaltung einer laktose- und fruktosefreien Ernährung habe sie weiterhin
häufig Verdauungsbeschwerden. Das auf seine Anforderung für mehrere Tage geführte Ernährungsprotokoll weise nach Einschätzung
des Gutachters auf eine defizitäre Ernährung mit sehr niedriger Gesamtenergiezufuhr hin. Vermutlich sei die Dokumentation
unvollständig, und mit hoher Wahrscheinlichkeit seien in dem Ernährungsprotokoll auch laktosehaltige Lebensmittel genannt
worden. Als ernährungsmedizinisch relevante Diagnosen hat der Gutachter genannt: Laktoseintoleranz, Fruktoseintoleranz und
Reizdarmsyndrom. Nicht eindeutig zu beantworten sei der Ausprägungsgrad der Laktoseintoleranz. Erst bei einem ausgeprägten
Laktasemangel mit notwendiger vollständiger laktosefreier Kost wäre eine Supplementation mit Kalzium erforderlich. Eine solche
Empfehlung sei jedoch bisher nicht erfolgt. Sollte ein Kalziummangel diagnostiziert werden, wäre die Aufnahme von kalziumhaltigem
Gemüse - ohne Mehrkosten - ausreichend. Auch bei gleichzeitigem Vorliegen von Laktose- und Fruktoseintoleranz sollten aus
ernährungsmedizinischer Sicht keine generellen und absoluten Verbote auferlegt werden. Vielmehr müsse die individuelle Verträglichkeit
der Nahrungsmittel getestet werden. Zusammengefasst hat der Sachverständige eingeschätzt, dass die Klägerin sich mit Vollkost
vollwertig ernähren könne. Zwar enthalte die "Vollkost" i.S.d. Empfehlungen des Deutschen Vereins auch für sie nicht verträgliche
Lebensmittel. Hierfür stünden aber nicht diätetische und diätetische Lebensmittel zur Verfügung. Dafür werde kein notwendiger
finanzieller Mehrbedarf gesehen. Ersatzprodukte, die einen finanziellen Mehrbedarf auslösen würden, seien nicht erforderlich.
Auch aus den Ernährungsprotokollen ließe sich kein finanzieller Mehraufwand erkennen. Das im Rahmen einer früheren Ernährungsberatung
empfohlene strenge Vermeidungsverhalten sei ernährungsmedizinisch nicht gerechtfertigt. Soweit in einigen Studien ein Mehrbedarf
angenommen worden sei, sei es nicht korrekt, einen "1:1-Ersatz" laktosehaltiger durch laktosefreie Lebensmittel zu empfehlen.
Sinnvoll sei vielmehr eine Variation von laktose- und fruktosearmer Ernährung, die keine Mehrkosten im Vergleich zu einer
normalen laktose- und fruktosehaltiger Vollkost verursache.
Die Gerichtsakte und die Verwaltungsakte der Beklagten sowie das von der Klägerin vorgelegte Haushaltsbuch haben vorgelegen
und sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Sachvortrags
der Beteiligten und die Ergebnisse der Beweisaufnahme wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der Verwaltungsakte ergänzend
verwiesen.
Entscheidungsgründe:
I.
Die Berufung des Beklagten ist form- und fristgerecht gemäß §
173 Sozialgerichtsgesetz (
SGG) erhoben worden. Sie ist auch statthaft gemäß §
144 Abs.
1 Satz 1 Nr.
1 SGG. Denn die Verpflichtung des Sozialgerichts, der Klägerin für die Zeit von Juli 2009 bis - mindestens - Januar 2013 einen
Mehrbedarf zu zahlen, übersteigt einen Betrag von 750 EUR bei weitem.
II.
Die Berufung ist auch begründet, da das Sozialgericht den Beklagten zu Unrecht verpflichtet hat, der Klägerin einen Mehrbedarf
für kostenaufwändige Ernährung zu bewilligen.
Der angefochtene Bescheid vom 26. Juni 2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 13. Januar 2010 ist - für den Zeitraum
vom 1. Juli bis 31. Dezember 2009 - in der Sache nicht zu beanstanden. Der Klägerin entstehen die begehrten weiteren Leistungen
für kostenaufwändige Ernährung nicht zu (dazu 2.). Unzulässig war die Klage bereits hinsichtlich der ausgeurteilten Zeiträume
ab 1. Januar 2010 (dazu 1.).
1.
Die Klage war hinsichtlich der Zeiträume ab 1. Januar 2010 unzulässig und die Verpflichtung des Beklagten zur weiteren Leistungsbewilligung
für diese Zeiträume schon deswegen aufzuheben.
a.
Das von der Klägerin am 25. Juni 2009 vorgelegte Attest ist ein Antrag auf Änderung des Bewilligungsbescheids vom 18. Juni
2009 für den Zeitraum vom 1. Juli bis 31. Dezember 2009 gemäß § 48 Abs. 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch - Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz (SGB X) gewesen.
Denn die isolierte Feststellung eines Mehrbedarfs ist unzulässig. Daher ist es der Behörde auch verwehrt, abschließend für
die Zukunft über einen geltend gemachten Mehrbedarf zu entscheiden. Ein entsprechender isolierter Ablehnungsbescheid hat immer
nur Bindungswirkung für den laufenden Bewilligungsabschnitt. Denn zu einer solchen Entscheidung mit Bindungswirkung für die
Zukunft wäre der Beklagte wegen der gemäß § 41 Abs. 1 Satz 4 SGB II geregelten abschnittsweisen Leistungsbewilligung gar nicht berechtigt. In zeitlicher Hinsicht kann sich eine Leistungsklage
damit zulässigerweise nur auf höhere laufende Leistungen für den laufenden Bewilligungsabschnitt - hier: 1. Juli bis 31. Dezember
2009 - beziehen (BSG, Urteil vom 26. Mai 2011, B 14 AS 146/10 R (15, 16)).
b.
Die Bescheide für die Zeiträume ab dem 1. Januar 2010 vom 9. Dezember 2009, 12. Oktober 2010, 18. Mai 2011, 16. Mai 2011,
15. November 2011 und 20. November 2012 sind nicht gemäß §
96 SGG Gegenstand des Klageverfahrens geworden.
Da diese Bescheide bestandskräftig geworden sind, scheidet auch eine Einbeziehung in das laufende Klage- bzw. Berufungsverfahren
im Wege der Klageänderung gemäß §
99 SGG aus (BSG, Urteil vom 26. Mai 2011, B 14 AS 146/10 R (16)).
2.
Die für die Zeit vom 1. Juli bis 31. Dezember 2009 zulässige Leistungsklage ist unbegründet, da die Klägerin keinen Anspruch
auf den begehrten Mehrbedarf für kostenaufwändige Ernährung hat.
a.
Gegenstand des Rechtsstreits ist die Bewilligung höherer Leistungen im laufenden Bewilligungsabschnitt. Dabei ist es unzulässig,
den Mehrbedarf als isolierten Streitgegenstand allein zum Gegenstand des Rechtsstreits zu machen. Dies gilt auch, wenn - wie
hier - die Leistungen bestandskräftig festgestellt und der Mehrbedarf in einem gesonderten Verfahren abgelehnt worden ist
(BSG, Urteil vom 12. Dezember 2013, B 4 AS 6/13 R (10, 11)).
Zulässig ist es jedoch, durch die Begrenzung des Rechtsstreits auf einen Mehrbedarf die Kosten der Unterkunft und Heizung
(KdU) unstreitig zu stellen. Dann ist die Höhe der Klägerin zustehenden Leistungen zwar unter jedem Gesichtspunkt - jedoch
mit Ausnahme der KdU - zu prüfen (BSG, Urteil vom 22. März 2010, B 4 AS 59/09 R (11)). Die Klägerin hat zwar nicht ausdrücklich und zu Protokoll im Rahmen einer Prozesserklärung eine solche Beschränkung
des Streitgegenstands erklärt. Einer eindeutigen und ausdrücklichen Erklärung einer Partei hinsichtlich einer Beschränkung
des Streitgegenstands im Klageverfahren bedarf es aber dann nicht, wenn - wie hier - die Klage erfolgreich gewesen ist und
nur der Beklagte das Rechtsmittel eingelegt hat (BSG, Urteil vom 12. Dezember 2013, B 4 AS 6/13 R (11)).
Hier hat die Klägerin von vornherein im Klageverfahren lediglich einen Mehrbedarf für kostenaufwändige Ernährung geltend gemacht.
Einwände hinsichtlich der - nicht in vollem Umfang bewilligten - KdU hat sie zu keinem Zeitpunkt gemacht. Nur hinsichtlich
einer Verurteilung zur Zahlung eines Mehrbedarfs für kostenaufwändige Ernährung hat der Beklagte Berufung eingelegt. Daher
hatte der Senat den Rechtsstreit auch nur hinsichtlich der Verpflichtung des Beklagten zur Zahlung dieses Mehrbedarfs zu prüfen.
b.
Die Klägerin waren in dem hier streitigen Zeitraum dem Grunde nach anspruchsberechtigt nach dem SGB II. Bei einer auf Leistungen gerichteten Klage sind grundsätzlich alle Anspruchsvoraussetzungen für die Leistungsberechtigung
dem Grunde und der Höhe nach zu prüfen.
Nach § 19 Abs. 1 Nr. 1 SGB II erhalten erwerbsfähige Hilfebedürftige als Arbeitslosengeld II Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts einschließlich
der angemessenen Kosten für Unterkunft und Heizung. Berechtigt, Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts zu erhalten
sind nach § 7 Abs.1 SGB II in der hier maßgeblichen Fassung Personen, die
das 15. Lebensjahr vollendet und die Altersgrenze noch nicht vollendet haben,
erwerbsfähig sind,
hilfebedürftig sind und
ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland haben.
Erwerbsfähig ist nach § 8 Abs. 1 SGB II, wer nicht wegen Krankheit oder Behinderung auf absehbare Zeit außerstande ist, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen
Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Nach § 9 Abs. 1 SGB II ist hilfebedürftig, wer seinen Lebensunterhalt, seine Eingliederung in Arbeit und den Lebensunterhalt der mit ihm in einer
Bedarfsgemeinschaft lebenden Personen nicht oder nicht ausreichend aus eigenen Kräften und Mitteln, vor allem nicht
durch Aufnahme einer zumutbaren Arbeit,
aus dem zu berücksichtigenden Einkommen oder Vermögen
sichern kann und die erforderliche Hilfe nicht von anderen, insbesondere von Angehörigen oder von Trägern anderer Sozialleistungen
erhält.
Die Klägerin hatte im streitigen Zeitraum das 15. Lebensjahr vollendet, die Altersgrenze noch nicht erreicht und ihren gewöhnlichen
Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland. Sie war auch nach der Einschätzung des arbeitsamtsärztlichen Gutachters DM K.
vom 11. November 2009 voll erwerbsfähig. Hinweise für eine fehlende Hilfebedürftigkeit wegen einzusetzenden Vermögens hat
der Senat nicht.
Die Klägerin hat keinen Anspruch auf den geltend gemachten Mehrbedarf gemäß § 21 Abs. 5 SGB II. Danach erhalten erwerbsfähige Hilfebedürftige, die aus medizinischen Gründen einer kostenaufwändigen Ernährung bedürfen,
einen Mehrbedarf in angemessener Höhe. Erforderlich ist dafür ein ursächlicher Zusammenhang zwischen einer bestehenden oder
drohenden Erkrankung und der Notwendigkeit einer besonderen Kostform. Nur krankheitsbedingte Gründe sind von Bedeutung (BSG, Urteil vom 10. Mai 2011, B 4 AS 100/10 R (16, 17)).
Bei der Klägerin lagen im streitigen Zeitraum in ernährungsmedizinischer Hinsicht eine Laktose- und Fruktoseintoleranz sowie
ein Reizdarmsyndrom vor.
a.a.
Hinsichtlich der Fruktoseintoleranz bestand im streitigen Zeitraum Juli bis Dezember 2009 schon deshalb kein Bedarf, weil
die Erkrankung erst im Jahr 2012 nachgewiesen worden ist.
Voraussetzung für die Entstehung eines Mehrbedarfs ist aber - neben der objektiven medizinischen Erforderlichkeit - die Kenntnis
von der Erkrankung. Dies ergibt sich schon aus dem Gesetzeswortlaut ("bedürfen", vgl. BSG, Urteil vom 20. Februar 2014, B 14 AS 65/12 R (25)).
b.b.
Hinsichtlich der im streitigen Zeitraum bekannten Laktoseintoleranz ist eine kostenaufwändige Ernährung aus medizinischen
Gründen nicht erforderlich gewesen. Vielmehr war es nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme des Senats ausreichend, sich im Rahmen
einer Vollkostnahrung laktosearm zu ernähren. Dies ergibt sich zu Überzeugung des Senats aus dem Sachverständigen Gutachten
des Dr. M. vom 2. März 2015.
Bei Vorliegen von Laktoseintoleranz muss die individuelle Verträglichkeit der Nahrungsmittel getestet werden. Eine bei einem
ausgeprägten Laktosemangel notwendige Supplementation mit Kalzium ist bislang von den behandelnden Ärzten nicht als erforderlich
angesehen worden. Selbst für diesen Fall wäre aber die Aufnahme von kalziumhaltigem Gemüse ohne Mehrkosten ausreichend. Das
im Rahmen einer früheren Ernährungsberatung empfohlene strenge Vermeidungsverhalten ist ernährungsmedizinisch jedenfalls nicht
gerechtfertigt. Es wird von der Klägerin auch offensichtlich nicht eingehalten, die der Sachverständige nach Auswertung der
Einkaufsprotokolle festgestellt hat.
Zwar enthält die "Vollkost" nach der Definition des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge e.V. (Deutscher
Verein) auch für die Klägerin nicht verträgliche Lebensmittel. Hierfür stehen aber andere nicht diätetische und diätetische
Lebensmittel zur Verfügung. Dafür ist kein notwendiger finanzieller Mehrbedarf notwendig. Ersatzprodukte, die einen finanziellen
Mehrbedarf auslösen würden, sind nicht erforderlich.
Für den Senat überzeugend argumentiert der Sachverständige, dass der in einigen Studien angenommene finanzielle Mehrbedarf
auf dem Gedanken eines "1:1-Ersatzes" laktosehaltiger durch laktosefreie Lebensmittel beruht. Sinnvoll ist aber vielmehr eine
laktosearme Ernährung, die keine Mehrkosten im Vergleich zu einer normalen laktosehaltiger Vollkost verursachen muss.
Auch aus den Empfehlungen des Deutscher Vereins, 4. Auflage 2014, lässt sich ein Mehrbedarf nicht rechtfertigen. Es handelt
sich hierbei zwar nicht um ein antizipiertes Sachverständigengutachten. Dennoch dienen die Empfehlungen 2014 als Orientierungshilfe
und können insbesondere zum Abgleich mit den Ergebnissen der durchzuführenden Einzelfallermittlung verwendet werden (BSG, Urteil vom 20. November 2011, B 4 AS 138/10 R (18, 23)). Die 2014 neu herausgegebenen Empfehlungen sind für den für den vorliegenden, das Jahr 2009 betreffenden Rechtsstreit
anzuwenden. Es gibt keine Gründe, die dort dokumentierten ernährungswissenschaftlichen Erkenntnisse nicht in die Beweiswürdigung
einfließen zu lassen (BSG, Urteil vom 10. Mai 2011, aaO., (23)).
Danach ist für die bei der Klägerin vorliegenden Erkrankungen regelmäßig kein krankheitsbedingt erhöhter Ernährungsaufwand
anzunehmen (Ziffer 3.2.1.und 3.2.2. der Empfehlungen 2014). Vielmehr ist regelmäßig eine Vollkosternährung ausreichend. Bei
Laktoseunverträglichkeit ist in der Regel ist eine Substitution mit speziellen Nahrungsmitteln nicht erforderlich. Die medizinische
Behandlung besteht im Vermeiden von nichtverträglichen Nahrungsmitteln. Die Deckung des Kalziumsbedarfs ist etwa durch Verzehr
von Milchprodukten mit sehr geringen Mengen an Laktose möglich. Ausnahmen gelten für Besonderheiten im Einzelfall, beispielsweise
eines angeborenen Laktasemangels. Ein solcher liegt bei der Klägerin aber nach den Feststellungen des Gutachters Dr. M. nicht
vor.
Die Einschätzung der Empfehlungen 2014 entspricht auch dem wissenschaftlichen Kenntnisstand der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit
(EFSA - in: The EFSA Journal 2010, 8 (9), 1777). Danach können die meisten Betroffenen eine Milchzuckerunverträglichkeit geringere
und auch höhere Dosen beschwerdefrei tolerieren, wenn sie über den Tag verteilt verzehrt werden. Ein vollständiger Verzicht
auf laktosehaltige Lebensmittel ist nicht erforderlich.
Aus diesen Gründen folgt der Senat der Einschätzung des für den Beklagten tätig gewordenen Dr. R. vom 30. Oktober 2009 nicht.
Dieser hat einen Ernährungsmehrbedarf für "laktosefreie Diät" ohne Begründung und ohne Darstellung seiner Schätzgrundlagen
genannt. Die behandelnde Hausärztin B. hat in ihren Befundberichten und Attesten hinsichtlich der behaupteten Mehrkosten für
eine laktosearme Ernährung keine Angaben gemacht.
Sollte die Klägerin aufgrund von Leistungseinschränkungen im geistigen Bereich nicht in der Lage sein, eine laktosereduzierte
Ernährung umzusetzen, wäre dies kein medizinischer Grund für die begehrte Zubilligung des Mehrbedarfs. Insoweit wäre sie auf
Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung in Form einer qualifizierten Ernährungsberatung, oder aber - bei einem Unvermögen
der Umsetzung einer Ernährungsberatung - auf Leistungen der Eingliederungshilfe zur Teilhabe am Leben in Gemeinschaft zu verweisen.
Die Frage, ob im Jahr 2009 mit dem in der Regelleistung enthaltenen Betrag für das Essen und Trinken eine gesunde und laktosearme
Ernährung möglich gewesen ist, stellt sich in diesem Zusammenhang nicht. Es gibt keinen Anspruch auf eine höhere Regelleistung
aufgrund eines individuellen Ernährungsmehrbedarfs. Nach dem Leistungssystem des SGB II ist eine abweichende Bestimmung der Höhe der Regelleistungen nicht vorgesehen. Es ist Sache des Hilfebedürftigen, über die
Verwendung des festgelegten Regelbedarfs im Einzelnen zu bestimmen und einen ggf. höheren Ernährungsbedarf durch geringere
Ausgaben in anderen Bereichen zu kompensieren (BSG, Urteil vom 10. Mai 2011, aaO., (30 f.)).
3.
Die Kostenentscheidung beruht auf §
193 SGG. Die Revision war nicht zuzulassen. Es handelt sich um eine Einzelfallentscheidung auf gesicherter Rechtsgrundlage.