Grad der Behinderung
Diabetes-Erkrankung
Weniger belastende Therapieform
Gravierende Beeinträchtigung in der Lebensführung
1. Nach Teil B 15.1 der Versorgungsmedizinischen Grundsätze beträgt bei einer Erkrankung an Diabetes mellitus der GdB 50,
wenn neben den weiteren Voraussetzungen der Therapieaufwand durch erhebliche Einschnitte eine gravierende Beeinträchtigung
in der Lebensführung bedeutet.
2. Diese Einschnitte können sich auch nur auf einen Lebensbereich beziehen, jedoch ist insoweit ein strenger Maßstab geboten.
3. Ebenso wie bei der Bestimmung des GdB bei orthopädischen Leiden die bloße Möglichkeit zur Linderung mittels einer Implantation
von Prothesen sich nicht auf die Bemessung des GdB auswirkt, bleibt bei der Bestimmung des GdB für Diabetes mellitus die Verfügbarkeit
einer weniger belastenden, aber vom behinderten Menschen nicht in Anspruch genommenen Therapieform außer Betracht.
Tatbestand:
Die 1963 geborene Klägerin begehrt die Zuerkennung eines Grades der Behinderung (GdB) von 50. Am 28. Januar 2010 beantragte
die Klägerin die Zuerkennung eines GdB. Nach Beiziehung medizinischer Unterlagen und Beteiligung des eigenen ärztlichen Dienstes
stellte der Beklagte mit Bescheid vom 21. März 2010 bei der Klägerin einen GdB von 30 fest und legte dem folgende Funktionsbeeinträchtigungen
zugrunde:
- Diabetes Mellitus (GdB 30),
- Bluthochdruck (GdB 10),
- Sehbehinderung beidseits (GdB 10).
Am 25. Mai 2011 stellte die Klägerin einen Neufeststellungsantrag, mit dem sie sich insbesondere auf ihre Diabetes-Erkrankung
bezog. Nach Auswertung medizinischer Unterlagen und Beteiligung des ärztlichen Dienstes änderte der Beklagte seinen Bescheid
vom 21. März 2010 mit Wirkung vom 25. Mai 2011 und stellte bei der Klägerin einen Grad der Behinderung von 40 fest. Dem legte
er als Funktionsbehinderung Diabetes Mellitus (GdB 40) sowie Bluthochdruck (GdB 10) zugrunde. Mit dem hiergegen gerichteten
Widerspruch machte die Klägerin geltend, es hätte keine Sachaufklärung in Bezug auf die bereits zuvor festgestellte Sehbehinderung
gegeben. Der Beklagte holte daraufhin einen Befundbericht der die Klägerin behandelnden Augenärztin ein und wies mit Widerspruchsbescheid
vom 19. Dezember 2011 den Widerspruch zurück.
Mit der am 4. Januar 2012 erhobenen Klage verfolgt die Klägerin ihr Begehren weiter. Das Sozialgericht hat Befundberichte
der die Klägerin behandelnden Ärzte eingeholt und den Facharzt für innere Medizin Dr. F mit der Erstellung eines Gutachtens
beauftragt. Nach Untersuchung der Klägerin am 5. Februar 2014 ist der Sachverständige in seinem Gutachten vom 26. Februar
2014 zu der Einschätzung gelangt, bei der Klägerin seien auf seinem Fachgebiet folgende Funktionsbeeinträchtigungen gegeben:
- Insulinpflichtiger Diabetes Mellitus (GdB 50),
- Hypertonus (GdB 10).
Insgesamt betrage der Grad der Behinderung 50. Maßgeblich für die Bemessung des GdB für den Diabetes mit 50 sei die Notwendigkeit
einer nächtlichen Injektion von Insulin gegen 2 Uhr morgens. Die hierdurch verursachte Unterbrechung der Nachtruhe sei ein
gravierender Einschnitt in der Lebensführung. Außerdem seien bei der Klägerin diabetische Komplikationen in Gestalt einer
Retinopathie mit Notwendigkeit wiederholter Laserbehandlungen der Augen sowie ein Glaukom feststellbar.
Mit Urteil vom 19. August 2014 hat das Sozialgericht Cottbus die Klage abgewiesen und zur Begründung ausgeführt, nach der
Rechtsprechung des Bundessozialgerichts könne eine Diabetes-Erkrankung mit einem GdB von 50 nur dann bewertet werden, wenn
die betreffende Person durch die Auswirkungen insgesamt gesehen erheblich in der Lebensführung beeinträchtigt sei. Hierfür
reiche es nicht aus, dass eine Insulintherapie mit täglich mindestens vier Injektionen durchgeführt werde, wobei die Dosis
in Abhängigkeit vom aktuellen Blutzucker, der folgenden Mahlzeit und der körperlichen Belastung selbständig variiert werden
und die Messung und Dosen dokumentiert sein müssten. Hinzutreten müsste eine gravierende Beeinträchtigung in der Lebensführung
durch erhebliche Einschnitte. Allein die Unterbrechung der Nachtruhe wegen der nächtlichen Insulingabe um 2 Uhr rechtfertige
es nicht, die Klägerin dem Personenkreis der schwerbehinderten Menschen zuzurechnen. Die behandelnde Augenärztin der Klägerin
habe dieser eine korrigierte Sehschärfe von 1,0, also eine Sehkraft von 100 Prozent attestiert. Hierfür sei ein Grad der Behinderung
nicht anzusetzen. Soweit erstmalig mit Schriftsatz vom 6. August 2014 Kniebeschwerden erwähnt worden seien, die seit Mitte
Juni 2014 bestünden, komme deren Berücksichtigung nicht in Betracht, weil sie noch nicht länger als sechs Monate andauerten.
Das Urteil ist dem Prozessbevollmächtigten der Klägerin am 28. August 2014 zugestellt worden.
Mit der am 18. September 2014 eingelegten Berufung verfolgt die Klägerin ihr Begehren weiter auf Zuerkennung eines GdB von
50 ab dem 25. Mai 2011. Sie ist der Auffassung, die Diabetes-Erkrankung sei mit einem GdB von 40 unzutreffend niedrig bewertet.
Neben der Beeinträchtigung durch die nächtliche Gabe von Insulin erfahre sie auch beruflich eine Einschränkung, denn sie habe
seit Auftreten des Diabetes im Jahr 2009 ihre Unterrichtsverpflichtung als Lehrerin auf 84 Prozent der vollen Stundenzahl
reduziert. Darüber hinaus macht sie geltend, seit der Entscheidung des Sozialgerichts habe sich ihre gesundheitliche Situation
im Hinblick auf die Augen, die Knie und das Schultergelenk verschlechtert. Soweit zwischenzeitlich versucht worden sei, sie
von der nächtlichen Insulingabe durch ein neues Präparat zu befreien, habe dies eingestellt werden müssen, da das ihr verordnete
Medikament wieder vom Markt genommen worden sei. Die Klägerin wird beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Cottbus vom 19. August 2014 aufzuheben und den Beklagten unter Änderung seines Bescheides vom
1. August 2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19. Dezember 2011 zu verpflichten, bei ihr mit Wirkung ab dem
25. Mai 2011 einen Grad der Behinderung von 50 festzustellen.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er vertieft hierzu sein Vorbringen zur Einordnung des Diabetes und ist im Übrigen der Ansicht, Funktionsbeeinträchtigungen
der Augen, der Kniegelenke und des Schultergelenkes seien bislang nicht nachgewiesen.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den gesamten Inhalt des Verwaltungsvorganges und der Streitakte Bezug genommen. Er
ist Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung ist zulässig und auch begründet. Die Klägerin hat einen Anspruch auf Feststellung eines GdB von 50 ab Antragstellung.
Bereits die Diabetes-Erkrankung der Klägerin gebietet diese Einordnung.
Nach den §§
2 Abs.
1,
69 Abs.
1 Sozialgesetzbuch, Neuntes Buch (
SGB IX) sind die Auswirkungen der länger als sechs Monate anhaltenden Funktionsstörungen nach Zehnergraden abgestuft entsprechend
den Maßstäben des § 30 Bundesversorgungsgesetz zu bewerten. Hierbei sind die in der Anlage zur Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) vom 10. Dezember 2008 (BGBl. I S. 2412) festgelegten "Versorgungsmedizinischen Grundsätze" heranzuziehen. Nach deren Teil B 15.1 beträgt bei einer Erkrankung an
Diabetes mellitus der GdB 50, wenn neben den weiteren hier zu Recht nicht im Streit stehenden Voraussetzungen der Therapieaufwand
durch erhebliche Einschnitte eine gravierende Beeinträchtigung in der Lebensführung bedeutet. Diese Einschnitte können sich
auch nur auf einen Lebensbereich beziehen, jedoch ist insoweit ein strenger Maßstab geboten (vgl. BSG, Urteil vom 16. Dezember 2014, B 9 SB 2/13 R, juris, Rdnr. 20f.). Mit dem in erster Instanz tätig beauftragten Sachverständigen und entgegen der Ansicht des Sozialgerichts
und des Beklagten ist der Senat der Überzeugung, dass diese strengen Voraussetzungen bei der Klägerin durch die Notwendigkeit
der nächtlichen Insulingabe erfüllt sind. Hierbei ist es nicht mit einer kurzen Injektion der bereits vorbereiteten Dosis
getan, sondern die Klägerin muss zunächst den Blutzucker messen und dokumentieren, sodann die passende Insulindosis bestimmen
und injizieren. Durch diese sich Nacht für Nacht wiederholende Prozedur wird jedenfalls ein noch berufstätiger Mensch in einer
Weise an durchgehender Nachtruhe gehindert, die einen gravierenden Einschnitt in die Lebensführung darstellt. Unerheblich
ist insofern die mögliche Verfügbarkeit anderer Therapieformen - etwa mittels Insulinpumpe -, denn maßgeblich für die Bestimmung
des GdB ist die konkret anzutreffende Teilhabebeeinträchtigung. Ebenso wie bei der Bestimmung des GdB bei orthopädischen Leiden
die bloße Möglichkeit zur Linderung mittels einer Implantation von Prothesen sich nicht auf die Bemessung des GdB auswirkt,
bleibt bei der Bestimmung des GdB für Diabetes mellitus die Verfügbarkeit einer weniger belastenden, aber vom behinderten
Menschen nicht in Anspruch genommenen Therapieform außer Betracht.
Die Kostenentscheidung beruht auf §
193 SGG. Gründe für eine Zulassung der Revision gem. §
160 Abs.
2 SGG sind nicht ersichtlich.