Berechnung eines Gesamt-GdB bei mehreren Beeinträchtigungen
Berücksichtigung wechselseitiger Beziehungen von Behinderungen
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten über die Höhe des bei dem Kläger festzustellenden Grades der Behinderung (GdB).
Der 1962 geborene Kläger, bei dem der Beklagte 2001 einen GdB von 40 festgestellt hatte, stellte am 26. Januar 2009 einen
Verschlimmerungsantrag, mit dem er auch das Merkzeichen "G" begehrte. Nach versorgungsärztlicher Auswertung der eingeholten
medizinischen Unterlagen lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 15. Juni 2009 den Antrag ab. Auf den Widerspruch des Klägers
holte der Beklagte das Gutachten des Orthopäden Dr. V vom 5. Juli 2011 ein, der auf der Grundlage der (mit den aus den Klammerzusätzen
ersichtlichen Einzel-GdB bewerteten) Funktionsbeeinträchtigungen
a) psychische Störungen mit Somatisierung (40), b) Funktionsbehinderung der Wirbelsäule, Bandscheibenschäden (20), c) Funktionsbehinderung
der Finger (10)
einen Gesamt-GdB von 40 vorschlug. Dem folgend wies der Beklagte den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 30. März 2010
zurück.
Mit der beim Sozialgericht Berlin erhobenen Klage hat der Kläger zunächst einen GdB von mindestens 60 begehrt, im Laufe des
Klageverfahrens sein Klageziel auf einen GdB von 60 gerichtet.
Das Sozialgericht hat das Gutachten des Facharztes für Orthopädie und Chirurgie Dr. T vom 20. Juli 2011 mit ergänzender Stellungnahme
vom 5. Oktober 2011 eingeholt, der als GdB-relevante Funktionsbeeinträchtigungen
a) psychische Komorbidität (30),
b) Funktionsbehinderungen der Hals-, Brust- und Lendenwirbelsäule, Bandscheibenvorfälle (10),
c) Fingerpolyarthrose und Daumensattelgelenkarthrose (10)
ermittelt und den Gesamt-GdB mit 30 bewertet hat.
Mit Urteil vom 30. Januar 2012 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen: Der Kläger habe keinen Anspruch auf Feststellung
eines höheren GdB als 40. Das Sozialgericht ist hierbei im Wesentlichen der Einschätzung des Sachverständigen gefolgt.
Gegen diese Entscheidung hat der Kläger Berufung bei dem Landessozialgericht eingelegt, mit der er sein Begehren weiter verfolgt
hat.
Der Senat hat Beweis erhoben durch Einholung des Gutachtens des Arztes für Neurologie und Psychiatrie Dr. G vom 2. August
2013, der das seelische Leiden mit einem Einzel-GdB von 40 bewertet und unter Berücksichtigung des orthopädischen Bereichs
einen Gesamt-GdB von 40 vorgeschlagen hat.
Auf den Antrag des Klägers nach §
109 Sozialgerichtsgesetz (
SGG) hat der Senat den Arzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. S gehört, der im Gutachten vom 16. Juli 2014 ausgeführt hat, dass
der Gesamt-GdB mit 50 zu bemessen sei.
Die Kläger beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 30. Januar 2012 aufzuheben sowie den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom
15. Juni 2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30. März 2010 zu verpflichten, bei ihm mit Wirkung ab dem 26.
Januar 2009 einen Grad der Behinderung von 50 festzustellen.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er hält die Entscheidung des Sozialgerichts für zutreffend.
Dem Senat haben die Verwaltungsvorgänge des Beklagten vorgelegen. Diese waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung. Wegen
der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird Bezug genommen auf die Schriftsätze, das Protokoll und die Verwaltungsvorgänge
des Beklagten.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Berufung des Klägers ist begründet.
Das Sozialgericht hat die Klage zu Unrecht abgewiesen, da der angefochtene Bescheid rechtswidrig ist und den Kläger in seinen
Rechten verletzt. Denn der Kläger hat Anspruch auf Festsetzung eines GdB von 50.
Nach den §§
2 Abs.
1,
69 Abs.
1 Sozialgesetzbuch, Neuntes Buch (
SGB IX) sind die Auswirkungen der länger als sechs Monate anhaltenden Funktionsstörungen nach Zehnergraden abgestuft entsprechend
den Maßstäben des § 30 Bundesversorgungsgesetz zu bewerten. Hierbei sind die in der Anlage zur Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) vom 10. Dezember 2008 (BGBl. I S. 2412) festgelegten "Versorgungsmedizinischen Grundsätze" heranzuziehen.
Das seelische Leiden des Klägers bedingt nach den übereinstimmenden Feststellungen der Sachverständigen Dr. G und Dr. S in
deren psychiatrischen Gutachten vom 2. August 2013 bzw. vom 16. Juli 2014 einen Einzel-GdB von 40. Dieser Bewertung, die den
Vorgaben in Teil B Nr. 3.7 der Anlage zu § 2 VersMedV entspricht, schließt der Senat sich an. Die abweichende Einschätzung mit einem Einzel-GdB von 30 durch den Facharzt für Orthopädie
und Chirurgie Dr. T im Gutachten vom 20. Juli 2011 vermag der Senat nicht nachzuvollziehen.
Ferner besteht bei dem Kläger ein pseudoradikuläres Halswirbelsäulensyndrom bei Bandscheibenvorfall C5/C6, leichten degenerativen
Wirbelsäulenveränderungen und leichten Funktionsstörungen sowie ein lokales Brust- und Lendenwirbelsäulensyndrom bei leichter
Fehlstatik, Bandscheibenvorfall L5/S1 und leichten Funktionsstörungen. Der Senat folgt der Bewertung durch den Sachverständigen
Dr. S, der - in Übereinstimmung mit dem im Widerspruchsverfahren herangezogenen Gutachter Dr. V - unter Heranziehung des Bewertungsmaßstabs
für Wirbelsäulenschäden in Teil B Nr. 18.7 der Anlage zu § 2 VersMedV für diesen Funktionsbereich einen Einzel-GdB von 20 vorgeschlagen hat. Die funktionellen Auswirkungen in allen Wirbelsäulenabschnitten
sind mit einem Einzel-GdB in dieser Höhe zu würdigen.
Die Bewertung der Funktionsbehinderung der Finger mit einem Einzel-GdB von 10 steht zwischen den Beteiligten - zu Recht -
nicht im Streit.
Liegen - wie hier - mehrere Beeinträchtigungen am Leben in der Gesellschaft vor, ist der GdB gemäß §
69 Abs.
3 SGB IX nach den Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen
festzustellen. Nach Teil A Nr. 3c der Anlage zur VersMedV ist bei der Beurteilung des Gesamt-GdB von der Funktionsstörung auszugehen, die den höchsten Einzel-GdB bedingt, und dann
im Hinblick auf alle weiteren Funktionsbeeinträchtigungen zu prüfen, ob und inwieweit hierdurch das Ausmaß der Behinderung
größer wird.
Bei dem Kläger ist der Gesamt-GdB danach mit 50 festzusetzen. Der Einzel-GdB von 40 für das seelische Leiden ist unter Berücksichtigung
der mit einem Einzel-GdB von 20 zu bewertenden Wirbelsäulenschäden um einen Zehnergrad heraufzusetzen. Überzeugend hat der
Sachverständige Dr. S dargelegt, dass sich die psychische Erkrankung durch ihre Spannung negativ auf die Funktionsbehinderung
der Wirbelsäule und die Gebrauchsfähigkeit der Hände auswirkt, während umgekehrt die somatischen Erkrankungen verstärkend
auf die seelische Störung wirken.
Die Kostenentscheidung beruht auf §
193 SGG und folgt dem Ausgang des Rechtsstreits. Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision (§
160 Abs.
2 SGG) sind nicht erfüllt.