LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 12.01.2017 - 13 VG 30/15
Vorinstanzen: SG Berlin 21.05.2015 S 40 VG 42/11
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 21. Mai 2015 wird zurückgewiesen.
Kosten sind auch für das Berufungsverfahren nicht zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Entscheidungstext anzeigen:
Tatbestand:
Der 1963 geborene Kläger begehrt die Feststellung von Schädigungsfolgen und die Gewährung einer Rente nach dem Opferentschädigungsgesetz ( OEG) in Verbindung mit dem Bundesversorgungsgesetz (BVG).
Am 9. Juli 1995 wurde gegen 15:20 Uhr in Berlin-Wedding von hinten ein Schuss auf den Kopf des Klägers abgegeben. Der Kläger
konnte nur durch eine Notoperation gerettet werden. Als Folge der Schussverletzung bestehen beim Kläger erhebliche Gesundheitsstörungen,
derentwegen ihm ein Grad der Behinderung (GdB) von 100 und die Merkzeichen G, H, RF, GL und B zuerkannt wurden. Das ursprünglich
gegen zwei vom Kläger benannte Beschuldigte geführte Ermittlungsverfahren wurde mangels hinreichenden Tatverdachts nach §
170 Abs. 2 der Strafprozessordnung eingestellt. Ein weiterer polizeilich ermittelter Beschuldigter war des versuchten Mordes angeklagt worden, wurde jedoch
mit Urteil des Landgerichts Berlin vom 26. Oktober 1999 freigesprochen. In seinem Urteil führte das Landgericht Berlin aus:
"Nach dem Ergebnis der Hauptverhandlung steht fest, dass Hintergrund für das an dem Zeugen K [dem hiesigen Kläger] begangene
versuchte Tötungsdelikt Auseinandersetzungen im Berliner Drogen-Milieu waren, wobei der Geschädigte, der damals in Berlin
ein bekannter Boxer war, versucht hatte, von den Zeugen Z. und T. Schutzgelder zu erpressen, wogegen diese sich zu wehren
suchten. Sie alarmierten daraufhin den Angeklagten, den Zeugen C. sowie eine weitere, unbekannt gebliebene Person, um die
Angelegenheit zu regeln.".
Einen ersten Antrag des Klägers auf Opferentschädigung hatte der Beklagte mit Bescheid vom 3. März 1997 abgelehnt und den
hiergegen gerichteten Widerspruch zurückgewiesen. Einen Überprüfungsantrag des Klägers vom 16. Mai 1998 hatte der Beklagte
mit Bescheid vom 27. Juli 1998 abgelehnt und auch den hiergegen gerichteten Widerspruch zurückgewiesen. Die hiergegen gerichtete
Klage nahm der Kläger später zurück.
Am 5. November 2009 stellte der Kläger erneut einen Antrag auf Opferentschädigung wegen der Straftat vom 9. Juli 1995. Ohne
darauf einzugehen, ob es sich um eine Entscheidung nach § 44 SGB X handele, lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 20. Oktober 2010 den Antrag des Klägers ab und führte zur Begründung aus, es
liege ein Versagungsgrund gemäß § 2 Abs. 1 OEG vor. Es stehe nach dem Ergebnis der Hauptverhandlung im Strafverfahren fest, dass Hintergrund für das Geschehen am 9. Juli
1995 Auseinandersetzungen im Berliner Drogenmilieu gewesen seien, wobei der Kläger versucht habe, mit Gewalt von den Beschuldigten
Schutzgelder zu erpressen, wogegen diese sich zu wehren suchten. Damit habe der Kläger eine wesentliche Bedingung für den
Eintritt des Schadensfalles gesetzt und somit Gründe für die Ausschließung von Versorgung gemäß § 2 Abs. 1 OEG zu vertreten. Den hiergegen ohne Begründung gebliebenen Widerspruch wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 29. März
2011 zurück und führte zur Begründung aus, bei einer selbst geschaffenen Gefahr sei es im Sinne des Gewaltopferrechts unbillig,
dass die Allgemeinheit den Schaden trage, den das Opfer hätte vermeiden können, aber bewusst grob fahrlässig nicht vermieden
habe. Es sei hierfür ausreichend, dass der Kläger die Gefahr einer Körperverletzung habe erkennen und vermeiden können. Eine
Unbilligkeit sei auch dann anzunehmen, wenn das Opfer in hohem Maße vernunftwidrig gehandelt habe und es in grob fahrlässiger
Weise unterlassen habe, eine höchst wahrscheinliche Gefahr von sich abzuwenden. Diese Voraussetzungen seien hier gegeben,
denn nach dem Ergebnis der polizeilichen und der staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen sowie des Urteils des Landgerichts
Berlin seien dem Geschehen vom 9. Juli 1995 Auseinandersetzungen mit Gewaltandrohung von Seiten des Klägers voraus gegangen.
Mit der am 18. April 2011 erhobenen Klage verfolgt der Kläger sein Begehren weiter. Er ist der Auffassung, ein Ausschlussgrund
nach § 2 OEG sei in seinem Fall nicht gegeben. Insbesondere habe er weder mit dem Drogenmilieu etwas zu tun noch Schutzgelderpressungen
durchgeführt. Die seinerzeit Beschuldigten T. und Z. hätten widersprüchlich ausgesagt. Er habe bei ihnen kein Schutzgeld erpressen,
sondern sie davon abhalten wollen, Drogen zu verkaufen. Mit dem Drogenhandel habe er nichts zu tun, und wolle damit auch nichts
zu tun haben, da er eine starke Abneigung gegen Drogendealer verspüre, nachdem sein Bruder heroinabhängig gewesen sei. Er
verkehre auch nicht mit Personen, die zu Mordhandlungen bereit wären und habe sich von seinem früheren Bekanntenkreis gelöst,
weshalb ihm frühere Straftaten nicht entgegengehalten werden könnten. Das Sozialgericht hat in der mündlichen Verhandlung
den Kläger persönlich angehört. Im Rahmen der Anhörung hat er sich zur Drogenabhängigkeit seines Bruders geäußert und das
Vorbringen der ursprünglich Beschuldigten T. und Z. als reine Erfindung bezeichnet. Mit Urteil vom 21. Mai 2015 hat das Sozialgericht
die Klage abgewiesen und zur Begründung ausgeführt, es könne dahinstehen, ob der erneute Antrag des Klägers durch den Beklagten
als neues Verfahren oder aber als Überprüfungsverfahren behandelt worden sei, denn in beiden Fällen sei die Entscheidung zutreffend,
Schädigungsfolgen nicht anzuerkennen und Versorgung zu versagen, weil ein Ausschlussgrund nach § 2 Abs. 1 Satz 1 zweite Alternative OEG vorliege. Danach sei die Opferentschädigung wegen Unbilligkeit zu versagen, weil die Besonderheiten des Einzelfalles nach
dem Normzweck eine staatliche Hilfe als sinnwidrig und damit als ungerecht beurteilen ließen. Diese sonstigen Gründe müssten
insgesamt annähernd ein gleiches Gewicht haben, wie eine Verursachung im Sinne von § 2 Abs. 1 Satz 1 erste Alternative OEG. Dies sei hier der Fall, da der Kläger sich durch eine vor der gegen ihn gerichteten liegenden Gewalttat liegende rechtsfeindliche
Betätigung außerhalb der Gemeinschaft gestellt und sich damit eine spezifische Gefahr aus dem Drogenmilieu in der Tat verwirklicht
habe. Das Gericht sei zu der Überzeugung gelangt, dass der Kläger zum Zeitpunkt der Tat zum Drogenmilieu gehört habe und sich
mit der Tat eine in diesem Zusammenhang stehende spezifische Tat verwirklicht habe. Es stehe zur Überzeugung des Gerichts
fest, dass der Kläger zunächst von den an der Tat Beteiligten versucht habe, Schutzgeld zu erpressen und am Folgetag im Zusammenhang
mit einem Streit mit den von ihm Erpressten angeschossen wurde. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt des Urteils
Bezug genommen.
Gegen das am 1. Juni 2015 zugestellte Urteil richtet sich die am 26. Juni 2015 eingelegte Berufung, mit der der Kläger sein
Begehren weiter verfolgt und im Wesentlichen den Vortrag aus der ersten Instanz wiederholt. Im Übrigen ist er der Ansicht,
selbst bei Unterstellung einer Schutzgelderpressung von 200,00 DM stehe der auf den Kläger verübte Mordanschlag in keinem
Verhältnis dazu, weshalb insoweit kein Ausschlusstatbestand nach § 2 Abs. 1 OEG angenommen werden könne.
Der in der mündlichen Verhandlung ausgebliebene Kläger hat angekündigt zu beantragen,
das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 21. Mai 2015 zu ändern und den Beklagten unter Abänderung seines Bescheides vom 20.
Oktober 2010 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 29. März 2011 zu verurteilen, bei dem Kläger insbesondere eine
Kopfschussverletzung mit linksseitig betonter Hemiparese, eine Hemianopsie links, eine posttraumatische Episode, ein depressiv
gefärbtes hirnorganisches Psychosyndrom, posttraumatische Belastungsstörung, psychische Leiden, Funktionsbeeinträchtigung
linkes Auge, Funktionsbeeinträchtigung linkes Ohr, Inkontinenz, eine depressive Entwicklung, Tinnitus mit Gleichgewichtsstörungen
sowie ein Defizit in den kognitiven Fähigkeiten als Schädigungsfolge nach dem Opferentschädigungsgesetz festzustellen und daraus resultierende Beschädigtenrente zu gewähren.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den gesamten Inhalt der Streitakte sowie der beigezogenen Verwaltungsvorgänge des
Beklagten Bezug genommen. Er ist Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen.
Entscheidungsgründe:
Der Senat konnte über die Berufung trotz des Ausbleibens des Klägers in der mündlichen Verhandlung nach Lage der Akten entscheiden,
nachdem der ordnungsgemäß geladene Kläger in der Ladung auf diese Möglichkeit hingewiesen worden ist, §§ 153 Abs. 1; 110 Abs. 1 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz ( SGG). Die Berufung ist zulässig, jedoch nicht begründet.
Zwar steht dem Erfolg der Berufung nicht bereits entgegen, dass der Antrag des Klägers auf Feststellung von Schädigungsfolgen
und Gewährung einer Versorgung bereits mit bestandskräftig gewordenem Bescheid abgelehnt worden, das dagegen gerichtete Überprüfungsverfahren
nach § 44 SGB X ebenfalls mit dem Kläger negativen Bescheid abgeschlossen und die hiergegen gerichtete Klage zurückgenommen wurde, denn der
Beklagte hat den neuerlichen Antrag des Klägers im Sinne einer Sachentscheidung beschieden und sich gerade nicht auf die Bestandskraft
der vorangegangenen Erstentscheidung und Überprüfungsentscheidung bezogen. Damit ist der Weg zu erneuter gerichtlicher Überprüfung
eröffnet.
Der Erfolg der Klage ist jedoch ausgeschlossen, weil ein Versagungstatbestand nach § 2 Abs. 1 zweite Alternative OEG vorliegt. Insoweit nimmt der Senat in vollem Umfange auf die Ausführungen des Sozialgerichts im erstinstanzlichen Urteil
Bezug und sieht von einer Darstellung der weiteren Gründe gem. § 153 Abs. 2 SGG ab.
Das Vorbringen des Klägers in der Berufungsbegründung vermag die Richtigkeit der erstinstanzlichen Entscheidung nicht zu erschüttern.
Unerheblich ist insoweit, ob der Kläger selbst in einer Weise in das so genannte "Drogenmilieu" verstrickt war, dass auch
ihm das Handeltreiben mit Betäubungsmitteln entgegen gehalten werden kann. Sowohl nach den Feststellungen des Landgerichts
Berlin in seinem Urteil vom 26. Oktober 1999 wie auch nach den Aussagen der von der Polizei vernommenen Zeugen T. und Z. war
der Tat gegen den Kläger unmittelbar vorausgegangen, dass dieser in Schutzgelderpressungen verstrickt war. Konkret benennen
die Zeugen T. und Z. einen Vorfall, bei dem am Vorabend des Mordanschlages auf ihn der Kläger von den Zeugen eine wöchentliche
Zahlung von 200,00 DM je Person erpresst haben soll. Nach den Feststellungen des Landgerichts Berlin ist im Zusammenhang mit
einer Auseinandersetzung über diese Erpressung der Mordanschlag auf den Kläger verübt worden. Wer in einem von ihm selbst
für kriminell gehaltenen Umfeld unter Gewaltandrohung den Versuch unternimmt, von den betreffenden Personen Geld zu erpressen,
muss ernsthaft damit rechnen, dass gegen ihn als Abwehr gegen diese als Bedrohung empfundene und Konfrontation Gewalt ausgeübt
werde. Dies ist vom Sozialgericht zu Recht als ein Fall der Unbilligkeit gesehen worden, der der konkreten Verursachung der
Gefahr im Sinne von § 2 Abs. 1 erste Alternative OEG gleichsteht und zur Versagung einer Versorgung führen muss.
Soweit der Kläger vorträgt, die Angaben der Zeugen seien frei erfunden, er habe mit diesen lediglich das Gespräch gesucht,
um sie vom Drogenhandel abzubringen, ist dies in jeder Hinsicht unglaubhaft. Überzeugend hat das Sozialgericht ausgeführt,
dem Kläger könne die von ihm behauptete tiefe Abneigung gegen das Drogenmilieu nicht abgenommen werden, da er selbst wegen
Beihilfe zu unerlaubten Handel mit Betäubungsmitteln rechtskräftig verurteilt worden sei. Darüber hinaus spricht auch der
Inhalt der Zeugenaussagen der ursprünglichen Tatbeschuldigten T. und Z. gegen die Richtigkeit des klägerischen Bestreitens
der Schutzgelderpressung. Beide Zeugen haben sich als Beschuldigte eines versuchten Mordes mit dem quasi schwerstwiegenden
Tatvorwurf des Strafrechts konfrontiert gesehen. Obwohl in einer solchen Situation der Bericht von einer vorangegangenen Erpressung
durch das Opfer des Tötungsversuches ein den Strafverfolgungsbehörden zuvor unbekanntes Motiv für die Tat gegeben und dann
auch zur Verhängung von Untersuchungshaft gegen die Beschuldigten geführt hat, haben sich diese in einer solchen Weise eingelassen.
Dabei ist ein Motiv für eine unzutreffende Beschuldigung des Klägers, mit der sich die Beschuldigten sogar eigener Inhaftierung
ausgesetzt haben, nicht ersichtlich.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Gründe für eine Zulassung der Revision gem. § 160 Abs. 2 SGG sind nicht gegeben.
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