Zuerkennung weiterer Schädigungsfolgen wegen zu Unrecht erlittener Haft in der ehemaligen DDR
Zurechnungszusammenhang zwischen schädigendem Ereignis und gesundheitlicher Folgen
Tatbestand:
Der Kläger erstrebt die Zuerkennung weiterer Schädigungsfolgen und die Gewährung von Rentenleistungen wegen zu Unrecht erlittener
Haft in der ehemaligen DDR.
Der im Jahre 1954 geborene Kläger war während des Bestehens der DDR mehrfach inhaftiert, zuletzt in der Zeit vom 11. November
1987 bis zum 9. März 1989. Durch Beschluss des Landgerichts Berlin vom 14. Juli 1992 wurde er im Hinblick auf die vorgenannte
letzte Haftzeit rehabilitiert.
Am 10. September 2009 beantragte der Kläger bei dem Beklagten die Gewährung von Beschädigtenversorgung nach dem strafrechtlichen
Rehabilitierungsgesetz. Der Beklagte führte medizinische Ermittlungen durch und erteilte dem Kläger sodann am 9. Mai 2011
einen Bescheid. Darin erkannte er "Albträume, gelegentliche situationsspezifische Nachhallerinnerungen, Depressionen" als
Schädigungsfolgen der vorgenannten Haftzeit an, lehnte aber die Anerkennung weiterer Gesundheitsstörungen sowie die Gewährung
einer Rentenleistung ab.
Weitere Gesundheitsstörungen seien nicht ursächlich zurückzuführen auf das schädigende Ereignis, der Grad der Schädigungsfolgen
(GdS) betrage nicht wenigstens 25. Den Widerspruch des Klägers wies der Beklagte durch Widerspruchsbescheid vom 7. Oktober
2011 mit ähnlicher Begründung zurück.
Im anschließenden Rechtsstreit vor dem Sozialgericht Berlin hat der Kläger sein Ziel weiter verfolgt, die Anerkennung der
Schädigungsfolgen von Gesundheitsstörungen an der Lendenwirbelsäule und einer posttraumatischen Belastungsstörung zu erreichen
sowie eine Rentenleistung zu erhalten. Mit Urteil vom 30. April 2013 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen: Eine posttraumatische
Belastungsstörung liege nicht vor, Schäden an der Wirbelsäule seien nicht ursächlich auf die Haft zurückzuführen, der schädigungsbedingte
GdS erreiche nicht den Wert von 25.
Mit seiner Berufung verfolgt der Kläger sein Ziel weiter. Er macht geltend, er sei durch die Haft stärker geschädigt worden,
ihm stehe eine Rentenleistung zu.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 30. April 2013 aufzuheben und den Beklagten unter Änderung des Bescheides vom 9.
Mai 2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 7. Oktober 2011 zu verpflichten, dem Kläger unter Anerkennung von Gesundheitsstörungen
an der Lendenwirbelsäule und einer posttraumatischen Belastungsstörung als weitere Schädigungsfolgen der in der Zeit vom 11.
November 1987 bis zum 9. März 1989 zu Unrecht erlittenen Haft Versorgung nach dem Strafrechtlichen Rehabilitierungsgesetz
nach einem GdS von 40 ab September 2009 zu gewähren.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.
Aufgrund richterlicher Beweisanordnung hat am 20. Juni 2014 der Facharzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. C ein medizinisches
Sachverständigengutachten erstattet. Darin ist er zu der Einschätzung gelangt, bei dem Kläger bestünden andauernde Persönlichkeitsänderung
als Folge einer chronischen posttraumatischen Belastungsstörung und einer frühen Persönlichkeitsstörung, außerdem bestehe
ein chronisches Schmerzsyndrom mit psychischen und körperlichen Faktoren und eine chronische Depressivität im Sinne einer
rezidivierenden depressiven Episode. Die psychischen Störungen insgesamt seien als stärker behindernde Störungen einzustufen
und mit einem GdS von 40 zu bewerten. Innerhalb des GdS gebe es einen schädigungsbedingten und einen nicht schädigungsbedingten
Anteil. Der nicht schädigungsbedingte Anteil beruhe auf einer erheblichen seelischen Vorschädigung durch multiple Traumatisierungen
in der Kindheit und Auftreten von abnormen Persönlichkeitszügen in der Kindheit und Jugend. Der GdS des Nichtschädigungsanteils
sei mit 20 bis 25 und die Schädigungsfolge im Sinne der posttraumatischen Belastungsstörung mit einem GdS von 15 bis 20 zu
bewerten. Der organische Anteil sei mit einem GdS von 10 zu bewerten.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird Bezug genommen auf die zwischen den Beteiligten gewechselten
Schriftsätze mit Anlagen sowie auf die Verwaltungsakten des Beklagten, die im Termin zur mündlichen Verhandlung vorgelegen
haben und Gegenstand der Entscheidung gewesen sind.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung des Klägers ist zulässig, insbesondere statthaft gemäß §
144 Sozialgerichtsgesetz (
SGG), sie ist in der Sache auch teilweise begründet. Dem Kläger steht der aus dem Tenor ersichtliche Anspruch zu gemäß § 21 Abs. 1 Strafrechtlichen Rehabilitierungsgesetz i. V. m. dem Bundesversorgungsgesetz. Denn die psychische Erkrankung des Klägers mit Persönlichkeitsänderung ist Folge der zu Unrecht erlittenen Haft in der Zeit
vom 11. November 1987 bis zum 9. März 1989. Der hierauf bezogene Grad der Schädigungsfolgen (GdS) beträgt 40 und führt zu
einem entsprechenden Versorgungsanspruch.
Der erforderliche Zurechnungszusammenhang zwischen dem schädigenden Ereignis - hier der Haft in den Jahren 1987 bis 1989 -
und den daraus resultierenden gesundheitlichen Folgen - hier der psychischen Erkrankung mit Persönlichkeitsänderung - bestimmt
sich nach der Kausalnorm der wesentlichen Bedingung (Bundessozialgericht in ständiger Rechtsprechung, siehe wohl zuletzt Urteil
vom 16. Dezember 2014, B 8 V 6/13 R, juris Rn. 13). Dabei ist die Kausalitätsnorm der wesentlichen Bedingung in der spezifisch versorgungsrechtlichen Ausprägung
zugrunde zu legen, wie sie im Anschluss an die Rechtsprechung des Reichsversicherungsamtes in ständiger Rechtsprechung durch
den 9. Senats des Bundessozialgerichts vertreten wird (BSG, aaO., juris Rn. 17). Danach gilt als Ursache im Rechtssinn nicht jede Bedingung, gleichgültig mit welcher Intensität sie
zum Erfolg beigetragen hat und in welchem Zusammenhang sie dazu steht. Als Ursachen sind vielmehr nur diejenigen Bedingungen
anzusehen, die wegen ihrer besonderen Beziehung zum Erfolg zu dessen Eintritt wesentlich mitgewirkt haben. Das ist der Fall,
wenn sie in ihrer Bedeutung und Tragweite für den Eintritt des Erfolges als annähernd gleichwertig anzusehen sind. Kommt einem
der Umstände gegenüber anderen indessen eine überragende Bedeutung zu, so ist dieser Umstand allein Ursache im Rechtssinne.
Bei mehr als zwei Teilursachen ist die annähernd gleichwertige Bedeutung des schädigenden Vorgangs für den Eintritt des Erfolges
entscheidend. Haben also neben einer Verfolgungsmaßnahme mehrere weitere Umstände zum Eintritt einer Schädigungsfolge beigetragen,
ist die Verfolgungsmaßnahme versorgungsrechtlich nur dann im Rechtssinne wesentlich und die Schädigungsfolge der Verfolgungsmaßnahme
zuzurechnen, wenn sie in ihrer Bedeutung und Tragweite für den Eintritt des Erfolges - verglichen mit den mehreren übrigen
Umständen - annähernd gleichwertig ist. Das ist dann der Fall, wenn die Verfolgungsmaßnahme in ihrer Bedeutung und Tragweite
für den Eintritt des Erfolges allein mindestens soviel Gewicht hat wie die übrigen Umstände zusammen. Im Einzelnen bedarf
es dazu der wertenden Abwägung der in Betracht kommenden Bedingungen (BSG, aaO., juris, Rn. 18).
Der Senat hat keine Zweifel, dass nach den vorgenannten Kriterien des Bundessozialgerichts die hier zu bewertende Verfolgungsmaßnahme
der unrechtmäßigen Inhaftierung in den Jahren 1987 bis 1989 die im vorgenannten Sinne wesentliche Bedingung für den Eintritt
der Schädigungsfolge darstellt. Im vorliegenden Fall gibt es mehrere Schädigungsursachen, die zu der psychischen Erkrankung
des Klägers beigetragen haben. Neben traumatischen Erfahrungen der Kindheit und einer bereits frühen Inhaftierung im Alter
von 16 Jahren stellte die Verfolgungsmaßnahme nur eine von mehreren Ursachen dar. Sie ist jedoch im Sinne der vorgenannten
Kriterien annähernd gleichwertig gegenüber der Summe aller verfolgungsunabhängigen Einflüsse. Denn wie der Sachverständige
Dr. C überzeugend herausgearbeitet hat, ist - ausgehend von einem Gesamt GdS von 40 für die psychische Erkrankung des Klägers
- auf die verfolgungsunabhängigen Ursachen ein Anteil von 20 bis 25 und für die nicht verfolgungsbedingten Ursachen ein Anteil
von 15 bis 20 anzusetzen. Dies bedeutet, dass die verfolgungsbedingte Ursache in ihrer Bedeutung mindestens annähernd gleichwertig
ist wie die Summe der nicht verfolgungsbedingten Ursachen in ihrer Gesamtheit. Der Kausalzusammenhang war vor diesem Hintergrund
zu bejahen.
Im Übrigen jedoch war die Berufung zurückzuweisen. Soweit der Kläger allein die posttraumatische Belastungsstörung als Schädigungsfolge
bezeichnet haben möchte, besteht hierauf kein Anspruch, weil - wie der Sachverständige überzeugend herausgearbeitet hat -
ein komplexerer psychischer Leidenszusammenhang besteht, der insgesamt als Persönlichkeitsänderung und damit umfassender als
eine posttraumatische Belastungsstörung zu bezeichnen ist. Soweit der Kläger darüber hinaus auch die Anerkennung seines Wirbelsäulenleidens
als Schädigungsfolge begehrt, ist dieser Anspruch nicht gegeben. Der Senat weist insoweit die Berufung aus den Gründen der
angefochtenen Entscheidung zurück und sieht gemäß §
153 Abs.
2 SGG diesbezüglich von einer weiteren Darstellung der Gründe ab.
Die Kostenentscheidung beruht auf §
193 SGG und berücksichtigt, dass der Kläger mit dem weit überwiegenden Teil seines Rechtsschutzbegehrens Erfolg gehabt hat.
Die Revision war nicht zuzulassen, weil Zulassungsgründe nach §
160 Abs.
2 SGG nicht vorliegen.