Hilfsmittelversorgung durch die gesetzliche Krankenversicherung; Beschränkung auf Hilfsmittelleistungen durch Vertragspartner
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten in der Sache darum, ob die Beklagte die mittlerweile verstorbene, bei ihr versicherte ehemalige Klägerin
(= Versicherte, nachfolgend: "V"), an deren Stelle nunmehr ihre Tochter als Alleinerbin den Rechtsstreit fortführt, ausreichend
mit adäquaten Windeln versorgt hat.
Die 1912 geborene V war in ihren letzten Lebensjahren vollständig gelähmt und wurde mit einer PEG-Sonde ernährt. Sie wurde seit Dezember 2007 von ihrer Tochter - der jetzigen Berufungsbeklagten -, welche auch ihre Betreuerin
war, sowie einem ambulanten Pflegedienst zu Hause gepflegt. Da sie inkontinent war, benötigte sie Windeln und wurde bis Juli
2008 auf Kosten der Beklagten mit Windeln "S + Größe L" versorgt. Die Windeln wurden ihr jeweils von ihrem Hausarzt verordnet.
Ab Juli 2008 sollten Versicherte der Beklagten Inkontinenzmittel ausschließlich vom exklusiven Vertragspartner der Beklagten,
der M (MM) beziehen. Da das Unternehmen jedoch zunächst Lieferengpässe hatte, stimmte die Beklagte mit Schreiben vom 04. August
2008 einer vorübergehenden Kostenerstattung von selbstbeschafften Inkontinenzartikeln zu. Die V wies die dann von der M gelieferten
Windeln "" aus verschiedenen Gründen zurück. Die Windeln passten nicht richtig und liefen aus. Die Qualität war teilweise
mangelhaft. Für die Monate August, September und Oktober 2008 kaufte die V die bisher verwendeten Windeln, die Beklagte erstattete
die Kosten. Die Versorgung in den Folgemonaten mit unterschiedlichen Typen Windelmarke A blieb aus Sicht der V unbefriedigend.
Die Beklagte beschied einen Antrag auf Versorgung durch einen anderen Leistungserbringer mit Bescheid vom 13 Januar 2009 abschlägig.
Die Versicherte habe kein berechtigtes Interesse nach §
33 Abs.
6 Sozialgesetzbuch V. Buch (
SGB V), von einem anderen Leistungserbringer versorgt zu werden.
Den Widerspruch hiergegen wies sie mit Widerspruchsbescheid vom 11. März 2009 zurück. Die V habe ab 01. Juli 2008 nur noch
mit Produkten des Ausschreibungsgewinners versorgt werden dürfen. Eine hochwertige Versorgung mit Inkontinenzartikeln durch
den Vertragspartner sei sichergestellt.
Hiergegen richtet sich die zunächst als Beschwerde bezeichnete beim Sozialgericht Berlin (SG) erhobene Klage vom 30. März 2009. Die V hat geltend gemacht, dass ihre Versorgung mit passgerechten Windeln in gleichbleibender
ausreichender Qualität sichergestellt sein müsse. Die von der M bezogenen Windeln "A" wiesen nach wie vor Passformmängel und
Qualitätsschwankungen aus. Passgerecht sei hingegen das Konkurrenzprodukt "S", das auch überwiegend frei von Verarbeitungs-
und Qualitätsmängeln sei. Da diese Windeln nicht so saugstark seien, müsse trotz der erheblichen Erschwernisse beim Windelnwechseln
für die Nacht die von der M bezogene Windel A bzw. verwendet werden, um ein nassen Bett zu vermeiden. Aus ihrer Sicht sei
eine angemessene, ausreichende und zweckmäßige Versorgung daher mit drei Windeln S sowie zusätzlichen Einlagen und einer Windel
täglich zu erreichen. Die V hat sich ergänzend auf ihren umfangreichen E-Mail Schriftverkehr mit der Beklagten bezogen.
Im Erörterungstermin am 29.06.2011 hat ihre Tochter dem Gericht Windeln vorgeführt. Nach ihrer Schätzung seien 1/3 der von
M gelieferten Windeln fehlerbehaftet. Die Qualität der Windeln sei sehr unterschiedlich. Es könne sogar sein, dass in einer
einzigen Tüte unterschiedliche Qualitäten seien. Sie habe einmal die gleichen Windeln direkt beim Hersteller bezogen. Diese
Produkte hätten eine ganz andere Qualität aufgewiesen.
Das SG hat mit Gerichtsbescheid vom 27.07.2011 den Bescheid der Beklagten vom 13. Januar 2009 in der Fassung des Widerspruchsbescheids
vom 11. März 2009 abgeändert und die Beklagte verurteilt, die V mit täglich drei Windeln "S" einschließlich geeigneter Einlagen
und täglich einer Windel "" ohne Aufpreis zu versorgen. Das SG habe nach ausführlicher Anhörung der Berufungsbeklagten die Überzeugung gewonnen, dass die V bisher nicht ausreichend mit
mängelfreien und passenden Windeln versorgt worden sei. Ihre Tochter habe glaubhaft vorgetragen und im Termin teilweise demonstriert,
dass die von der Beklagten über ihren Vertragspartner zur Verfügung gestellten Windeln einerseits nicht passgerecht und zum
anderen häufig mängelbehaftet seien.
Gegen diesen Gerichtsbescheid richtet sich die Berufung der Beklagten. Eine Versorgung im Sinne des §
12 SGB V könne bei Tag und bei Nacht mit dem Artikel "A" sichergestellt werden. Die angeblichen Qualitätsmängel könnten weder vom
Vertragspartner noch vom Hersteller nachvollzogen werden. Möglicherweise würden die Windel schon beim Anlegen dermaßen überstrapaziert,
dass der Saugkern dabei zerstört werde.
Die Berufungsbeklagte hat darauf hingewiesen, dass angesichts ihrer Vorlage fehlerhafter und teils unbrauchbarer Windelmuster
mit einer Sammlung von Flusen im Erörterungstermin selbst der Terminsvertreter der Beklagten von der Mangelhaftigkeit der
Ware überzeugt worden sei. Sie hat Auszüge aus der Pflegedokumentation des Pflegedienstes S aus dem Jahr 2011 vorgelegt.
Der Senat hat mit Verfügung vom 02 Mai 2012 die Beteiligten darauf hingewiesen, dass das SG die tatsächlichen Grundlagen seiner Entscheidung nach Durchführung eines Erörterungstermins getroffen habe, in welchem wohl
alle Beteiligten von der Unzulänglichkeit der Windeln des Vertragspartners der Beklagten ausgegangen seien.
Die V ist am 2012 im Alter von 99 Jahren verstorben.
Auf die Schriftsätze der Beteiligten Schriftsätze und die von ihnen ergänzend eingereichten Unterlagen wird ergänzend Bezug
genommen.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung ist (nach wie vor) zulässig, auch wenn mit dem Tod der V die tenorierte Verpflichtung mit Wirkung für die Zukunft
entfallen ist.
Für die formelle Beschwer im Sinne der §§
143,
144 Abs.
1 SGG kommt es nach §
202 SGG i. V. m. §
4 ZPO von vornherein nur auf den Zeitpunkt der Berufungseinlegung an. Es fehlt aber auch nicht am Rechtsschutzbedürfnis. Die Beklagte
wird durch den angegriffenen Gerichtsbescheid immer noch beschwert. Sie hatte und hat diesen nämlich zu beachten, da er nach
§
198 Abs.
1, Abs.
2 SGG,
199 Abs.
1 Nr.
1 SGG (vorläufig) vollstreckbar ist.
Die Berufung hat aber in der Sache keinen Erfolg.
Der angefochtene Bescheid der Beklagten ist rechtswidrig. Das SG ist zu Recht davon ausgegangen, dass die Versorgung der V, die vor ihrem Tode völlig gelähmt, sprech- und schluckunfähig
war und künstlich ernährt werden musste, mit Windeln unzureichend gewesen ist.
Die V war nicht gemäß §
33 Abs.
6 Satz 2
SGB V auf eine Windellieferung durch den Vertragspartner der Beklagten beschränkt, weil dessen Lieferungen unzureichend waren:
Die "Versorgung" im Sinne des §
33 Abs.
6 Satz 2
SGB V ist nämlich nur die ausreichende Versorgung nach §§
33 Abs.
1 Satz 1
SGB V.
Wie sich aus der innergesetzlichen Systematik und dem Zweck der Vorschrift des § 33 Abs. 6 ergibt, soll der Versicherte gegen
Tragung der Mehrkosten andere Leistungserbringer wählen können, wenn ein berechtigtes Interesse besteht. "Verweist die Krankenkasse
(...) den Versicherten auf die vertragsgebundenen Hilfsmittelerbringer, ist der Versicherte dann nicht auf diese beschränkt,
wenn er dort das Hilfsmittel nicht zu gleichen (oder gar besseren) Bedingungen, wie sie ein nichtvertragsgebundener Leistungserbringer
bietet, beziehen kann. Dies folgt einerseits aus den von den Krankenkassen stets zu beachteten Gebot der Wirtschaftlichkeit
der Leistungserbringung (§
12 SGB V) und andererseits aus dem Gebot Wünschen des Berechtigten bei der Leistungserbringung zu entsprechen, soweit sie angemessen
sind. Das ist immer der Fall, wenn der Versicherte dadurch seine Eigenbeteiligung vermeiden oder reduzieren kann" (so zutreffend
BSG, Urt. v. 23.01.2003 -B 3 KR 7/02 R- BSGE 90, 220, Juris-Randnr. 29; Kraftberger in LPG -
SGB V, 4. Auflage 2012 §
33 Randnr. 95).
Aus §
33 Abs.
1 Satz 1
SGB V ergibt sich ein Anspruch auf passgerechte und mängelfreie Windeln in ausreichender Stückzahl:
Windeln sind Hilfsmittel, die eine Behinderung einer körperlichen Grundfunktion -die bestehende Inkontinenz - ausgleichen
(als sogenannter mittelbarer Behinderungsausgleich). Für Erwachsene sind Windeln kein allgemeiner Gebrauchsgegenstand des
täglichen Lebens. Sie sind auch nicht nach §
34 Abs.
4 SGB V ausgeschlossen. Die hier konkret begehrten Windeln sind auch im Hilfsmittelverzeichnis aufgeführt.
Windeln sind zum Ausgleich der Inkontinenz ungeeignet, wenn sie trotz ordnungsgemäßen Anlegens nicht so passen, dass sie dicht
halten.
Gleiches gilt, wenn sie sich während des Tragens teilweise auflösen und beispielsweise Füllmaterial austritt.
Die von der Beklagten der V über die M zur Verfügung gestellten Windeln sind jedenfalls so häufig ungeeignet gewesen, dass
die Versorgung insgesamt unzureichend gewesen ist.
Davon ist hier auch zur Überzeugung des Senats durch den erkennenden Richter auszugehen.
Die Berufungsbeklagte hat die Ungeeignetheit der von der M gestellten Windeln im Einzelnen in ihren E-Mails an die Beklagte
detailliert geschildert und im Erörterungstermin dem Gericht vorgeführt. Die Beklagte hat der Einschätzung des Senats der
Überzeugungskraft der Demonstration im Erörterungstermin nicht widersprochen. Für eine unsachgemäße Handhabung gibt es keine
konkreten Anhaltspunkte.
Die Angaben der Klägerin werden daneben auch durch die Pflegedokumentation des Pflegedienstes bestätigt. Wiederholt ist dort
festgehalten, dass das Inkontinenzmaterial schlecht verarbeitet, unsauber verarbeitet ("Flusen", "Klebetaps falsch vorgegeben")
sei bzw. spitze Körnchen enthalte.
Im konkreten Einzelfall der V stand dieser deshalb aus §
33 Abs.
1 S. 1
SGB V ein Anspruch auf die begehrten Windeln einer anderen Marke zu. Dass es speziell hierzu wirtschaftlichere Alternativen gegeben
hätte, ist nicht ersichtlich: Auch die Beklagte hat nicht vorgebracht, dass es -neben ihrem Vertragspartner- preiswertere
Alternativen gäbe.
Gründe für die Zulassung der Revision gemäß §
160 Abs.
2 SGG liegen nicht vor.