Eilrechtsschutz gegen Herabstufung und Nichtleistung von Pflegegeld nach dem SGB XI
Andere Gutachterbeurteilung genügt nicht, sondern allein eine wesentliche gesundheitliche Veränderung
Gründe:
I.
Der 2008 geborene Antragsteller, der an Epidermolysis bullosa simplex, einer genetisch bedingten Hauterkrankung, leidet, begehrt
die Anordnung der aufschiebenden Wirkung seiner Klage gegen die Einstellung von Leistungen aus der Pflegeversicherung.
Auf den Antrag des Antragstellers gewährte ihm die Antragsgegnerin, gestützt auf das MDK-Gutachten der Pflegefachkraft S vom
28. Oktober 2010, die im Bereich der Grundpflege einen Hilfebedarf von 86 Minuten ermittelt hatte, mit Bescheid vom 23. November
2010 Pflegegeld nach der Pflegestufe I ab 1. Oktober 2010.
Nachdem im Zuge des Nachprüfungsverfahrens die Pflegefachkraft G im MDK-Gutachten vom 5. Dezember 2012 nach Untersuchung des
Antragstellers zu dem Ergebnis gekommen war, dass dessen Hilfebedarf in der Grundpflege fünf Minuten betrage, hob die Antragsgegnerin
nach Einholung der sozialmedizinischen Stellungnahme der Dipl.-Med. Sch den Bewilligungsbescheid durch Bescheid vom 5. April
2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 4. Juli 2013 mit Wirkung ab 1. Mai 2012 auf. Hiergegen hat der Antragsteller
am 2. August 2013 bei dem Sozialgericht Potsdam Klage erhoben.
Den Antrag des Antragstellers auf vorläufigen Rechtsschutz hat das Sozialgericht Potsdam durch Beschluss vom 16. September
2013 mit der Begründung zurückgewiesen, zwar seien die Erfolgsaussichten in der Hauptsache offen, jedoch überwiege das Interesse
des Antragstellers an der Anordnung der aufschiebenden Wirkung nicht, da bis zum Abschluss des Hauptsacheverfahrens die Pflege
durch dessen Mutter auch bei vorübergehender Nichtzahlung des Pflegegeldes als gesichert anzusehen sei.
II.
Die Beschwerde gegen den Beschluss des Sozialgerichts Potsdam ist zulässig und begründet. Das Sozialgericht hat zu Unrecht
die aufschiebende Wirkung der Klage gegen den Aufhebungsbescheid nicht angeordnet.
Gem. §
86b Abs.
1 Satz 1 Nr.
2 Sozialgerichtsgesetz (
SGG) kann das Gericht der Hauptsache in den Fällen, in denen Widerspruch oder Anfechtungsklage - wie vorliegend nach §
86a Abs.
2 Nr.
3 SGG - keine aufschiebende Wirkung haben, die aufschiebende Wirkung ganz oder teilweise anordnen. Voraussetzung hierfür ist, dass
das Interesse des Einzelnen an der aufschiebenden Wirkung gegenüber dem öffentlichen Interesse am Vollzug des Bescheides überwiegt.
Zu dieser Abwägung ist der in §
86a Abs.
3 Satz 2
SGG enthaltene Maßstab für eine Aussetzung der Vollziehung durch die Verwaltung entsprechend heranzuziehen. Danach soll die Aussetzung
der Vollziehung erfolgen, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsakts bestehen. Das ist
der Fall, wenn der Erfolg des Rechtsbehelfs wahrscheinlicher ist als sein Misserfolg (vgl. LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss
vom 10. Oktober 2010, L 27 P 48/10 B ER, bei Juris).
Bei der im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes allein möglichen summarischen Prüfung bestehen in dem genannten Sinne
ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der angefochtenen Bescheide, mit denen die Antragsgegnerin die dem Antragsteller
ursprünglich bewilligten Leistungen der Pflegestufe I aufhob.
Rechtsgrundlage für die Aufhebung des Bewilligungsbescheides ist § 48 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch, Zehntes Buch (SGB X), wonach ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei dessen
Erlass vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eingetreten ist, mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben ist. Hierbei sind
die im Zeitpunkt der Aufhebung bestehenden tatsächlichen Verhältnisse mit jenen, die im Zeitpunkt der letzten Leistungsbewilligung
vorhanden gewesen sind, zu vergleichen.
Die von der Beklagten durch den Bescheid vom 23. November 2010 getroffene Entscheidung über die Bewilligung von Pflegegeld
nach der Pflegestufe I ist als Verwaltungsakt mit Dauerwirkung zu qualifizieren. Im Vergleich zu den im Zeitpunkt der Aufhebung
der Bewilligung zum 1. Mai 2013 bestehenden Verhältnissen hat der Senat keine wesentliche Änderung feststellen können.
Vorliegend kommt es nach §
37 Abs.
1 SGB XI maßgeblich darauf an, dass der Antragsteller pflegebedürftig ist und mindestens der Pflegestufe I zugeordnet werden kann.
Pflegebedürftigkeit liegt hierbei nach §
14 Abs.
1 SGB XI vor, wenn der Betroffene wegen einer körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung für die gewöhnlichen
und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens auf Dauer, voraussichtlich für mindestens sechs
Monate, in erheblichem oder höherem Maße der Hilfe bedarf, die nach §
14 Abs.
3 SGB XI in der Unterstützung, in der teilweisen oder vollständigen Übernahme der Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens oder
in der Beaufsichtigung oder Anleitung mit dem Ziel der eigenständigen Übernahme dieser Verrichtungen besteht. Als gewöhnliche
und regelmäßig wiederkehrende Verrichtungen im vorgenannten Sinne gelten nach §
14 Abs.
4 SGB XI im Bereich der Körperpflege, der neben den Bereichen der Ernährung und der Mobilität zur Grundpflege gehört, das Waschen,
Duschen, Baden, die Zahnpflege, das Kämmen, Rasieren und die Darm- oder Blasenentleerung, im Bereich der Ernährung das mundgerechte
Zubereiten oder die Aufnahme der Nahrung, im Bereich der Mobilität das selbständige Aufstehen und Zu-Bett-Gehen, An- und Auskleiden,
Gehen, Stehen, Treppensteigen oder das Verlassen und Wiederaufsuchen der Wohnung sowie im Bereich der hauswirtschaftlichen
Versorgung das Einkaufen, Kochen, Reinigen der Wohnung, Spülen, Wechseln und Waschen der Wäsche und Kleidung oder das Beheizen.
Die Zuordnung zur Pflegestufe I setzt nach §
15 Abs.
1 Satz 1 Nr.
1, Abs.
3 Satz 1 Nr.
1 SGB XI voraus, dass der Betroffene bei der Körperpflege, der Ernährung oder der Mobilität für wenigstens zwei Verrichtungen aus
einem oder mehreren Bereichen mindestens einmal täglich der Hilfe bedarf und zusätzlich mehrfach in der Woche Hilfen bei der
hauswirtschaftlichen Versorgung benötigt. Der Zeitaufwand, den ein Familienangehöriger oder eine andere nicht als Pflegekraft
ausgebildete Pflegeperson für die erforderlichen Leistungen der Grundpflege und hauswirtschaftlichen Versorgung benötigt,
muss hierbei wöchentlich im Tagesdurchschnitt mindestens 90 Minuten betragen, wobei auf die Grundpflege mehr als 45 Minuten
entfallen müssen.
Eine wesentliche Änderung der Verhältnisse ist in Fällen der vorliegenden Art, in denen um die Herabsetzung bzw. Aufhebung
einer Pflegestufe im Pflegeversicherungsrecht gestritten wird, nicht bereits dann eingetreten, wenn in einem nach Erlass des
Bewilligungsbescheides eingeholten Gutachten der Zeitaufwand in der Grundpflege maßgeblich geringer eingeschätzt wurde als
in dem der Bewilligung zu Grunde liegendem Erstgutachten. Vielmehr kommt es entscheidend darauf an, dass in tatsächlicher
Hinsicht, beispielsweise in dem Gesundheitszustand des Betroffenen, Änderungen eingetreten sind, die nachvollziehbar den Umfang
dessen Hilfebedarfs vermindert haben. Für das Vorliegen dieser Änderung trifft den Beklagten, der sich in dem Aberkennungsbescheid
hierauf beruft, die materielle Beweislast.
Der Senat hält es auf der Grundlage der im Verwaltungsverfahren eingeholten Gutachten für zweifelhaft, dass die Verhältnisse
sich tatsächlich wesentlich geändert hätten. Vielmehr erscheint es dem Senat nicht ausgeschlossen, dass die gutachterlichen
Abweichungen in der Höhe des Zeitaufwands in der Grundpflege auf unterschiedliche Bewertungen zurückzuführen sind, die eine
Aufhebung der ursprünglichen Bewilligung nicht rechtfertigen können. Denn aus dem Gutachten vom 5. Dezember 2012 geht - worauf
auch in der sozialmedizinischen Stellungnahme vom 2. April 2013 ausdrücklich hingewiesen wird - nicht hervor, dass sich das
Krankheitsbild bei dem Antragsteller gebessert hätte.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§
193 Abs.
1 Satz 3
SGG in analoger Anwendung.
Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht angefochten werden (§
177 SGG).