Feststellung einer Halswirbelsäulen-Erkrankung eines Violinisten als Wie-Berufskrankheit in der gesetzlichen Unfallversicherung
Tatbestand:
Umstritten ist die Feststellung der Halswirbelsäulen- (HWS) Erkrankung des Klägers als Wie-Berufskrankheit (Wie-BK) nach §
9 Abs.
2 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch (
SGB VII) aufgrund seiner jahrzehntelangen Tätigkeit als Violinist.
Für den 1930 geborenen Kläger erstattete der Facharzt für Orthopädie Dr. E unter dem 19. Dezember 2002 eine ärztliche Anzeige
wegen des Verdachtes einer BK. Er leide unter rezidivierenden Zervikobrachialgien, zunehmender Schmerzsymptomatik der HWS
sowie des linken Schultergelenkes. Der Kläger habe seit seinem siebten Lebensjahr Violine gespielt. Daraus resultierten eine
jahrzehntelange Zwangshaltung der Wirbelsäule und eine Überbelastung der Schultergelenke. Im Rahmen des Feststellungsverfahrens
auf Anerkennung dieser Erkrankung als Listen-BK eröffnete die Beklagte im Oktober 2005 ein Feststellungsverfahren im Hinblick
auf die vorliegend streitige Wie-BK.
Zu seinem beruflichen Werdegang gab der Kläger an, von Februar 1946 bis September 1949 Musik studiert und nach Abschluss des
Studiums von August 1949 bis Dezember 1952 als Violinist im SW gearbeitet zu haben. Daran habe sich von 1953 bis 1961 eine
Tätigkeit als Violinist beim S angeschlossen. Vom 01. Dezember 1991 bis zum 31. März 1995 sei er als Violinist bei der D beschäftigt
gewesen.
In der Arbeitgeberauskunft der S vom 21. Oktober 2003 bestätigte diese, dass der Kläger vom 01. Oktober 1961 bis 31. März
1995 im Arbeitsbereich Staatskapelle als Violinist beschäftigt gewesen sei. Der Tag der letzten gefährdenden Tätigkeit sei
der 18. August 1993 gewesen. Das Arbeitsverhältnis sei durch Auflösungsvertrag zum 31. März 1995 beendet worden.
Der Kläger war seit Juli 1993 berufsunfähig, weil er sich einen Strecksehnenabriss des linken Kleinfingerendgelenkes zugezogen
hatte, als er versuchte, sein Fahrrad zu reparieren.
Im "Ersten Untersuchungsbefund" führte Prof. Dr. S unter dem 18. November 2003 aus, dass den beigezogenen medizinischen Unterlagen
(z. B. Sozialversicherungsausweis, unfallärztliche Bescheinigung des Dr. P vom 20. Juni 1995) zu entnehmen sei, dass der Kläger
erstmalig 1973 über Halswirbelsäulenbeschwerden geklagt habe. An einer überbeanspruchenden Belastung durch den Beruf sei nicht
zu zweifeln. Soweit die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen vorlägen, sei deshalb eine orthopädische Fachbegutachtung
zu empfehlen. Es sei allerdings darauf hinzuweisen, dass der offensichtlich hoch qualifizierte Künstler zu keinem Zeitpunkt
bereit gewesen sei, seine berufliche Tätigkeit wegen der chronischen Erkrankungen des Skelettsystems vorwiegend im Bereich
der HWS aufzugeben. Hierdurch sei er erst im Jahre 1993 durch die Verletzung des Kleinfingers gezwungen gewesen.
Nach Einholung einer Stellungnahme der Gewerbeärztin M vom 21. April 2006 lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 01. Juni 2006
die Anerkennung der seit Jahren auftretenden Zervikalsyndrome als Wie-BK nach §
9 Abs.
2 SGB VII ab. Eine Entschädigung der Erkrankung komme nicht in Betracht, weil diesbezüglich keine neuen medizinischen Erkenntnisse
vorlägen.
An dieser Auffassung hielt sie im Widerspruchsbescheid vom 22. September 2006 fest. Zur Begründung führte sie aus, dass eine
Anerkennung nach §
9 Abs.
2 SGB VII nur in Betracht komme, wenn der ursächliche Zusammenhang der Krankheit mit der gefährdenden Arbeit im konkreten Fall hinreichend
wahrscheinlich sei, eine bestimmte Personengruppe bei ihrer Arbeit in erheblich höherem Maße als die übrige Bevölkerung dieser
besonderen Einwirkung ausgesetzt gewesen sei und diese Einwirkung nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft generell
geeignet sei, Krankheiten der angeschuldigten Art zu verursachen und diese medizinischen Erkenntnisse im Zeitpunkt der Entscheidung
neu seien. Dies mache deutlich, dass §
9 Abs.
2 SGB VII gerade nicht auf eine Lückenlosigkeit des Versicherungsschutzes für alle Versicherten abstelle, die an einer durch die versicherte
Tätigkeit verursachten Krankheit litten. Vielmehr müsse sich ein gruppenspezifisches Risiko verwirklicht haben. Es lägen keine
statistisch gesicherten wissenschaftlichen Erkenntnisse darüber vor, dass die Berufsgruppe der Violinisten durch ihre berufliche
Tätigkeit in erheblich höherem Grade als die übrige Bevölkerung einer generell erhöhten Gesundheitsgefährdung ausgesetzt sei.
Ebenso wenig sei nach dem derzeitigen medizinischen Erkenntnisstand gesichert, dass die ausgeübte berufliche Tätigkeit generell
geeignet gewesen sei, die geltend gemachte HWS-Erkrankung zu verursachen.
Mit der hiergegen zum Sozialgericht Neuruppin erhobenen Klage hat der Kläger geltend gemacht, dass in der Bundesrepublik Deutschland
etwa 4100 Musiker in Kultur- und Kammerorchestern hohe Streichinstrumente (Geige, Violine, Bratsche) spielten. Insoweit sei
nicht zu verkennen, dass die Studien des Mediziners Dr. Danckwerth nur über statistisch verschwindende Fallzahlen verfasst
worden seien. Allerdings könne nicht außer Betracht bleiben, dass in der ehemaligen DDR zwölf Streicher nach der dort gültigen
BK Nr. 70 entschädigt worden seien. Dem hätten epidemiologische Untersuchungen im Betriebsambulatorium der Berliner Bühnen/Arbeitshygienische
Beratungsstelle zugrunde gelegen. Zur weiteren Begründung seines Begehrens bezog der Kläger sich auf eine Habilitationsschrift
des Siegfried Kahle von 1965, einen Aufsatz mit dem Titel "Hinweise für morphologische HWS-Veränderungen bei professionellen
oberen Streichinstrumentalisten?" der Mediziner Danckwerth, Castro und Assheuer, einen Aufsatz des Dr. Danckwerth mit dem
Titel "Abnutzungsschäden durch Geigen- und Bratschenspiel?", ein Gutachten des Prof. Dr. B vom 01. März 2004 (J-Universität
M, Klinikum), erstattet in einem Rechtsstreit vor dem Sozialgericht Hannover, der die Auffassung vertrat, dass die Anerkennung
von HWS-Erkrankungen nach §
9 Abs.
2 SGB VII wie eine BK empfohlen werden könne, auch wenn große epidemiologische Studien mit einer entsprechend großen Fallzahl aufgrund
der Kleinheit der Berufsgruppe professioneller Musiker ausscheiden würde.
Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales hat in einer Auskunft vom 07. August 2006 mitgeteilt, dass sich der Verordnungsgeber
nach Erlass der Verordnung vom Dezember 1992 nicht erneut mit der Frage befasst habe, ob bandscheibenbedingte Erkrankungen
der HWS auch durch andere Tätigkeiten als durch Tragen auf der Schulter im Sinne des Berufskrankheitenrechts (BK 2109) verursacht
werden könnten. Insoweit lägen keine neuen medizinischen Erkenntnisse zu dieser Fragestellung vor. Auch der das Bundesministerium
beratende Ärztliche Sachverständigenbeirat habe sich mit der Problematik nicht mehr befasst.
Daraufhin hat das Sozialgericht ein Gutachten des Prof. Dr. A, Arzt für Neurologie, Hochschule für Musik und Theater H, Spezialambulanz
für Musiker-Erkrankungen, vom 03. Mai 2010 eingeholt. Dieser führte aus, der Kläger leide auf neurologischem Fachgebiet unter
einem Wurzelkompressionssyndrom der 6. Halsmarksnervenwurzel (C6) rechts mit noch bestehender geringer Sensibilitätsstörung
in den von dieser Halsmarksnervenwurzel versorgten Hautgebieten des Unterarmes und des Zeigefingers, einem Impingement-Syndrom
Stadium III linke Schulter, einer Acromioclavicular-Gelenksarthrose links und einer partiellen Ruptur der Rotatorenmanschette
links. Es sei davon auszugehen, dass der Kläger als Berufsgeiger einer erheblichen Belastung der HWS durch die Zwangshaltung
der HWS während des Spiels ausgesetzt gewesen sei. Es sei im Berufsleben von 50 000 bis 90 000 Stunden Geigenspiel auszugehen.
Die besondere Fixierung der Geige zwischen Schlüsselbein und Kinn werde als so genannte "Schulter-Kinn-Zange" bezeichnet.
Dabei komme es neben der Haltearbeit zusätzlich zu individuell unterschiedlich ausgeprägter Seitneigung und Drehbewegung des
Kopfes. Dadurch würden die Bandscheiben und Kleinwirbelgelenke der HWS fehlbelastet und reagierten mit degenerativen Umbauten.
Gerade diese degenerativen Umbauten könnten beim Kläger eindeutig belegt werden. Nachdem in epidemiologischen Studien eindeutig
geklärt worden sei, dass HWS-Beschwerden bei Streichern häufiger seien als bei Angehörigen anderer Berufe, sei zu klären,
inwiefern die entsprechenden pathophysiologischen Vorgänge die jetzt bestehende Symptomatik beim Kläger erklärten. Die neuroradiologischen
Befunde, insbesondere die Kernspintomografieaufnahmen, zeigten eindeutig die starke Belastung der HWS mit multiplen Bandscheibenvorfällen.
Diese müssten im Hinblick auf die genannten Literaturarbeiten mit höchster Wahrscheinlichkeit als beruflich bedingt angesehen
werden, wobei die bereits genannte Zwangshaltung und die so genannte "Schulter-Kinn-Zange" hier wesentlich ursächlich sein
dürften. Einschränkend sei allerdings zu sagen, dass ein klarer Beweis der Kausalität trotz der o. g. eindeutigen Evidenzen
bislang nicht vorliege. Dazu fehlten nach wie vor Studien, die langfristig vorausschauend Berufsmusiker mit entsprechenden
Arbeitnehmern anderer Berufe verglichen und die spezifischen Risikofaktoren eindeutig ursächlich auf die musikalische Aktivität
zurückführten. Auch im Hinblick auf die Veränderungen der Schulter müsse ausgeführt werden, dass auch hier keine langfristig
angelegten vorausschauenden Studien existieren würden, die Berufsmusiker und insbesondere Streichinstrumentalisten mit anderen
Gruppen von Musikern und anderen Berufstätigkeiten verglichen. So zeige sich aber in den Untersuchungen von Prof. Dr. S, dass
immerhin im Rahmen der Weimarer Studie von 1999 17 % der Orchestermusiker Schulterbeschwerden hatten, bei Musikstudenten sogar
30 % über Schulterbeschwerden klagten. Insgesamt vertrete er die Auffassung, dass die Erkrankungen des Klägers im HWS- und
Schulterbereich auf die berufliche Tätigkeit als Streicher zurückzuführen seien. Unglücklicherweise fehlten bislang weltweit
lang angelegte epidemiologische Untersuchungen an großen Gruppen von Berufsstreichern, die vergleichend mit anderen Berufsgruppen
hinsichtlich der degenerativen Veränderungen von Schulter und von Wirbelsäule bzw. hinsichtlich von Wurzelkompressionssyndromen
im Bereich der HWS durchgeführt worden seien. Hier bestehe dringender Forschungsbedarf, der seines Erachtens durch die Arbeitsmedizin
gedeckt werden müsse. Aus den genannten epidemiologischen Studien sei jedoch allgemein bekannt, dass Berufsstreicher häufiger
unter HWS-Erkrankungen litten als andere Arbeitnehmer. Daher sei eine Anerkennung der Beschwerden des Klägers als "Wie-BK"
zu empfehlen.
Mit Urteil vom 23. September 2010 hat das Sozialgericht Neuruppin die Klage abgewiesen und zur Begründung ausgeführt, mit
der Regelung des §
9 Abs.
2 SGB VII solle nicht in der Art einer Generalklausel erreicht werden, dass jede Krankheit, deren ursächlicher Zusammenhang mit der
beruflichen Tätigkeit im Einzelfall zumindest hinreichend wahrscheinlich sei, wie eine BK zu entschädigen sei. Vielmehr sollten
dadurch Krankheiten zur Entschädigung gelangen, die nur deshalb nicht in die BK-Liste aufgenommen worden seien, weil die Erkenntnisse
der medizinischen Wissenschaft über die besondere Gefährdung bestimmter Personengruppen bei der letzten Fassung der Anlage
zur
BKV noch nicht vorhanden gewesen seien oder trotz Nachprüfung noch nicht zur Anerkennung ausgereicht hätten. Das Tatbestandsmerkmal
der gruppentypischen Risikoerhöhung sei erfüllt, wenn die Personengruppe, im vorliegenden Fall die Streichinstrumente spielenden
Berufsmusiker, zu denen der Kläger zu zählen sei, durch die Arbeit Einwirkungen ausgesetzt sei, mit denen die übrige Bevölkerung
nicht in diesem Maße in Kontakt komme und die geeignet seien, die vorliegende Erkrankung hervorzurufen. Die gruppenspezifische
Risikoerhöhung müsse sich in jedem Fall aus Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft ergeben. Mit wissenschaftlichen Methoden
und Überlegungen müsse zu begründen sein, dass bestimmte Einwirkungen die generelle Eignung besäßen, eine bestimmte Krankheit
zu verursachen. Solche Erkenntnisse lägen jedoch in der Regel erst dann vor, wenn die Mehrheit der medizinischen Sachverständigen,
die auf den jeweils in Betracht kommenden Gebieten über besondere Erfahrungen und Kenntnisse verfügten, zu derselben wissenschaftlich
fundierten Meinung gelangt seien. Vereinzelt vertretene Auffassungen reichten dazu eben nicht aus. Vorliegend mache der Kläger
geltend, dass eine Anerkennung seiner Erkrankungen an der HWS wie eine Berufskrankheit doch möglich sein sollte, da entsprechende
Studien zu erheben sehr schwierig sein dürfte. Dies ändere aber nichts daran, dass die entsprechenden Erkenntnisse nicht vorlägen.
Gegen dieses ihm am 10. Januar 2011 zugestellte Urteil wendet sich der Kläger mit der Berufung vom 28. Januar 2011.
Unter Wiederholung und Vertiefung seines Vorbringens bezieht er sich u. a. auf ein der Klageschrift als Anlage BK 1 beigefügtes
Schreiben seiner Prozessbevollmächtigten vom 09. August 2007 an Dr. Danckwerth, auf ein Schreiben des Prof. Dr. med. Seidel
"Interdisziplinäre Arbeitsgruppe Musikermedizin" vom 20. Mai 2001 (Anlage BK 2), den Aufsatz des Dr. Danckwerth "Abnutzungsschäden
durch Geigen- und Bratschenspiel?" (Anlage BK 3), ein Schreiben des Dr. D vom 22. Mai 2002 an das Sächsische Landessozialgericht
(Anlage BK 4), eine "Zusammenfassende Darstellung des Erkenntnisstandes bezüglich der berufsbedingten Einflüsse auf die Systeme
der Halswirbelsäule, des kraniomandibulären Systems sowie der Kopfgelenke bei hohen Streichern und Bläsern" des Prof. Dr.
Seidel vom 29. Juli 2008, Hochschule für Musik "Franz Liszt" Weimar (Anlage BK 5), die Habilitationsschrift des Siegfried
Kahle aus 1965 (Anlage BK 6), einen Aufsatz mit dem Titel "Die Wirbelsäule des Musikers, 3. Symposium der Deutschen Gesellschaft
für Musikphysiologie und Musikermedizin 2001", verfasst von Prof. Dr. Seidel (Anlage BK 7), einen Brief des Herrn Benoit Leclerc
vom "L'Orchestre de Paris" vom 09. April 2010 über die Rechtslage in Frankreich (Anlage BK 8), ein Schreiben an den Sächsischen
Gemeindeunfallversicherungsverband vom 28. Januar 1997 vom Bundesverband der Unfallversicherungsträger der öffentlichen Hand
(Anlage BK 9), einen Widerspruchsbescheid der Bayerischen Landesunfallkasse (Anlage BK 10), ein Schreiben des Bundesministeriums
für Arbeit und Soziales vom 29. Juli 2010 (Anlage BK 11), ein Schreiben des Sächsischen Landesinstituts für Arbeitsschutz
und Arbeitsmedizin vom 9. April 1997 (Anlage BK 12), die GUV-Informationen "Musikermedizin, Musikerarbeitsplätze", dort insbesondere
Blatt 38 ff (Anlage BK 13) und ein Schreiben der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung vom 28. April 2008 (Anlage BK 14).
Weiter macht er geltend, das Landessozialgericht (LSG) für das Land Niedersachsen habe im Urteil vom 17. September 1998 (L 6 U 222/98) eine Beweiserleichterung für die wesentlich größere Gruppe der Fußbodenleger anerkannt, so dass diese Rechtsprechung erst
Recht auf die vorliegende wesentlich kleinere Gruppe der hohen Streicher anzuwenden sei. Außerdem könne es nicht unberücksichtigt
bleiben, dass vergleichbare Erkrankungen in der ehemaligen DDR nach der dortigen BK 70 anerkannt worden seien. Es müsse angenommen
werden, dass der Gesetzgeber es im Rahmen des Einigungsvertrages aus nachvollziehbaren Gründen schlicht übersehen habe, die beruflich verursachten Erkrankungen der hohen Streicher in die
Liste der entschädigungsfähigen Berufskrankheiten aufzunehmen.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Neuruppin vom 23. September 2010 und den Bescheid der Beklagten vom 01. Juni 2006 in der Fassung
des Widerspruchsbescheides vom 22. September 2006 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, die bei ihm vorliegende Erkrankung
der Halswirbelsäule und der Schultergelenke als Wie-BK nach §
9 Abs.
2 SGB VII anzuerkennen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie bezieht sich auf den Inhalt der angefochtenen Bescheide, die ihrer Auffassung nach zutreffenden Ausführungen des Sozialgerichts
Neuruppin im angefochtenen Urteil und die vom Kläger selbst vorgelegten Unterlagen, die die generelle Geeignetheit der Tätigkeit
als Streicher für die Verursachung von HWS- und Schulterbeschwerden im Sinne eines gruppenspezifischen Risikos gerade nicht
belegten.
Wegen der weiteren Einzelheiten der Sachdarstellung und der Rechtsausführungen wird auf den Inhalt der Verwaltungsakten der
Beklagten, auf die Gerichtsakten und insbesondere auf die vom Kläger eingereichte Beiakte Bezug genommen. Die Akten haben
im Termin vorgelegen und sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Berufung des Klägers ist unbegründet. Er hat keinen Anspruch auf Anerkennung seiner HWS- und Schulterbeschwerden
als Wie-BK nach §
9 Abs.
2 SGB VII. Die Beklagte hat diesen Anspruch in den angefochtenen Bescheiden zu Recht abgelehnt, so dass das Sozialgericht Neuruppin
die Klage gegen diese Bescheide zu Recht abgewiesen hat.
Rechtsgrundlage der Anerkennung der Erkrankungen als Wie-BK ist §
9 Abs.
2 SGB VII bzw. § 551 Abs. 2
Reichsversicherungsordnung (
RVO) in der bis 31. Dezember 1996 geltenden Fassung; erst wenn deren Voraussetzungen bejaht werden könnten, wäre in einem weiteren
Schritt zu prüfen, ob auch die Voraussetzungen einer Anerkennung nach Nrn. 70 oder 71 der Verordnung über die Verhütung, Meldung
und Begutachtung von Berufskrankheiten vom 26. Februar 1981 (
BKV-DDR) der ehemaligen DDR vorgelegen haben.
Entgegen der Auffassung des Klägers kann die
BKV der ehemaligen DDR, hier insbesondere die Ziffern 70 und 71, für sich allein betrachtet nicht mehr Gegenstand der Anerkennung
sein. Nach § 1150 Abs. 2 Satz 1
Reichsversicherungsordnung (
RVO) i. V. m. §
215 Abs.
1 SGB VII gelten Unfälle und Krankheiten, die vor dem 01. Januar 1992 im Beitrittsgebiet eingetreten sind und nach dem dort bis zum
31. Dezember 1991 geltenden Recht Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten gewesen waren, grundsätzlich auch als Arbeitsunfälle
und Berufskrankheiten nach bundesdeutschem Recht. Dies gilt jedoch nicht für Krankheiten, die einem ab dem 01. Januar 1991
für das Beitrittsgebiet zuständigen Träger der gesetzlichen Unfallversicherung erst nach dem 31. Dezember 1993 bekannt geworden
sind und die nach bundesdeutschem Recht nicht zu entschädigen waren (§ 1150 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1
RVO). In dieser Fallgestaltung kommt es nur zur Anerkennung einer BK, wenn die Erkrankung sowohl die Voraussetzungen nach dem
Recht des Beitrittsgebiets als auch die nach der RVO/dem
SGB VII erfüllt (BSG, Urteil vom 4. Dezember 2001, Az.: B 2 U 35/00 R, SozR 3-8440 Nr 50, Nr. 1, zitiert nach juris).
Vorliegend steht ohne Zweifel fest, dass die Erkrankung dem zuständigen Träger, hier der Beklagten, erst nach dem 31. Dezember
1993 bekannt geworden ist. Denn die HWS-Erkrankung des Klägers ist der Beklagten erstmals durch ärztliche Anzeige des Facharztes
für Orthopädie Dr. E vom 19. Dezember 2002 bekannt geworden. Entgegen der Annahme des Klägers kommt es nicht allein darauf
an, ob der Versicherungsfall bereits 1973, 1984 oder im Jahre 1993 eingetreten ist. Die Anwendung des Rechts der ehemaligen
DDR als alleinige Rechtsgrundlage für die Anerkennung der hier streitgegenständlichen Erkrankung kommt damit nicht in Betracht.
Deshalb ist zunächst zu prüfen, ob die Anerkennungsvoraussetzungen nach bundesdeutschem Recht im Sinne des § 551 Abs. 2
RVO bzw. §
9 Abs.
2 SGB VII vorgelegen haben. Dabei kann der Senat es im Hinblick auf den Eintritt eines möglichen Versicherungsfalles dahingestellt
sein lassen, welche Norm Anwendung findet, da für den hier streitgegenständlichen Sachverhalt einer Anerkennung als Wie-BK
kein entscheidungserheblicher Unterschied zwischen beiden Vorschriften besteht.
Nach §
9 Abs.
2 SGB VII haben die Unfallversicherungsträger eine Krankheit, die nicht in der
BKV bezeichnet ist oder bei der die dort bestimmten Voraussetzungen nicht vorliegen, wie eine BK als Versicherungsfall anzuerkennen,
sofern im Zeitpunkt der Entscheidung nach neuen Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft die Voraussetzungen für eine
Bezeichnung nach §
9 Abs.
1 Satz 2
SGB VII erfüllt sind. Die sich aus dieser Vorschrift ergebenden Tatbestandsmerkmale für die Feststellung einer Wie-BK bei einem Versicherten
sind (1.) das Nichtvorliegen der Voraussetzungen für eine in der
BKV bezeichnete Krankheit, (2.) das Vorliegen der allgemeinen Voraussetzungen für die Bezeichnung der geltend gemachten Krankheit
als BK nach §
9 Abs.
1 Satz 2
SGB VII, (3.) nach neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen, (4.) die individuellen Voraussetzungen für die Feststellung dieser Krankheit
als Wie-BK im Einzelfall beim konkreten Versicherten. Nach der gefestigten Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) enthält diese Vorschrift keine "Härteklausel", nach der jede durch eine versicherte Tätigkeit verursachte Krankheit als
Wie-BK anzuerkennen wäre (vgl. nur BSG vom 23. Juni 1977 - 2 RU 53/76 -, BSGE 44, 90 = SozR 2200 § 551 Nr. 9; BSG vom 14. November 1996 - 2 RU 9/96 -, BSGE 79, 250 = 3-2200 § 551 Nr. 9, und zuletzt Urteil des BSG vom 27. April 2010 - B 2 U 13/09 R -, zitiert nach juris).
Die aus dem Wortlaut des §
9 Abs.
1 SGB VII ableitbaren allgemeinen Voraussetzungen für das Tatbestandsmerkmal "Bezeichnung einer Krankheit als BK" sind eine versicherte
Tätigkeit, durch die bestimmte Personengruppen in erheblich höherem Grade als die übrige Bevölkerung besonderen Einwirkungen
ausgesetzt sind. Diese Einwirkungen müssen eine Krankheit nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft verursacht
haben. Das BSG hat im Urteil vom 27. April 2010 darauf hingewiesen, dass es in diesem Zusammenhang in der Vergangenheit verschiedene andere
Begriffe verwandt hat, wie Gruppentypik, generelle Geeignetheit oder auch den Begriff einer gruppentypischen oder gruppenspezifischen
Risikoerhöhung. Es hat darauf hingewiesen, dass mit dieser anderen Begrifflichkeit aber keine anderen Anforderungen aufgestellt
wurden als die, die im Urteil vom 27. April 2010 dargestellt sind.
Vorliegend ist unstreitig, dass die Gruppe der Streicher besonderen Einwirkungen ausgesetzt ist, die in der übrigen Arbeitswelt
nicht vorkommen. Denn die Zwangshaltung eines hohen Streichers i. S. der Schulter-Kinn-Zange kommt nur in diesem Berufsstand
vor.
Problematisch ist im vorliegenden Fall vor allem die Frage, ob diese Einwirkung, nämlich die Zwangshaltung, auch als Schulter-Kinn-Zange
bezeichnet, generell geeignet ist, die hier angeschuldigten HWS- und Schultergelenksbeschwerden hervorzurufen.
Es ist in Literatur und Rechtsprechung dem Grunde nach unstreitig, dass die generelle Ursächlichkeit/Geeignetheit der Einwirkung
wissenschaftlichen Erkenntnissen entsprechen muss, damit eine Krankheit als Berufskrankheit anerkannt werden kann. Dies setzt
normalerweise voraus, dass der Nachweis anhand statistisch relevanter Zahlen für eine Vielzahl von Geschehensabläufen erfolgt.
Die Feststellung, dass eine Krankheit in einer bestimmten beruflich exponierten Personengruppe erheblich häufiger auftritt
als in der übrigen Bevölkerung - so genannte Gruppentypik -, erfordert in der Regel den Nachweis einer Fülle gleichartiger
Gesundheitsbeeinträchtigungen und eine lange zeitliche Überwachung derartiger Krankheitsbilder, um mit Sicherheit daraus schließen
zu können, dass die Ursache der Krankheit in einem schädigenden Arbeitsleben liegt (vgl. BVerfG SozR 2200 § 551 Nr. 11; BSG 59, 295, 298; Koch in Lauterbach, Unfallversicherung, Band 1, §
9, Rn. 256ff und Rn. 263ff; Römer in Hauck,
SGB VII, Kommentar, K §
9 Rn 39; und insbesondere Schmitt,
SGB VII, Gesetzliche Unfallversicherung, Kommentar, 4. Auflage, Rn. 13). Vorliegend ist nicht streitig, dass derartige epidemiologische
Erkenntnisse aufgrund der geringen Zahl der in der Bundesrepublik tätigen Streichmusiker nicht vorliegen. Dies hat Prof. Dr.
A in dem vom Sozialgericht eingeholten Gutachten noch einmal überzeugend ausgeführt. Aus den im Berufungsverfahren eingereichten
Unterlagen, die im Übrigen älter sind als das Gutachten des Prof. Dr. A, ergibt sich nichts anderes. Aus den in Fachkreisen
bekannten Äußerungen insbesondere des Prof. Dr. S und des Dr. D ergeben sich keine epidemiologischen Erkenntnisse in der hier
vom Recht geforderten Weise. Der Senat verkennt nicht, dass die Untersuchungen eine gewisse Plausibilität für den Ursachenzusammenhang
zwischen Zwangshaltung und HWS-Erkrankung belegen. Soweit z.B. Prof. Dr. S von arthromuskulären Dysbalancen spricht, die zu
Dysfunktionen und Schmerzsyndromen im Bereich des craniomandibulären Systems, des craniocervikalen Systems und des cervikothorakalen
Übergangsbereichs führten (vgl. sein oben zitiertes Schreiben vom 29. Juli 2008), ist dies zwar ohne weiteres plausibel, zielt
aber nicht einmal auf die bestimmte Erkrankung ab, die hier entschädigt werden soll. Denn der Kläger leidet an einer ganzen
Reihe von Bandscheibenvorfällen im HWS-Bereich.
Darüber hinaus ist anerkannt, dass die Ursächlichkeit im Sinne der Gruppentypik auch durch arbeitsmedizinische Untersuchungen,
die Auswertung betriebsbezogener oder betriebsübergreifender Daten der Unfallversicherungsträger sowie andere medizinische
Erkenntnisse nachgewiesen werden kann (vgl. nur Koch in Lauterbach aaO. dort Rn. 263 und Schmitt, aaO., § 9 Rn. 13). Derartige
(nach Schmitt unter Hinweis auf Kater/Leube § 9 Rn 65) subsidiäre Nachweise sollen allerdings nur dann Berücksichtigung finden,
wenn sie jedenfalls nicht im Widerspruch zu den bisher vorliegenden epidemiologischen Erkenntnissen stehen. Letztlich ist
jedoch festzustellen, dass das Gesetz offen lässt, mit welchen wissenschaftlichen Methoden die Gruppentypik zu belegen ist.
Ein ausdrücklicher Vorrang epidemiologisch-statistischer Methoden besteht nicht, auch wenn derartige Erkenntnisse ein erstrangiges
Anzeichen für die Gruppentypik einer Gefährdung sind (Koch, aaO.). Dem folgt auch der Senat.
Vorliegend kann der Senat auch derartige, von epidemiologischen Studien zu unterscheidende, Erkenntnisse der medizinischen
Wissenschaft i. S. des Nachweises der generellen Geeignetheit der Schulter-Kinn-Zange für die Verursachung von HWS- und Schulterbeschwerden
nicht nachvollziehen. Die von Prof. Dr. A in seinem Gutachten für das Sozialgericht in den Vordergrund gestellte Plausibilität
reicht nicht aus. Er selber hat darauf hingewiesen, dass hier erheblicher Forschungsbedarf besteht. Dies lässt sich auch den
Ausführungen des Prof. Dr. Seidel und des Dr. Danckwerth entnehmen. So räumte der Kläger selbst ein, dass die von Dr. Danckwerth
untersuchten Kollektive von verschwindender Fallzahl waren.
Zwar hat Prof. Dr. B in seinem Gutachten vom 01. März 2004 für das Sozialgericht Hannover auf Seite 30 ausgeführt, dass die
publizierte Erfahrung jener Ärzte, die speziell mit erkrankten Musikern vertraut seien, den Ursachenzusammenhang belege. Der
Senat vermag den genannten Unterlagen aber nur zu entnehmen, dass die Kausalität im Einzelfall als hinreichend wahrscheinlich
beurteilt wird, nicht aber dargelegt werden kann, dass das Kollektiv der hohen Streicher häufiger als die übrige Bevölkerung
an HWS/Schulter-Erkrankungen leidet. Dies wäre aber für die Anerkennung als Wie-BK erforderlich. Die Plausibilität einer Krankheitsentstehung
im Einzelfall ersetzt nicht den Nachweis einer generellen Geeignetheit einer Einwirkung, bestimmte Erkrankungen hervorzurufen.
Dies gilt umso mehr, als HWS-Erkrankungen wie alle Wirbelsäulenerkrankungen eine so genannte "Volkskrankheit" darstellen,
an der sowohl Menschen mit schwerer körperlicher Tätigkeit leiden als auch solche, deren Wirbelsäule nicht durch schwere körperliche
Arbeit beansprucht worden ist.
Vor dem Hintergrund, dass nicht nur das betroffene Kollektiv mit etwa 4100 Streichern in der Bundesrepublik klein ist, sondern
die geltend gemachte Erkrankung auch noch eine sogenannte "Volkskrankheit" darstellt, potenzieren sich die Beweisschwierigkeiten
des Klägers beim Nachweis der gruppentypischen Gefährdung, die er im Sinne der ihn im Sozialgerichtsverfahren treffenden Feststellungslast
zu tragen hat. So erscheint es möglich, dass die generelle Geeignetheit einer Einwirkung, eine bestimmte Erkrankung zu verursachen,
dann relativ leicht bejaht werden kann, wenn die Einwirkung, z. B. eine bestimmte chemische Substanz, nur im Berufsleben vorkommt
und nur entsprechende Arbeitnehmer erkranken. In einem solchen Fall mag sogar die medizinisch belegte Plausibilität eines
Ursachenzusammenhanges ausreichen, um darzulegen, dass die bestimmte Einwirkung generell geeignet ist, die bestimmte Erkrankung
hervorzurufen. Dies ist vorliegend bei der "Volkskrankheit" HWS/Schulter- bzw. Zervikalsyndrom so nicht möglich. Denn an solchen
Erkrankungen leidet eine Vielzahl von Menschen unterschiedlichster Bevölkerungsschichten mit unterschiedlichsten beruflichen
Tätigkeiten. Deshalb kann der Nachweis einer generellen Geeignetheit bzw. eines gruppenspezifischen Risikos nicht dadurch
geführt werden, dass mit der Erkrankung von Musikern befasste Fachärzte den Eindruck gewinnen, dass diese Erkrankung bei Berufsmusikern,
hier Streichern, häufiger vorliegt als in übrigen Bevölkerungsteilen.
Soweit der Kläger im Verfahren wiederholt auf das Urteil des LSG für das Land Niedersachsen vom 17. September 1998 (L 6 U 22/98) hingewiesen hat, folgt daraus für den hier erkennenden Senat nichts anderes. Auch er ist der Auffassung, dass der Nachweis
der Gruppentypik, wie ausgeführt, nicht nur auf statistisch-epidemiologische Erkenntnisse gestützt werden kann. Vorliegend
sind aber auch andere ausreichende medizinische Erkenntnisquellen nicht vorhanden.
Wie ebenfalls ausgeführt, reicht die Feststellung der hinreichenden Wahrscheinlichkeit zwischen den beruflichen Belastungen
des Klägers und der Entwicklung seiner vorliegenden Gesundheitsstörungen im HWS/Schulter-Bereich, die der Senat aufgrund des
Gutachtens des Prof. Dr. A durchaus treffen kann, nicht aus, um eine Wie-BK zu bejahen. Denn der Nachweis der Kausalität im
zu entscheidenden Einzelfall i.S. der hinreichenden Wahrscheinlichkeit ist nur ein Prüfungspunkt der Anspruchsgrundlage des
§
9 Abs.
2 SGB VII (s.o.).
Die vom Kläger beanspruchten Beweiserleichterungen finden im Gesetz keine Stütze, sind darin auch nicht angelegt und auch
nicht etwa aus verfassungsrechtlichen Gründen geboten. Auf die widerlegbare Rechtsvermutung des §
9 Abs.
3 SGB VII kann der Kläger sich schon deshalb nicht berufen, weil er 1. keine Listen-BK geltend macht und 2. schon die für Abs. 1 erforderliche
Erkrankungsgefahr nicht belegen kann, geschweige denn ein in erhöhtem Maße bestehendes Erkrankungsrisiko. Dabei kann hier
dahingestellt bleiben, ob §
9 Abs.
3 SGB VII eine noch über die Aufnahmeschwelle einer BK in die Liste hinausgehende Expositionsqualität erfordert oder ob die Vorschrift
nichts anderes als eine Kodifizierung der Rechtsprechung des BSG zum Beweis des ersten Anscheins darstellt (vgl. den bei Koch aaO. Rn 303a dargestellten Meinungsstreit und für den Anscheinsbeweis
auch Römer, aaO. Rn. 31), denn der Kläger kann aus beiden Auffassungen nichts Positives für sich herleiten. Über diese Rechtsvermutung
hinaus sieht das Gesetz keine Beweiserleichterungen vor.
Dabei verkennt der Senat nicht, dass der Kläger wegen des kleinen Kollektivs der hohen Streicher und der angeschuldigten "Volkskrankheit"
vor besonderen Beweisproblemen steht. Diese sind jedoch der Entscheidung des Gesetzgebers für ein Listensystem geschuldet,
das in seiner derzeitigen Ausgestaltung eine gruppentypische Gefährdung voraussetzt (vgl. §
9 Abs.
1 SGB VII). Es versteht sich nahezu von selbst, dass diese Voraussetzung dann auch positiv feststellbar sein muss. Jede Beweiserleichterung
in diesem Prüfungspunkt betreffend die generelle Geeignetheit einer Einwirkung zur Verursachung einer bestimmten Erkrankung
führt notwendigerweise zu einer Relativierung des Listensystems. So betrifft die Rechtsvermutung des §
9 Abs.
3 SGB VII die Beweiswürdigung im Einzelfall bei der Prüfung des Vorliegens einer Listen-BK und nicht etwa das Tatbestandsmerkmal "generelle
Geeignetheit" bei Aufnahme einer BK in die Liste oder bei der Entschädigung nach §
9 Abs.
2 SGB VII (Koch aaO. Rn. 299, 301; Römer, aaO., Rn. 32a). Die Beweiserleichterung betrifft somit rechtssystematisch nicht das Listensystem,
sondern die Beweiswürdigung im Einzelfall. Dies zeigt, dass Beweiserleichterungen auf der Ebene der Feststellung eines gruppenspezifischen
Risikos für die Aufnahme einer BK in die Liste oder eine Entschädigung als Wie-BK im Gesetz gerade nicht angelegt sind.
Es ist auch nicht etwa so, dass der Gesetzgeber das Problem der Gewinnung ausreichender medizinischer Erkenntnisse im Falle
des Vorliegens vergleichbarer Arbeitsplätze in geringer Zahl nicht gesehen hätte. In der Stellungnahme des Bundesrates (BT-Drucksache
13/2333, Seite 5, Ziff., zitiert nach Koch aaO. Rn 252) zum Entwurf des UVEG, welches letztlich am 7. August 1996 Gesetz geworden ist, wurde für diese Fallgestaltung eine Anerkennungsmöglichkeit unter
weiteren Voraussetzungen vorgeschlagen, die jedoch nicht Gesetz geworden ist. Schon wegen dieser späteren Befassung des Gesetzgebers
mit dieser Problematik muss es auch unerheblich bleiben, ob er im Rahmen des Vereinigungsprozesses beider deutscher Staaten
diese Problematik, die nach den durchaus nachvollziehbaren Behauptungen des Klägers in der ehemaligen DDR zumindest im Falle
der Geiger einer anderen Lösung zugeführt worden sei, übersehen hat. Hinweise für eine von der Rechtsprechung zu schließende
planwidrige Gesetzeslücke ergeben sich jedenfalls nicht.
Beweiserleichterungen sind auch nicht etwa aus verfassungsrechtlichen Gründen geboten. Dass die Entscheidung des Gesetzgebers
für ein Listensystem nicht zu beanstanden ist, erscheint geklärt (vgl. z.B. BVerfG, SozR 2200 § 551 Nr. 11). Daraus folgt
aus der Sicht des Senats dann aber auch konsequenter Weise, dass eine Entschädigung nicht in Betracht kommt, wenn sich die
medizinischen Voraussetzungen nicht feststellen lassen, unabhängig davon, weshalb dies so ist.
Damit ist festzustellen, dass der Kläger trotz der Feststellung im Einzelfall, dass seine HWS-/Schulter-Erkrankung mit hinreichender
Wahrscheinlichkeit auf seine Tätigkeit als Geiger zurückzuführen ist, weder die Anerkennung als BK noch eine Entschädigung
erhalten kann.
Die Berufung war daher zurückzuweisen.
Der Senat hat die Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zugelassen, weil er der Auffassung war, dass eine
höchstrichterliche Entscheidung in dieser seltenen Fallkonstellation zur Rechtsfortbildung beitragen kann (§
160 Abs.
2 Nr.
1 SGG).