Zurückbehaltungsrecht der Kassenärztlichen Vereinigung für Honorar nach § 18 BMV-Ä wegen nicht erhobener Zuzahlungen
Tatbestand:
Die Klägerin betreibt als Krankenhauskonzern in Berlin u.a. das Klinikum am Urban, das in einer Rettungsstelle Erste-Hilfe-Leistungen
erbringt. Die Beteiligten streiten um die Zurückbehaltung von Honorar in Höhe von ursprünglich 125.380,- Euro und nun noch
119.540,- Euro für die Quartale I bis IV/2005 wegen der Nichteinbehaltung der Zuzahlung nach §
28 Abs.
4 SGB V ("Praxisgebühr").
Mit undatierten Bescheiden für die Quartale I/2005 bis IV/2005, die der Klägerin mit Schreiben vom 13. Oktober 2005, 24. Januar
2006, 22. März 2006 und 21. Juni 2006 zugegangen sind, modifiziert durch einen Teilabhilfebescheid vom 24. Mai 2006, hielt
die Beklagte Honorar in Höhe von insgesamt 125.380,- Euro für nicht erhobene Zuzahlungen zurück; im Einzelnen:
Quartal
|
Zahlungspflichtige Patienten (Gesamtfallzahl)
|
nicht einbehaltene Zuzahlung (Fallzahl)
|
Nichteinzugsquote
|
Zurückbehaltenes Honorar
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I/2005
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4.711
|
3.092
|
65,63 %
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30.920,- Euro
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II/2005
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4.820
|
3.261
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67,66 %
|
32.610,- Euro
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III/2005
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4.772
|
3.081
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64,56 %
|
30.810,- Euro
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IV/2005
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4.416
|
3.104
|
70,29 %
|
31.040,- Euro
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Mit ihren hiergegen jeweils erhobenen Widersprüchen machte die Klägerin geltend, das Inkassorisiko für den Erhalt der Praxisgebühr
dürfe nicht den Erste-Hilfe-Stellen der Krankenhäuser aufgebürdet werden. Eine schuldhafte Pflichtverletzung liege nicht vor,
auf das Erheben der Praxisgebühr sei nicht verzichtet worden. Die nachträgliche Aufforderung zur Zahlung gegenüber den Patienten
sei nicht zu beanstanden. Bei der Behandlung ihrer Patienten in den Erste-Hilfe-Stellen handele es sich stets um Notfälle,
in denen immer eine akute Behandlungsbedürftigkeit gegeben sei. Die Besonderheiten der Notfallbehandlung ließen eine Einziehung
der Zuzahlung vor der Behandlung im Regelfall nicht zu. In diesen Fällen werde den Patienten nach erfolgter Behandlung eine
schriftliche Zahlungsaufforderung ausgehändigt. Dann bestehe die Möglichkeit, den Betrag sogleich bar oder per Kartenzahlung
an der Kasse zu entrichten oder innerhalb von zehn Tagen zu überweisen.
Die Widersprüche wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheiden vom 13. Juni 2006 (Quartale I bis III/2005) bzw. 26. September
2006 (Quartal IV/2005) zurück. Zur Begründung führte sie aus: Auch Krankenhäuser seien verpflichtet, vor jeder ersten ambulanten
Inanspruchnahme im Kalendervierteljahr eine Zuzahlung in Höhe von 10,- Euro zu erheben, sofern sie mit Erste-Hilfe-Stellen
an der ambulanten vertragsärztlichen Versorgung teilnähmen. Jeder Leistungserbringer unterliege einer gesetzlichen Verpflichtung
zum Zahlungseinzug. Die entsprechenden Regelungen im Gesetz und in den Bundesmantelverträgen seien auch auf ambulante Notfallbehandlungen
im Krankenhaus anwendbar. Die Nichteinzugsquote liege im Falle der Klägerin durchweg bei über 50 Prozent. Auf der Grundlage
von § 18 Abs. 7a Bundesmantelvertrag - Ärzte (BMV-Ä) bzw. § 21 Abs. 7a Bundesmantelvertrag - Ärzte/Ersatzkassen (EKV) könne
die Differenz zwischen einzubehaltender und tatsächlich einbehaltener Zuzahlung zurückbehalten werden, wenn ein Leistungserbringer
- wie die Klägerin - in einem Quartal in 10 von 100 oder einem höheren Anteil der nach §
28 Abs.
4 SGB V zuzahlungspflichtigen Behandlungsfälle die Zuzahlung nicht erhoben habe. Das Ermessen sei bei der Entscheidung über die Zurückbehaltung
von Honorar beanstandungsfrei ausgeübt worden. Die Klägerin habe ihre bundesmantelvertraglichen Pflichten zum Zahlungseinzug
schuldhaft verletzt, was auch durch die hohe Nichteinzugsquote belegt werde. Sie habe nämlich nicht nachgewiesen, dass sie
die Zuzahlung grundsätzlich vor der Inanspruchnahme der ambulanten Leistung erhebe. Die von der Klägerin beschriebene Verfahrensweise
genüge den Anforderungen nicht. Auch bei Notfallbehandlungen sei die Zuzahlung grundsätzlich vor Behandlungsbeginn zu erheben,
zumal aufgrund der verhältnismäßig schwachen Arzt-Patient-Bindung ein erhöhtes Inkassorisiko bestehe. Anderes gelte nur bei
akuter Behandlungsbedürftigkeit, wenn der Gesundheitszustand des Patienten eine vorherige Erhebung der Zuzahlung nicht zulasse;
in diesen Fällen komme es aber ohnehin oftmals zur stationären Aufnahme. Dass eine vorherige Erhebung der Zuzahlung bei Patienten
der Erste-Hilfe-Stellen aus gesundheitlichen Gründen durchweg ausgeschlossen sei, sei nicht erkennbar.
Ihre dagegen erhobenen Klagen (S 79 KA 317/06, Quartale I bis III/2005 sowie S 79 KA 1557/06, Quartal IV/2005), gerichtet auf Auszahlung des zurückbehaltenen Honorars in Höhe von insgesamt 125.380,- Euro, hat die Klägerin
im Wesentlichen wie folgt begründet: § 18 Abs. 7a BMV-Ä bzw. § 21 Abs. 7a EKV seien hier nicht anwendbar. Die von der Kassenärztlichen
Bundesvereinigung und den Spitzenverbänden der Krankenkassen geschlossenen Bundesmantelverträge entfalteten weitere Regelungswirkung
nur für die Vertragsärzte, die Kassenärztlichen Vereinigungen und die Versicherten, nicht aber gegenüber den eine ambulante
Notfallversorgung anbietenden Krankenhäusern. Dort erbrachte ambulante Notfallleistungen seien nicht Bestandteil der vertragsärztlichen
Versorgung. Zudem sei fraglich, ob die Regelungen in § 18 Abs. 7a BMV-Ä bzw. §
21 Abs.
7a EKV überhaupt eine hinreichende gesetzliche Ermächtigung besäßen; §
43b Abs.
2 SGB V erlaube keine Regelung eines Zurückbehaltungsrechts. Eine Verpflichtung zur Einziehung der Zuzahlung bei den Patienten auch
aus Anlass ambulanter Notfallbehandlung könne sich danach nur aus der "Rahmenempfehlung Praxisgebühr" ergeben. Diese gestatte
eine nachträgliche Erhebung der Zuzahlung bei akuter Behandlungsbedürftigkeit ausdrücklich. Die Besonderheit der Notfallbehandlung
in den Erste-Hilfe-Stellen lasse eine Einziehung der Zuzahlung vor Behandlungsbeginn nicht zu, so dass den Patienten jeweils
nach der Behandlung eine schriftliche Zahlungsaufforderung überreicht werde. Es handele sich stets um Notfälle, in denen immer
eine akute Behandlungsbedürftigkeit mit der Notwendigkeit unverzüglichen Einschreitens gegeben sei. Ob die Untersuchung dann
gegebenenfalls ergebe, dass tatsächlich keine akute Behandlungsbedürftigkeit bestehe, sei rechtlich unerheblich. Die Verzögerung
einer Behandlung wegen vorheriger Einziehung der Zuzahlung könne sogar strafrechtliche Relevanz entfalten. Notfallpatienten
könnten auch deshalb nicht vorab an die Zahlstellen verwiesen werden, da diese sich nicht immer in räumlicher Nähe zur Rettungsstelle
befänden und auch nicht durchgängig geöffnet seien. Gleichwohl werde die Klägerin den organisatorischen und tatsächlichen
Anforderungen an die Erhebung der Zuzahlung in jeder Hinsicht gerecht. Ihre Verpflichtung zur Einziehung der Zuzahlung habe
die Klägerin danach nicht schuldhaft verletzt. Allein die Höhe der Nichteinzugsquote, die die Beklagte im Übrigen fehlerhaft
berechnet habe, lasse keinen Rückschluss auf etwaiges Verschulden zu.
Mit Urteilen vom 3. Dezember 2008 hat das Sozialgericht Berlin die Klagen abgewiesen und ausgeführt: § 18 Abs. 7a BMV-Ä bzw.
§ 21 Abs. 7a EKV seien auf die Klägerin anwendbar, soweit es um den Betrieb ambulanter Erste-Hilfe-Stationen gehe. Daher unterliege
auch die Klägerin der Verpflichtung, vom Patienten die Zuzahlung nach §
28 Abs.
4 SGB V einzuziehen; die Zurückbehaltung eines Teils der Vergütung müsse sie hinnehmen. Der Gesetzgeber habe die Vertragspartner
der Bundesmantelverträge ausdrücklich ermächtigt, das Verfahren des Einzugs der Zuzahlung auch mit Wirkung für nicht vertragsärztlich
zugelassene, aber zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung tätige Leistungserbringer zu regeln. Ihr Zurückbehaltungsrecht
habe die Beklagte auch angesichts der vorliegend sehr hohen Nichteinzugsquote rechtmäßig ausgeübt. Ob die Klägerin ihre Pflicht
zum Einzug der Zuzahlung schuldhaft verletzt habe, sei in diesem Zusammenhang unerheblich und ausschließlich in dem parallel
geführten Schlichtungsverfahren zu klären.
Gegen die ihr am 3. März 2009 (S 79 KA 317/06) bzw. 19. März 2009 (S 79 KA 1557/06) zugestellten Urteile hat die Klägerin am 3. April 2009 bzw. 15. April 2009 Berufungen eingelegt, die zu den Aktenzeichen
L 7 KA 58/09 (Quartale I bis III/2005) bzw. L 7 KA 65/09 (Quartal IV/2005) registriert worden sind. Mit Beschluss vom 17. November 2010 hat der Senat die Streitsachen zur gemeinsamen
Verhandlung und Entscheidung unter dem erstgenannten Aktenzeichen verbunden.
Im Berufungsverfahren hat die Klägerin erklärt, ihre Honorarforderung reduziere sich um zwischenzeitlich geleistete Zahlungen
von Versicherten und Erstattungen der Beklagten aufgrund von Rechenfehlern. Ihre Honorarforderung betrage nunmehr noch 119.540,-
Euro, nämlich 30.920,- Euro für das Quartal I/2005, 28.130,- Euro für das Quartal II/2005, 29.900,- Euro für das Quartal III/2005
sowie 30.590,- Euro für das Quartal IV/2005.
Zur Begründung ihrer Berufung vertieft die Klägerin ihr bisheriges Vorbringen und bringt ergänzend vor: Ihr Ermessen habe
die Beklagte bei Ausübung des Zurückbehaltungsrechts auch deshalb fehlerhaft ausgeübt, weil Krankenhausträger stets liquide
seien und daher kein Sicherungsbedürfnis bestehe. Das Risiko von nicht beizutreibenden Zuzahlungen dürfe zudem nicht von den
Krankenkassen auf die Leistungserbringer verlagert werden; die dauerhafte Zurückbehaltung von Honorar sei gleichbedeutend
mit einer Honorarkürzung. Im Übrigen hätten § 18 Abs. 7a BMV-Ä und § 21 Abs. 7a EKV nur vom 1. Januar 2005 bis zum 31. Dezember
2006 gegolten, so dass die fortlaufende Ausübung des Zurückbehaltungsrechts ab dem Jahr 2007 schon aus diesem Grunde rechtswidrig
sei. Bereits die Verlängerung der Befristung bis zum 30. Juni 2007 sei nicht hinreichend bekannt gemacht. Die am 30. August
2010 vereinbarte rückwirkende Aufhebung der Befristung gehe ins Leere, weil sie an den 30. Juni 2007 statt an den 1. Juli
2007 hätte anknüpfen müssen. Unabhängig davon entfalte die Rückdatierung der Vereinbarung vom 30. August 2010 echte Rückwirkung
und sei damit verfassungswidrig. Angesichts des eingetretenen Gewöhnungseffekts in Bezug auf die Praxisgebühr bei Ärzten und
Patienten sei die Regelung zum Zurückbehaltungsrecht mit der ihr innewohnenden Disziplinierungswirkung auch nicht mehr erforderlich.
Die Klägerin beantragt,
die Urteile des Sozialgerichts Berlin vom 3. Dezember 2008 aufzuheben, die Bescheide der Beklagten über die Zurückbehaltung
von Honorar für die Quartale I bis IV/2005 in der Fassung des Teilabhilfebescheides vom 24. Mai 2006 sowie der Widerspruchsbescheide
vom 13. Juni 2006 und 26. September 2006 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihr 119.540,- Euro nebst Zinsen in Höhe
von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält die erstinstanzlichen Entscheidungen für zutreffend und bringt ergänzend vor: Ein Leistungserbringer, der seine Verpflichtung
zum Einzug der Zuzahlung nicht erfülle, dürfe sich nicht hinter dem Inkassorisiko der Krankenkassen verstecken. Die Ausübung
des Zurückbehaltungsrechts diene der Sicherung des auch nach dem Ausgang des Schlichtungsverfahrens unzweifelhaft bestehenden
Schadensersatzanspruchs der Krankenkassen. Der Zahlungsanspruch der Klägerin sei gegebenenfalls zu hoch beziffert, da sie
selbst behaupte, ein Teil der ursprünglichen Nichtzahler habe die Zuzahlung später noch entrichtet. Die ursprünglich bestehende
Befristung von § 18 Abs. 7a BMV-Ä und § 21 Abs. 7a EKV sei inzwischen von den Partnern der Bundesmantelverträge aufgehoben
worden. Das Zurückbehaltungsrecht sei damit rechtmäßig ausgeübt worden. Auf das Vorliegen einer schuldhaften Pflichtverletzung
seitens der Klägerin komme es hier nicht an; diese sei allein in dem Klageverfahren zu thematisieren, das einen Schadensersatzanspruch
auf Grund eines Schlichtungsverfahrens zum Gegenstand habe.
Der Senat hat vom Sozialgericht Berlin die Streitsache S 79 KA 18/09 nebst Beiakte beigezogen. Daraus ergibt sich: Mit Bescheiden vom 13. Mai 2008 hat die Beklagte "aufgrund des Vorschlages
der Schlichtungsstelle gemäß § 49 Abs. 1 BMV-Ä bzw. § 45 Abs. 1 EKV" festgestellt, "dass die zur V N für Gesundheit GmbH gehörenden
Krankenhäuser ihre vertragsärztlichen Pflichten dadurch verletzt haben, dass sie in dem Zeitraum der Quartale I/2005 bis II/2007
die Zuzahlung gemäß §
28 Abs.
4 SGB V nicht ordnungsgemäß eingezogen haben und dadurch den Krankenkassen ein Schaden entstanden ist." Der den einzelnen Krankenkassen
entstandene Schaden sei zu erstatten. Das sich aus der hohen Nichtzahlerquote von zwischen 50 und 75 Prozent ergebende Indiz
für eine schuldhafte Pflichtverletzung habe die Klägerin nicht entkräftet. Die Widersprüche der Klägerin hat die Beklagte
mit Widerspruchsbescheid vom 16. Dezember 2008 zurückgewiesen. Die Höhe des Schadensersatzanspruchs der Primärkassen hat die
Beklagte darin auf 1.106.120,- Euro beziffert, den der Ersatzkassen auf 618.600,- Euro. Über die dagegen erhobene Klage (S 79 KA 18/09) ist noch nicht entschieden.
Wegen des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird im Übrigen auf den Inhalt der Gerichtsakten und der Verwaltungsvorgänge
der Beklagten sowie der Akte zum Verfahren S 79 KA 18/09 nebst Beiakte Bezug genommen, der, soweit wesentlich, Gegenstand der Erörterung in der mündlichen Verhandlung und der Entscheidungsfindung
war.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung der Klägerin ist zulässig und begründet. Zu Unrecht hat das Sozialgericht die Klagen abgewiesen. Die angefochtenen
Bescheide sind rechtswidrig und verletzen die Klägerin in ihren Rechten. Sie hat für die Quartale I bis IV/2005 Anspruch auf
Auszahlung zurückbehaltenen Honorars in Höhe von 119.540,- Euro nebst Zinsen.
1. Rechtsgrundlage für die von der Beklagten vorgenommene Zurückbehaltung von Honorar ist § 18 Abs. 7a Satz 1 BMV-Ä bzw. §
21 Abs. 7a Satz 1 EKV.
Die im Wesentlichen gleich formulierten Vorschriften lauten:
1Ergibt sich aus der Abrechnung, dass ein Leistungserbringer in einem Quartal in 10 von Hundert oder einem höheren Anteil
der Behandlungsfälle, in denen die Zuzahlung nach §
28 Abs.
4 SGB V zu erheben ist, die Zuzahlung nicht erhoben hat, kann die Kassenärztliche Vereinigung die Differenz zwischen einzubehaltender
und einbehaltener Zuzahlung zurückbehalten. 2In den Fällen, in denen die Kassenärztliche Vereinigung von dem Zurückbehaltungsrecht
nach Satz 1 Gebrauch macht, informiert die Kassenärztliche Vereinigung die betroffenen Landesverbände der Krankenkassen (EKV:
Landesvertretungen der Ersatzkassenverbände). 3Gleichzeitig leitet die Kassenärztliche Vereinigung in Abstimmung mit der zuständigen
Krankenkasse (EKV: Ersatzkasse) ein Verfahren nach § 49 (EKV: § 45) ein.
2. Diese Rechtsgrundlage findet eine hinreichende Ermächtigung im Gesetz (unten a) und entfaltet auch umfassend Gültigkeit
(unten b). Ihr Tatbestand ist erfüllt (unten c), doch ihr Ermessen bei Ausübung des Zurückbehaltungsrechts hat die Beklagte
zur Überzeugung des Senats fehlerhaft ausgeübt (unten d).
a) Ihre Ermächtigung hat die zitierte bundesmantelvertragliche Regelung in §
43b Abs.
2 Sätze 4 und 8
SGB V.
aa) Diese Norm steht in folgendem Zusammenhang: Mit dem Gesetz zur Modernisierung der gesetzlichen Krankenversicherung vom
14. November 2003 (GKV-Modernisierungsgesetz - GMG, BGBl. I S. 2190) wurde mit Wirkung vom 1. Januar 2004 für die Versicherten
der gesetzlichen Krankenversicherung eine Pflicht zur Zuzahlung in Höhe von 10 Euro pro Quartal ("Praxisgebühr") eingeführt
(vgl. zur Verfassungsmäßigkeit der Regelung: Bundessozialgericht, Urteil vom 25. Juni 209, B 3 KR 3/08 R, zitiert nach juris, Leitsatz). §
28 Abs.
4 Satz 1
SGB V i.d.F. des GMG lautet:
Versicherte, die das 18. Lebensjahr vollendet haben, leisten je Kalendervierteljahr für jede erste Inanspruchnahme eines an
der ambulanten ärztlichen, zahnärztlichen oder psychotherapeutischen Versorgung teilnehmenden Leistungserbringers, die nicht
auf Überweisung aus demselben Kalendervierteljahr erfolgt, als Zuzahlung den sich nach § 61 Satz 2 ergebenden Betrag an den
Leistungserbringer.
Den Zahlungsweg für diese Zuzahlung regelt §
43 b Abs.
1 und
2 SGB V. Die Vorschrift lautete i.d.F. des GMG:
(1) 1Leistungserbringer haben Zahlungen, die Versicherte zu entrichten haben, einzuziehen und mit ihrem Vergütungsanspruch
gegenüber der Krankenkasse zu verrechnen. 2Zahlt der Versicherte trotz einer gesonderten schriftlichen Aufforderung durch
den Leistungserbringer nicht, hat die Krankenkasse die Zahlung einzuziehen.
(2) 1Zuzahlungen, die Versicherte nach § 28 Abs. 4 zu entrichten haben, hat der Leistungserbringer einzubehalten; sein Vergütungsanspruch
gegenüber der Krankenkasse, der Kassenärztlichen oder Kassenzahnärztlichen Vereinigung verringert sich entsprechend. 2Die
nach § 83 zu entrichtenden Vergütungen verringern sich in Höhe der Summe der von den mit der Kassenärztlichen oder Kassenzahnärztlichen
Vereinigung abrechnenden Leistungserbringern nach Satz 1 einbehaltenen Zuzahlungen. 3Absatz 1 Satz 2 gilt nicht im Falle der
Leistungserbringung und Abrechnung im Rahmen von Gesamtverträgen nach den §§ 82 und 83. 4Das Nähere zum Verfahren nach den
Sätzen 1 und 2 ist in den Bundesmantelverträgen zu vereinbaren.
Mit Wirkung vom 1. Januar 2007 (Vertragsarztrechtsänderungsgesetz vom 22. Dezember 2006, BGBl. I S. 3439) wurde die Vorschrift ergänzt um die Sätze 4 bis 8; der bisherige Satz 4 wurde Satz 8, 2. Halbsatz. §
43 b Abs.
2 SGB V lautet nunmehr:
(2) 1Zuzahlungen, die Versicherte nach § 28 Abs. 4 zu entrichten haben, hat der Leistungserbringer einzubehalten; sein Vergütungsanspruch
gegenüber der Krankenkasse, der Kassenärztlichen oder Kassenzahnärztlichen Vereinigung verringert sich entsprechend. 2Die
nach § 83 zu entrichtenden Vergütungen verringern sich in Höhe der Summe der von den mit der Kassenärztlichen oder Kassenzahnärztlichen
Vereinigung abrechnenden Leistungserbringern nach Satz 1 einbehaltenen Zuzahlungen. 3Absatz 1 Satz 2 gilt nicht im Falle der
Leistungserbringung und Abrechnung im Rahmen von Gesamtverträgen nach den §§ 82 und 83. 4In den Fällen des Satzes 3 haben
die Kassenärztliche oder Kassenzahnärztliche Vereinigung im Auftrag der Krankenkasse die Einziehung der Zuzahlung zu übernehmen,
wenn der Versicherte trotz einer gesonderten schriftlichen Aufforderung durch den Leistungserbringer nicht zahlt. 5Sie können
hierzu Verwaltungsakte gegenüber den Versicherten erlassen. 6Klagen gegen Verwaltungsakte nach Satz 5 haben keine aufschiebende
Wirkung. 7Ein Vorverfahren findet nicht statt. 8In den Bundesmantelverträgen kann ein von Satz 4 abweichendes Verfahren vereinbart
werden; das Nähere zum Verfahren nach den Sätzen 1, 2 und 4 bis 7 ist in den Bundesmantelverträgen zu vereinbaren.
bb) Die Krankenkasse ist nach diesem Regelungssystem Gläubigerin des Anspruchs auf Zuzahlung nach §
28 Abs.
4 SGB V. Der Vertragsarzt fungiert lediglich als Einzugs- bzw. Inkassostelle. Daraus folgt, dass nur die "einbehaltenen" Zuzahlungen,
also tatsächliche Zahlungen der Versicherten, nicht aber schon die "einzubehaltenden" Zuzahlungen den Vergütungsanspruch der
Vertragsärzte gegenüber der jeweiligen Kassen(zahn)ärztlichen Vereinigung verringern. Zahlt ein Versicherter die Praxisgebühr
anlässlich einer ärztlichen Behandlung nicht, hat der Vertragsarzt ihn lediglich schriftlich zur Nachzahlung aufzufordern.
Bleibt diese Mahnung erfolglos, hat die Kassen(zahn)ärztliche Vereinigung im Auftrag der Krankenkasse die Einziehung der Zuzahlung
zu übernehmen, soweit in den Bundesmantelverträgen nichts Abweichendes bestimmt ist. Der Vertragsarzt hat hiernach also nur
eine Inkassofunktion auszuüben, ist aber nicht selbst Gläubiger der Praxisgebühr. Die Stellung der Krankenkassen als Gläubiger
der Praxisgebühr lässt sich zusätzlich aus §
28 Abs.
4 Satz 3
SGB V ableiten, wonach im Falle der Wahl von Kostenerstattung statt der Sach- oder Dienstleistung (§
13 Abs.
2 SGB V) die Zuzahlung von der Krankenkasse gemäß §
13 Abs.
2 Satz 9
SGB V unmittelbar in Abzug zu bringen ist, sich die von ihr an den Versicherten zu erstattende Arztvergütung also um einen der
Praxisgebühr entsprechenden Betrag verringert (vgl. Bundessozialgericht, aaO., Rdnr. 16 f.).
cc) §
43b Abs.
2 Satz 8
SGB V ist mit der Formulierung "das Nähere zum Verfahren nach den Sätzen 1, 2 und 4 bis 7" eine nach Inhalt, Zweck und Ausmaß hinreichende
Ermächtigung für die bundesmantelvertragliche Regelung des hier streitigen Zurückbehaltungsrechts. § 18 Abs. 7a BMV-Ä bzw.
§ 21 Abs. 7a EKV beinhalten nämlich eine Verfahrensregelung im Hinblick auf die Einbehaltung der Zuzahlung nach §
28 Abs.
4 SGB V durch die Leistungserbringer sowie die Folgen schuldhafter Nichteinbehaltung.
Geregelt sind die Pflicht zur Einbehaltung der Zuzahlung und deren Folge in §
43 b Abs.
2 Satz 1 und
2 SGB V. Der Leistungserbringer ist zur Einbehaltung verpflichtet. Sein Vergütungsanspruch verringert sich in Höhe des einbehaltenen
Betrages. Gleichzeitig verringert sich die Gesamtvergütung in Höhe der Summe der einbehaltenen Zuzahlungen.
Materiellrechtlich knüpft sich an die schuldhafte Nichteinbehaltung der Zuzahlung nach §
28 Abs.
4 SGB V gegebenenfalls eine Schadensersatzpflicht des Leistungserbringers gegenüber den Krankenkassen nach §
49 BMV-Ä bzw. § 45 EKV. Das in § 18 Abs. 7a BMV-Ä bzw. § 21 Abs. 7a EKV normierte Zurückbehaltungsrecht der Kassenärztlichen
Vereinigung in Höhe der Differenz zwischen einbehaltener und einzubehaltender Zuzahlung dient nur der Sicherung dieses Schadensersatzanspruchs
und hat keinen eigenen Sanktionscharakter. Die enge Verknüpfung zwischen vorläufiger Zurückbehaltung und Schadensregress belegt
Satz 3 in § 18 Abs. 7a BMV-Ä bzw. § 21 Abs. 7a EKV, wonach bei Ausübung des Zurückbehaltungsrechts zwingend das Schlichtungsverfahren
mit dem Ziel des Schadensregresses nach § 49 BMV-Ä bzw. § 45 EKV einzuleiten ist. Dementsprechend ist der Streit um die vorläufige
Zurückbehaltung (vertragsärztlichen) Honorars nur ein vorgelagerter Streit um ein Sicherungsrecht, dem das Verfahren folgt,
in dem die Schadensersatzpflicht materiell festgestellt wird; letzteres ist hier ebenfalls betrieben worden (Bescheide vom
13. Mai 2008, Widerspruchsbescheid vom 16. Dezember 2008, Klage S 79 KA 18/09).
b) § 18 Abs. 7a BMV-Ä bzw. § 21 Abs. 7a EKV bieten auch eine taugliche Rechtsgrundlage für die Zurückbehaltung von Honorar
im Umfange nicht einbehaltener Zuzahlungen. Ihr zwischenzeitliches Außer-Kraft-Treten führt nicht zur Rechtswidrigkeit der
Zurückbehaltung. Ursprünglich waren die Vorschriften bis zum 31. Dezember 2006 befristet (Einführung von § 18 Abs. 7a BMV-Ä
bzw. § 21 Abs. 7a EKV mit Wirkung vom 1. Januar 2005 bis 31. Dezember 2006 durch am 29. Juni 2005 vereinbarte Änderung der
Bundesmantelverträge). Die Vertragsparteien vereinbarten zunächst eine Verlängerung der Befristung bis zum 30. Juni 2007 (Deutsches
Ärzteblatt vom 8. Januar 2007, Seite A 73); die Bekanntmachung im Deutschen Ärzteblatt ist nach Art und Formulierung nicht
zu beanstanden. Am 30. August 2010 hoben sie die Befristung vollständig mit Wirkung vom 1. Juli 2007 auf (Deutsches Ärzteblatt
vom 24. September 2010, Seite A 1828). Die von der Klägerin formulierten Bedenken gegen die Statthaftigkeit der rückwirkenden
Entfristung der fraglichen Regelungen greifen aus mehreren Gründen nicht. Die Inkraftsetzung zum 1. Juli 2007 ist zutreffend;
am 30. Juni 2007 um Mitternacht lief die Befristung aus, am 1. Juli 2007 um 0.00 Uhr war sie aufgehoben - regelungstechnisch
ist dies einwandfrei. Weiter sind die hier streitigen Widerspruchsbescheide am 13. Juni 2006 bzw. 26. September 2006 ergangen
und damit noch während des ursprünglich vorgesehenen Geltungszeitraums. Weil es für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der
Ausübung des Zurückbehaltungsrechts, eines belastenden Verfahrensakts, auf den Zeitpunkt der letzten Behördenentscheidung
hierzu ankommt, durften die streitigen Beträge grundsätzlich zurückbehalten werden. Selbst wenn die Beklagte später zeitweise
zu einer weiteren Zurückbehaltung nicht berechtigt gewesen sein sollte, war sie hierzu jedenfalls nach dem seit 30. August
2010 geltenden mantelvertraglichen Recht wieder befugt. Die Klägerin kann aber - sinngemäß - nicht fordern, was sie in einem
nächsten Schritt gleich wieder herausgeben müsste.
c) Der Tatbestand aus § 18 Abs. 7a Satz 1 BMV-Ä bzw. § 21 Abs. 7a Satz 1 EKV ist erfüllt. Die Klägerin ist Leistungserbringerin
im Sinne der Vorschrift. Zwar nimmt das von der Klägerin betriebene Krankenhaus grundsätzlich nicht an der vertragsärztlichen
Versorgung teil. Zur ärztlichen Behandlung im Rahmen der vertragsärztlichen Versorgung gehören aber auch die in Notfällen
ambulant ausgeführten ärztlichen Leistungen durch nicht an der vertragsärztlichen Versorgung teilnehmende Ärzte (§ 2 Abs.
2 Nr. 4 BMV-Ä/EKV; vgl. auch Bundessozialgericht, Urteil vom 16. April 1986, 6 RKa 34/84, zitiert nach juris, dort Rdnr. 11 ff.; Urteil vom 24. September 2003, B 6 KA 51/02 R, zitiert nach juris, dort Rdnr. 13 ff.). Es handelt sich um einen "rechtlich wenig fassbaren Fall der beschränkten Teilnahme
an der vertragsärztlichen Versorgung durch Krankenhäuser und Nichtvertragsärzte", ohne dass diese in die Kassenärztliche Vereinigung
einbezogen werden (Wenner, Das Vertragsarztrecht nach der Gesundheitsreform, 2008, § 14 Rdnr. 12). In diesem Fall gelten nicht
nur die die betroffenen Leistungserbringer begünstigenden Regelungen über die vertragsärztliche Vergütung, sondern auch die
sonstigen, für die Leistungserbringer gegebenenfalls mit Nachteilen verbundenen Regelungen der vertragsärztlichen Versorgung.
Dies gilt jedenfalls dann, wenn die Leistungserbringer die entsprechenden vertragsärztlichen Regelungen kennen müssen. Bei
einem Krankenhausträger, dessen Einrichtungen regelmäßig und in erheblichem Umfang am Notfalldienst teilnehmen, kann davon
ausgegangen werden, dass die einschlägigen Bestimmungen bekannt und daher anwendbar sind (vgl. Bundessozialgericht, Urteil
vom 16. April 1986, aaO., Rdnr. 14).
Zu beanstanden ist daher weder die Berechtigung der Kassenärztlichen Vereinigung, von der Vergütung von Krankenhäusern für
ambulante Notfallbehandlungen einen Anteil für Verwaltungskosten abzuziehen (hierzu Bundessozialgericht, Urteil vom 24. September
2003, B 6 KA 51/02 R), noch die Verpflichtung der diese Notfallbehandlung vornehmenden Krankenhäuser, die Zuzahlung nach §
28 Abs.
4 SGB V zu erheben.
In den vier Quartalen des Jahres 2005 hat die Klägerin in der Rettungsstelle des Klinikums am Urban die Zuzahlung nach §
28 Abs.
4 SGB V in Quoten zwischen 64,56 Prozent und 70,29 Prozent nicht erhoben. Die nun noch streitige Summe von 119.540,- Euro entspricht
11.954 Nichtzahlern im Jahre 2005.
d) Die Ausübung des Zurückbehaltungsrechts nach § 18 Abs. 7a Satz 1 BMV-Ä bzw. § 21 Abs. 7a Satz 1 EKV steht im Ermessen der
Beklagten. Die rechtliche Kontrolle der Ermessensentscheidung muss im Wesentlichen die Begründung von Ausgangs- und Widerspruchsbescheid
in den Blick nehmen (unten aa). Die Ermessensentscheidung in Zusammenhang mit der Ausübung des Zurückbehaltungsrechts muss
bestimmten allgemeinen Standards genügen (unten bb). Diesen werden die angefochtenen Bescheide zur Überzeugung des Senats
nicht gerecht (unten cc).
aa) Für die vom Senat durchzuführende Kontrolle der angefochtenen Bescheide auf Ermessensfehler ist entscheidend auf die konkrete
Begründung von Ausgangs- und Widerspruchsbescheid abzustellen, denn hier manifestieren sich die Gründe, die die Behörde bei
Ausübung des Ermessens erwogen hat (vgl. § 35 Abs. 1 Satz 3 SGB X: "Die Begründung von Ermessensentscheidungen muss auch die Gesichtspunkte erkennen lassen, von denen die Behörde bei der
Ausübung ihres Ermessens ausgegangen ist"); gleichzeitig ergibt eine Analyse der Begründung der Bescheide gegebenenfalls,
welche Umstände die Behörde außer Betracht gelassen hat, obwohl sie sie hätte erwägen müssen.
Ein "freies" Nachschieben oder Ergänzen von Ermessenserwägungen nach Erlass des Widerspruchsbescheides bis hin zum Ende der
letzten mündlichen Tatsachenverhandlung ist grundsätzlich nicht statthaft. Hierfür sprechen rechtsstaatliche Erwägungen: Es
muss aus dem Bescheid erkennbar sein, dass der Vortrag des Betroffenen und die Umstände seines Einzelfalles zur Kenntnis genommen,
sachlich geprüft und beschieden worden sind. Der Betroffene hat Anspruch auf eine nachvollziehbare Bescheidung, damit er sich
über die Notwendigkeit und Erfolgsaussichten eines Rechtsmittels schlüssig werden, d.h. eine Rechtsverletzung überhaupt erkennen
und zur Rechtsverteidigung ein Rechtsschutzbegehren sinnvoll erwägen kann. Außerdem kommt dem Begründungszwang die Funktion
zu, im Rahmen des Verwaltungs- bzw. Widerspruchsverfahrens Selbstkontrolle durchzuführen und mit der Begründung verwaltungsintern
Rechenschaft darüber abzulegen, dass die Interessen des Betroffenen wahrgenommen worden sind.
Eine Vorschrift, die wie §
114 Satz 2
Verwaltungsgerichtsordnung (
VwGO) das Nachschieben von Gründen auch bei Ermessensentscheidungen für zulässig erklärt, fehlt zudem im
Sozialgerichtsgesetz (
SGG). Unstatthaft und im Prozess nicht zu berücksichtigen ist damit jedenfalls das Nachschieben von bei Erlass des Verwaltungsaktes
nicht erwogenen Gründen. Eine Ermessensentscheidung darf nicht aus Gründen aufrecht erhalten werden, die sie in Wahrheit gar
nicht tragen und die möglicherweise bei Erlass der Entscheidung nicht einmal bekannt waren (vgl. Keller in Meyer-Ladewig u.a.,
SGG, 9. Aufl. 2008, Rdnr. 36 zu §
54; Castendiek in Lüdtke,
SGG Handkommentar, 3. Aufl. 2009, Rdnrn. 60 und 103 zu § 54; Littmann in Hauck/Noftz, SGB X, Rdnr. 11 zu § 41; Schütze in von Wulffen, SGB X, 7. Aufl. 2010, Rdnr. 11 zu § 41; Bundessozialgericht, Urteil vom 24. April 2002, B 7/1 A 4/00 R, zitiert nach juris, dort Rdnr. 54; Urteil vom 12. Dezember 1990, 9a/9 RV 27/89, zitiert nach juris, dort Rdnr. 12; Urteil vom 30. Januar 1990, 11 RAr 47/88, zitiert nach juris, dort Rdnr. 28). Ein Nachschieben von Ermessenserwägungen in Gestalt der Konkretisierung und Vertiefung
der Begründung ist allenfalls dann zulässig, wenn die nachträglich vorgebrachten Gründe schon bei Erlass des streitigen Verwaltungsaktes
vorlagen, dieser durch sie nicht in seinem Wesen verändert und der Betroffene nicht in seiner Rechtsverteidigung beeinträchtigt
wird (vgl. Castendiek, aaO., Rdnr. 103).
Nichts anderes ergibt sich aus § 41 Abs. 1 Nr. 2 i.V.m. Abs. 2 SGB X. Danach kann "die erforderliche Begründung nachträglich gegeben" werden, und zwar auch bis zur letzten Tatsachenverhandlung
eines sozial- oder verwaltungsgerichtlichen Verfahrens. Damit ist nämlich nur die Heilung einer die formelle Rechtswidrigkeit
herbeiführenden gänzlich fehlenden Begründung gemeint, nicht aber die Nachbesserung einer zur materiellen Rechtswidrigkeit
führenden unzulänglichen Begründung (vgl. Schütze, aaO., Rdnr. 12).
bb) Das der Beklagten in § 18 Abs. 7a Satz 1 BMV-Ä bzw. § 21 Abs. 7a Satz 1 EKV eingeräumte Ermessen umfasst nur das Entschließungsermessen
und nicht ein Ermessen in Bezug auf die Höhe des zurückbehaltenen Honorars, denn zurückzubehalten ist ausdrücklich "die Differenz
zwischen einzubehaltender und einbehaltener Zuzahlung".
Eine beanstandungsfreie Entscheidung zur Zurückbehaltung muss zunächst erkennen lassen, dass überhaupt Ermessen ausgeübt worden
ist. Es darf nicht der Anschein entstehen, dass die Zurückbehaltung gleichsam im Wege des Automatismus verfügt wird, wenn
eine relevante Differenz zwischen einzubehaltender und einbehaltener Zuzahlung vorliegt. Sollte die Begründung von Bescheid
und Widerspruchsbescheid den Eindruck eines solchen Automatismus entstehen lassen und der Empfänger meinen müssen, die Behörde
habe sich bei Ausübung des Zurückbehaltungsrechts strikt gebunden gefühlt, wäre die Entscheidung schon wegen Ermessensausfalls
rechtswidrig.
Weiter muss die Entscheidung zur Zurückbehaltung dem Zweck der Ermächtigung entsprechen und die gesetzlichen Grenzen des Ermessens
einhalten. Wie bereits ausgeführt, liegt der Zweck des Zurückbehaltungsrechts nach § 18 Abs. 7a Satz 1 BMV-Ä bzw. § 21 Abs.
7a Satz 1 EKV ausschließlich in der Sicherung eines Schadensersatzanspruchs der Krankenkassen gegenüber dem als Einzugsstelle
fungierenden Vertragsarzt (bzw. hier: Krankenhausträger). In Bezug auf diesen Schadensersatzanspruch, der eine schuldhafte
Pflichtverletzung in Zusammenhang mit der Nichteinziehung der Zuzahlung fordert, ist zwingend das endgültige Klärung herbeiführende
Verfahren nach § 49 BMV-Ä bzw. § 45 EKV einzuleiten. Weil letzteres unter Umständen Jahre bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung
beanspruchen kann, bietet der zeitnahe Weg der Zurückbehaltung der mutmaßlichen Schadenssumme durch eine vorläufige Kürzung
des Honoraranspruchs Schutz gegen die Insolvenz des betroffenen Leistungserbringers. Eine Strafabsicht darf mit der Zurückbehaltung
nicht verfolgt werden. Notwendig ist die Sicherung einer Schadensersatzforderung nur dann, wenn fraglich erscheint, ob sie
in Zukunft realisiert werden kann. Die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des potentiellen Schuldners ist hierbei in den Blick
zu nehmen. Je fraglicher die zukünftige Leistungsfähigkeit eines Leistungserbringers erscheint, umso eher ist die Ausübung
des Zurückbehaltungsrechts angezeigt (anders und genau umgekehrt, aber nicht plausibel: Sozialgericht Berlin, Urteil vom 13.
Mai 2009, S 83 KA 343/06, zitiert nach juris, dort Leitsatz 4 und Rdnr. 25).
Daneben hat die Ermessensentscheidung zu prognostizieren, wie erfolgreich das Regressverfahren nach § 49 BMV-Ä bzw. § 45 EKV
voraussichtlich sein wird. Nur wenn eine schuldhafte Verletzung vertragsärztlicher Pflichten in Zusammenhang mit der Nichteinbehaltung
der Zuzahlung wahrscheinlich ist, ist die Ausübung des Zurückbehaltungsrechts zulässig, denn sie nimmt die Folge des Schadensregresses
zeitweise vorweg. Umgekehrt ist die Ausübung des Zurückbehaltungsrechts umso weniger mit dem Zweck der Ermächtigung vereinbar,
je unsicherer eine schuldhafte Verletzung vertragsärztlicher Pflichten erscheint. In diesem Zusammenhang obliegt der Beklagten
auch schon bei der Ausübung des Zurückbehaltungsrechts eine sorgfältige Aufklärung des Sachverhalts; dem Leistungserbringer
ist die Möglichkeit einzuräumen, gegebenenfalls sachliche Gründe für eine hohe Nichtzahlerquote anzuführen.
cc) Hieran gemessen sind die angefochtenen Bescheide rechtswidrig. Die Beklagte hat ihr Ermessen nicht fehlerfrei ausgeübt.
Die undatierten Ausgangsbescheide leiden evident schon unter Ermessensausfall, weil die hohe jeweils angeführte Nichteinzugsquote
"blind" zur Zurückbehaltung von Honorar in entsprechender Höhe geführt hat. Der Klägerin wurde nicht mehr mitgeteilt als die
Nichteinzugsquote, die Anzahl der Nichtzahler und die Höhe des zurückbehaltenen Betrages. Ohne Zweifel genügt dies den normativen
Vorgaben nicht und ist rechtswidrig.
Die Widerspruchsbescheide vom 13. Juni 2006 und 26. September 2006 ergeben zunächst ein anderes Bild. Sie geben die in den
Widersprüchen angeführten Einwendungen der Klägerin wieder und würdigen auch die Antwort der Klägerin auf die der Sachaufklärung
dienende Anfrage der Beklagten vom 2. März 2006. Erkennbar wird zumindest das Bemühen um die Begründung einer Ermessensentscheidung.
Zu beanstanden ist aber, dass auch die Widerspruchsbescheide keine Erwägungen zum Sicherungszweck der Zurückbehaltung von
Honorar enthalten und sich nicht zur Notwendigkeit der Einbehaltung einlassen, gemessen etwa an der Höhe der zu erwartenden
Schadensersatzforderung und der Insolvenzgefahr auf Seiten der Klägerin. Im Falle der Klägerin hätte der Sicherungszweck ganz
besonders der Erwägung bedurft, weil es sich bei ihr um Deutschlands größten kommunalen Krankenhauskonzern handelt mit (im
Jahre 2009) rund 5.200 Betten, rund 201.000 stationären und 286.000 ambulanten Fällen, rund 13.000 Mitarbeitern, einem Umsatz
von etwa 785 Mio. Euro und einem Jahresergebnis von 2,6 Mio. Euro (nach http://www.v.de). Im Jahre 2005 lagen die Zahlen nicht
sehr viel anders. Sie mussten der Beklagten bekannt sein. Diese Zahlen sowie der Umstand, dass von einem Insolvenzrisiko bei
der Klägerin zu keiner Zeit die Rede war und ist, sprechen schon gegen die Angemessenheit der Zurückbehaltung des Honorars
in den streitigen Quartalen. Das Mittel steht außer Relation zum Zweck. Selbst wenn nämlich eine schuldhafte Verletzung vertragsärztlicher
Pflichten auf Seiten der Klägerin wahrscheinlich sein sollte, wäre eine rechtskräftig festgestellte Schadensersatzverpflichtung
auch in Höhe der hier streitigen Beträge ohne Weiteres erfüllbar. Die Lösung durfte hier für die Beklagte nur im Betreiben
des Regressverfahrens liegen. Über die Ausübung des Zurückbehaltungsrechts hat sie das Inkassorisiko vorübergehend unzulässiger
Weise auf die Klägerin verlagert.
Entscheidend ist ein Weiteres: Die den Widerspruchsbescheiden zu entnehmende Prognose hinsichtlich der Erfolgsaussichten des
Regressverfahrens unterliegt einem Abwägungsmangel. Die Besonderheit von Erste-Hilfe- bzw. Rettungsstellen in einem Krankenhaus
wurde nämlich nicht hinreichend erwogen; diese unterscheiden sich maßgeblich von einer herkömmlichen vertragsärztlichen Praxis.
In den Widerspruchsbescheiden heißt es insoweit, gerade in Erste-Hilfe- bzw. Rettungsstellen bestehe ein erhöhtes Inkassorisiko
für den Einzug der Praxisgebühr, weshalb ihre Erhebung vor Behandlungsbeginn "unumgänglich" sei. Diese Rigidität wird der
Vorgabe in den Mantelverträgen (§ 18 Abs. 3 BMV-Ä bzw. § 21 Abs. 3 EKV) nicht gerecht, wonach die Zuzahlung bei akuter Behandlungsbedürftigkeit
auch nach der Inanspruchnahme erhoben werden kann. In diesem Fall zieht der Leistungserbringer den Betrag nachträglich ein
und quittiert die geleisteten Zahlungen. Der Versicherte ist verpflichtet, die Zuzahlung unverzüglich, spätestens innerhalb
von 10 Tagen zu entrichten (§ 18 Abs. 4 BMV-Ä bzw. § 21 Abs. 4 EKV). Sofern der Versicherte gleichwohl nicht leistet, übernimmt
die Kassenärztliche Vereinigung den weiteren Zahlungseinzug (§ 18 Abs. 5 BMV-Ä bzw. §
21 Abs.
5 EKV, §
43 b Abs.
2 Satz 4, 5
SGB V).
Die Beklagte verkennt insoweit, dass bei Versicherten, die Erste-Hilfe- und Rettungsstellen in Krankenhäusern aufsuchen, dem
ersten Anschein nach zumeist "akute Behandlungsbedürftigkeit" in diesem Sinne bestehen dürfte. Ob sie tatsächlich besteht,
wird oftmals erst klar sein, nachdem die ärztliche Untersuchung mit Anamnese und Befunderhebung überhaupt stattgefunden hat.
Deshalb spricht einiges für die Plausibilität der Ausführungen der Klägerin im Widerspruchsverfahren, wonach die Besonderheiten
der Notfallbehandlung eine Einziehung der Praxisgebühr vor der Behandlung im Regelfall nicht zuließen. Dem ist die Beklagte
nur kategorisch mit der Behauptung entgegen getreten, dass es auch bei Erste-Hilfe- und Rettungsstellen beim Prinzip des vorherigen
Einzuges der Zuzahlung bleiben müsse. Ein Denkfehler ist in der Annahme enthalten, "eine nachträgliche Erhebung der Praxisgebühr
(könne) nur in Fällen akuter Behandlungsbedürftigkeit erfolgen, wobei dies jedoch eine Entscheidung im Einzelfall anhand des
Gesundheitszustandes des Patienten vor (Hervorhebung hier) Behandlungsbeginn erfordert". Diese Sichtweise würde eine Einschätzung
der akuten Behandlungsbedürftigkeit durch das Pflege- oder Verwaltungspersonal schon vor dem ersten Arzt-Patienten-Kontakt
voraussetzen; tatsächlich aber ist es der ärztlichen Untersuchung vorbehalten, (akute) Behandlungsbedürftigkeit festzustellen.
Unvermittelt und ohne weitere Begründung wird in den Widerspruchsbescheiden sodann die Nichteinzugsquote als entscheidendes
Indiz für eine schuldhafte Nichteinziehung der Zuzahlung angeführt. Eine solche "Indizwirkung" wäre nur dann tragfähiges Argument,
wenn die Beklagte die tatsächlichen Nichteinzugsquoten der Klägerin zu denen vergleichbarer Rettungsstellen ins Verhältnis
gesetzt und plausibel gemacht hätte, dass und warum die Klägerin den Begriff der akuten Behandlungsbedürftigkeit in § 18 Abs.
3 BMV-Ä bzw. § 21 Abs. 3 EKV fehlinterpretiert.
Nach alledem hält der Senat die Ausführungen der Beklagten in den Widerspruchsbescheiden für zu vage, um eine erfolgreiche
Inregressnahme der Klägerin zugunsten der Krankenkassen mit dem notwendigen Wahrscheinlichkeitsgrad prognostizieren zu können.
Mit den Einwendungen der Klägerin hat die Beklagte sich nicht hinreichend auseinandergesetzt. Die Notwendigkeit des Einzuges
der Zuzahlung vor Behandlungsbeginn wurde nur schematisch auf die Erste-Hilfe- und Rettungsstellen von Krankenhäusern übertragen,
ohne deren Besonderheiten zu ermitteln oder zu würdigen.
3. Erweist sich die Zurückbehaltung des Honorars in den vier Quartalen des Jahres 2005 danach als rechtswidrig, hat die Klägerin
Anspruch auf Auszahlung zu wenig geleisteten Honorars in Höhe von 119.540,- Euro.
4. Der Anspruch auf Prozesszinsen in Höhe von fünf Prozent über dem Basiszinsatz seit Rechtshängigkeit ergibt sich aus einer
entsprechenden Anwendung von §§
288 Abs.
1,
291 BGB.
5. Die Kostenentscheidung beruht auf §
197 a SGG i.V.m. §
154 Abs.
1 VwGO. Da die Klägerin ihre Forderung im Laufe des Berufungsverfahrens um nur 4,64 Prozent reduziert hat, hat der Senat keine Quotelung
der Kosten vorgenommen.
Der Senat hat die Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zugelassen (§
160 Abs.
2 Nr.
1 SGG).