Vorläufiger Rechtsschutz im sozialgerichtlichen Verfahren in einem Versicherungsstreit um Zuständigkeit der GKV oder PKV;
Anspruch auf vorläufige Kostenübernahme bei unaufschiebbaren Leistungen
Gründe:
I. Die Antragsgegnerin lehnte den Antrag der Antragstellerin, in die gesetzliche Krankenversicherung (GKV) und die soziale
Pflegeversicherung aufgenommen zu werden, mit Bescheid vom 08. Mai 2014, bestätigt durch den Widerspruchsbescheid vom 07.
November 2014, mit der Begründung ab, dass die Antragstellerin zwar derzeit ohne Krankenversicherungsschutz, aber nach ihren
Angaben zuletzt, bis zum Mai 2000, bei der Barmenia - einem Unternehmen der privaten Krankenversicherung (PKV) - versichert
gewesen sei. Dies schließe eine Versicherungspflicht in der GKV und der sozialen Pflegeversicherung aus.
Hiergegen hat die Antragstellerin Klage zum Sozialgericht Berlin erhoben, über die noch nicht entschieden ist. Ihren sinngemäßen
Antrag, die Antragsgegnerin zu verpflichten, sie im Wege einstweiliger Anordnung in die GKV aufzunehmen, hat das Sozialgericht
mit Beschluss vom 30. Januar 2015 abgelehnt. Hiergegen richtet sich die vorliegende Beschwerde der Antragstellerin.
II. Die Beschwerde der Antragstellerin gegen den Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 30. Januar 2015 ist gemäß §§
172 Abs.
1,
173 Sozialgerichtsgesetz (
SGG) zulässig und in dem sich aus dem Tenor ergebenden Umfang auch begründet. Die Antragstellerin hat sich mit dem Antrag an
das Sozialgericht gewandt, sie (als Mitglied) in die GKV aufzunehmen. Das Sozialgericht hat das in diesem Antrag enthaltene
Begehren, die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihr vorläufig Leistungen der GKV zu gewähren,
rechtsfehlerhaft verweigert. Denn für dieses Begehren ist sowohl der für den Erlass einer einstweiligen Anordnung nach §
86b Abs.
2 SGG erforderliche Anordnungsgrund als auch ein Anordnungsanspruch gegeben. Dagegen hat das Sozialgericht im vorläufigen Rechtsschutzverfahren
das darüber hinausgehende Begehren der Antragstellerin, diese als Mitglied der Antragsgegnerin "in die gesetzliche Krankenversicherung
aufzunehmen" zu Recht abgelehnt.
1.) Im Streit über die Versicherungspflicht eines Antragstellers mit einer gesetzlichen Krankenkasse um eine bei dieser bestehenden
Mitgliedschaft hat der Senat in ständiger Rechtsprechung vorläufigen Rechtsschutz dadurch gewährt, dass er die Krankenkasse
zur vorläufigen Erbringung krankenversicherungsrechtlicher Leistungen nach dem
SGB V verpflichtet hat, auf die der Antragsteller zur Erhaltung von Leben, Gesundheit und körperlicher Unversehrtheit (Art.
2 Abs.
2 Satz 1
Grundgesetz [GG]) dringend vor der Entscheidung im Hauptsacheverfahren angewiesen war und die er sich nicht einmal vorübergehend aus
eigenen bereiten Mitteln oder denen unterhaltsverpflichteter Ehegatten oder Angehöriger beschaffen konnte. Eine Entscheidung
über die zwischen den Beteiligten streitige Frage des Bestehens von Versicherungspflicht/Mitgliedschaft in der GKV hat der
Senat in diesen Fragen dagegen nicht getroffen, weil damit die Hauptsache vorweggenommen würde, ohne dass dies zur Wahrung
der Rechte des Antragstellers aus Art.
2 Abs.
2 Satz 1
GG unumgänglich erforderlich wäre. Denn anders als hinsichtlich der Versagung einzelner Leistungen, auf die ein Antragsteller
dringend angewiesen ist, besteht seine Beeinträchtigung bei der Ablehnung der Versicherungspflicht/Mitgliedschaft bei einer
gesetzlichen Krankenkasse regelmäßig nur darin, dass ihm die nach dem
SGB V generell zustehenden Leistungen zu einem späteren Zeitpunkt zur Verfügung stehen, ohne dass sie dadurch für ihn grundsätzlich
an Wert verlieren, weil dem durch Artikel
2 Abs.
2 Satz 1
GG geforderten Rechtsschutz durch eine spätere Leistungsgewährung Rechnung getragen werden kann. Hinsichtlich der (vorläufigen)
Feststellung der Versicherungspflicht in der GKV hat der Senat deshalb vorläufigen Rechtsschutz wegen Fehlens eines Anordnungsgrundes
regelmäßig versagt (Senat, Beschluss vom 26. Mai 2010 - L 9 KR 144/10 B ER -, juris m.w.N.).
2.) Daran ist im Grundsatz festzuhalten. Eine (auch nur vorläufige) Feststellung der Versicherungspflicht in der GKV und einer
Mitgliedschaft bei einer (gesetzlichen) Krankenkasse scheidet aus den genannten Gründen im vorläufigen Rechtsschutzverfahren
auch weiterhin aus. Wird in Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes - wie im vorliegenden Fall - um Versicherungsschutz
dem Grunde nach gestritten, ist jedoch zu beachten, dass zur Feststellung eines Anordnungsanspruchs wegen der allgemeinen
Krankenversicherungspflicht nicht mehr über das Ob der Versicherung(spflicht), sondern nur über die Zuständigkeit des (gesetzlichen
oder privaten) Krankenversicherungsträgers zu entscheiden ist. Denn aufgrund der seit dem 1. Januar 2009 bestehenden Rechtslage
ist in Fällen der vorliegenden Art nicht (mehr) streitig, ob ein Antragsteller überhaupt einer Versicherungspflicht unterliegt
- diese ergibt sich zwingend aus §
5 Abs.
1 Nr.
13 SGB V oder § 193 Abs. 3 des Gesetzes über den Versicherungsvertrag (Versicherungsvertragsgesetz -VVG-) -, sondern nur, welcher (gesetzliche oder private) Versicherungsträger zur einstweiligen Durchführung der Krankenversicherung
zuständig ist (Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 06. Februar 2014 - L 9 KR 28/14 ER -, juris).
Folgerichtig darf die Gewährung von Leistungen der GKV auch im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes nicht mehr davon
abhängig gemacht werden, dass der Antragsteller seinen Leistungsbedarf nicht einmal vorübergehend aus eigenen bereiten Mitteln
oder denen unterhaltsverpflichteter Ehegatten oder Angehöriger beschaffen kann. Denn bei einer Verweisung auf bereite Mittel
würde man dem Antragsteller den ihm aus § 5 Abs. 1 Nr. 13 SGB bzw. § 193 Abs. 3 VVG in jedem Fall zustehenden Anspruch auf Versicherungsschutz gegen Krankheit bei einem Träger der privaten oder gesetzlichen
Krankenversicherung zumindest vorübergehend verweigern und ihn auf eine im Gesetz nicht vorgesehene Selbsthilfe verweisen.
Dies ist aber mit Sinn und Zweck der vorstehend genannten Vorschriften nicht zu vereinbaren. An dieser Einschränkung der Gewährung
vorläufigen Rechtsschutzes ist deshalb nicht länger festzuhalten. Vielmehr ist im vorläufigen Rechtsschutzverfahren im Versicherungsstreit
im Rahmen des Anordnungsanspruchs nur noch darüber zu entscheiden, ob die in Anspruch genommene Krankenkasse nach den bis
dahin bekannten Tatsachen bis zur rechtskräftigen Entscheidung im Hauptsacheverfahren zur Erbringung von Leistungen der Krankenversicherung
zuständig ist, und im Rahmen des Anordnungsgrundes, ob der Antragsteller auf die begehrten Leistungen zur Erhaltung von Leben,
Gesundheit und körperlicher Unversehrtheit vor der Entscheidung im Hauptsacheverfahren angewiesen ist.
3.) Auf der Grundlage dieser rechtlichen Überlegungen ist im Hinblick auf den derzeitigen Ermittlungsstand bis zum rechtskräftigen
Abschluss des Hauptsacheverfahrens die Antragsgegnerin zur Erbringung der erforderlichen krankenversicherungsrechtlichen Leistungen
zu verpflichten; denn sie ist zur einstweiligen Durchführung der Krankenversicherung der Antragstellerin zuständig und die
Antragstellerin ist als chronisch Kranke auf die Leistungen angewiesen. a) Nach § 193 Abs. 3 VVG ist jede Person mit Wohnsitz im Inland verpflichtet, bei einem in Deutschland zum Geschäftsbetrieb zugelassenen Versicherungsunternehmen
für sich selbst eine Krankheitskostenversicherung, die mindestens eine Kostenerstattung für ambulante und stationäre Heilbehandlung
umfasst und bei der die für tariflich vorgesehene Leistungen vereinbarten absoluten und prozentualen Selbstbehalte für ambulante
und stationäre Heilbehandlung für jede zu versichernde Person auf eine betragsmäßige Auswirkung von kalenderjährlich 5.000
Euro begrenzt ist, abzuschließen und aufrechtzuerhalten. Die Pflicht nach Satz 1 besteht u.a. nicht für Personen, die in der
GKV versichert oder versicherungspflichtig sind (Nr. 1) oder Empfänger laufender Leistungen nach dem Dritten, Vierten, Sechsten
und Siebten Kapitel des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch (SGB XII) sind für die Dauer dieses Leistungsbezugs und während Zeiten einer Unterbrechung des Leistungsbezugs von weniger als einem
Monat, wenn der Leistungsbezug vor dem 1. Januar 2009 begonnen hat (Nr. 4).
b) Nach ihren Angaben im Verwaltungsverfahren hat die Antragstellerin vom 01. Januar 2004 bis zum 27. August 2013 Leistungen
des Sozialhilfeträgers erhalten, die auch Leistungen des Dritten Kapitels des SGB XII (Hilfe zum Lebensunterhalt) umfassten. Dazu gehörte auch die Übernahme der Kosten der Krankenbehandlung der Antragstellerin
durch den Sozialhilfeträger, deren Leistungen gemäß §
264 SGB V von der Antragsgegnerin erbracht wurden, ohne dass dadurch ein Versicherungsverhältnis der Antragstellerin bei der Antragsgegnerin
in der GKV entstand. Eine Versicherungspflicht nach § 193 Abs. 3 VVG konnte deshalb erst mit dem 28. August 2013 beginnen und war davon abhängig, dass die Antragstellerin nicht in der gesetzlichen
Krankenversicherung versichert oder versicherungspflichtig war. Zur Abgrenzung der Zuständigkeit der gesetzlichen und der
privaten Krankenversicherung (PKV) kommt es damit auf die Mitgliedschaft der Antragstellerin oder ihre Versicherungspflicht
in der GKV an. Die Abgrenzung der Zuständigkeit eines gesetzlichen oder privaten Krankenversicherungsträgers ist deshalb dem
SGB V zu entnehmen.
c) Maßgebliche Vorschrift zur Abgrenzung der Zuständigkeit der PKV und der GKV ist §
5 Abs.
1 Nr.
13 SGB V. Danach sind versicherungspflichtige Personen, die keinen anderweitigen Anspruch auf Absicherung im Krankheitsfall haben
und zuletzt gesetzlich krankenversichert waren [a)] oder bisher nicht gesetzlich oder privat krankenversichert waren, es sei
denn, dass sie zu den in Absatz 5 oder den in § 6 Abs. 1 oder 2 genannten Personen gehören oder bei Ausübung ihrer beruflichen
Tätigkeit im Inland gehört hätten [b)]. Diese Voraussetzungen erfüllt die Antragstellerin nach dem Stand der derzeitigen Ermittlungen.
aa) Die Antragstellerin bezieht eine Alters- und eine Hinterbliebenenrente i.H.v. insgesamt 1.121,40 EUR und gehört deshalb
nicht zum Personenkreis der hauptberuflich Selbständigen, der Beschäftigten, deren regelmäßiges Jahresentgelt die Jahresarbeitsentgeltgrenze
übersteigt, oder derjenigen, die in einem öffentlich-rechtlichen Beschäftigungsverhältnis stehen (vgl. §
5 Abs.
5, §
6 Abs.
1 und
2 SGB V). Sie hat auch keinen Anspruch auf Absicherung im Krankheitsfall. Weder nach ihren eigenen Angaben noch den Feststellungen
der Antragsgegnerin war sie zu irgendeinem Zeitpunkt nach der staatlichen Vereinigung Deutschlands gesetzlich krankenversichert.
Dagegen hat sie angegeben, dass sie sich in einem nicht näher angegebenen Zeitraum ("nach der Wende") bei der Barmenia privat
krankenversichert habe. Aus ihren weiteren Angaben, seit Juni 2000 Leistungen des Sozialhilfeträgers erhalten zu haben, hat
die Antragsgegnerin geschlossen, dass die private Krankenversicherung bis zum Mai 2000 bestanden habe, obwohl die Antragstellerin
bereits in einem früheren Schreiben vom Mai 2007 angegeben hatte, bis Juli 2000 als mithelfendes Familienmitglied gearbeitet
zu haben und nicht krankenversichert gewesen zu sein. Entscheidend ist jedoch, dass die Barmenia der Antragstellerin in einem
Schreiben vom 13. März 2014 mitgeteilt hat, dass es keinen Hinweis auf eine Mitgliedschaft der Antragstellerin bei der Barmenia
gebe, weil weder die Antragstellerin noch die Barmenia zum heutigen Zeitpunkt noch über Unterlagen verfügten, die eine solche
Versicherung nachweisen könnten. Bis auf die z.T. in sich widersprüchlichen Behauptungen der Antragstellerin, (zu einem bisher
nicht genau feststellbaren Zeitpunkt) bei der Barmenia privat krankenversichert gewesen zu sein, gibt es also keine glaubhaften
Belege für eine solche Mitgliedschaft. Denn auch eine Nachfrage bei der Deutschen Rentenversicherung Bund im Juni 2014 gab
keinen Hinweis auf das Bestehen eines privaten Krankenversicherungsverhältnisses der Antragstellerin.
bb) Daraus kann nur der Schluss gezogen werden, dass sich das Bestehen einer privaten Krankenversicherung der Antragstellerin
in der Vergangenheit derzeit nicht feststellen lässt. Lässt sich das frühere Bestehen einer privaten Krankenversicherung nicht
feststellen, muss die Antragstellerin jedenfalls dann bis zur vollständigen Ermittlung des Sachverhalts im gerichtlichen Hauptsacheverfahren
so gestellt werden, als ob eine private Krankenversicherung niemals bestanden hat, wenn die private Krankenversicherung, bei
der ein früheres Versicherungsverhältnis bestanden haben soll, ihre Versicherung (im Basistarif) - wie hier - ablehnt. Dem
kann weder entgegengehalten werden, dass die Angaben der Antragstellerin zum früheren Bestehen einer privaten Krankenversicherung
glaubhaft seien, noch, dass sie die materielle Beweislast für den Tatbestand der Auffangversicherung des §
5 Abs.
1 Nr.
13 SGB V trage, weil sie daraus eine für sie günstige Rechtsfolge herleite, solange sich daraus die Folge ergäbe, dass sie - wenn
auch nur vorübergehend - entgegen dem eindeutigen gesetzgeberischen Zweck des §
5 Abs.
1 Nr.
13 SGB V und des § 193 Abs. 3 VVG ohne Krankenversicherungsschutz bliebe. In Fällen wie dem vorliegenden kommt deshalb der GKV im Hinblick auf die Fassung
von § 193 Abs. 3 VVG und §
5 Abs.
1 Nr.
13 SGB V die Funktion einer Auffangversicherung auch gegenüber der PKV zu. Dies reicht zur Feststellung eines Anordnungsanspruchs
aus.
cc) Das Sozialgericht muss im Hauptsacheverfahren die Barmenia beiladen und danach weitere Ermittlungen zum Bestehen eines
früheren Versicherungsverhältnisses der Antragstellerin und ggf. auch ihres (verstorbenen) Ehemannes anstellen. Dazu gehören
vor allem eine persönliche Anhörung der Antragstellerin selbst und ggf. auch die Beiziehung der Akten über die Gewährung von
Leistungen nach dem SGB XII in den Jahren ab 2000, weil sich daraus Anhaltspunkte für eine frühere private Krankenversicherung der Antragstellerin ergeben
könnten.
d) Die Antragstellerin ist auch auf sofortige Leistungen der GKV angewiesen. Sie hat angegeben, auf die Einnahme von Antikoagulantien
angewiesen und Stomaträgerin zu sein, so dass sie als chronisch Kranke nicht darauf verwiesen werden kann, zunächst das Hauptsacheverfahren
abzuwarten. Deshalb hat sie für die Verpflichtung der Antragsgegnerin zur Gewährung von Leistungen der GKV bis zum rechtskräftigen
Abschluss des Hauptsacheverfahrens auch einen Anordnungsgrund geltend machen können.
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus §
193 SGG und folgt dem Ausgang des Verfahrens. Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht angefochten
werden (§
177 SGG).