Zulässigkeit der vertragsärztlichen Verordnung eines Arzneimittels auf einem Privatrezept
Tatbestand:
Der Kläger begehrt die Versorgung mit bzw. die Kostenerstattung für Arzneimittel mit dem Wirkstoff Loperamid.
Der 1944 geborene Kläger leidet, bedingt durch belastende Lebenserfahrungen in den Jahren 1968 bis 1972 im Rahmen eines Ausreiseverfahrens
aus der damaligen DDR, an einer teilweise zu Stuhlinkontinenz führenden psychogenen, chronischen, schweren Diarrhö. Sie äußert
sich in plötzlichem, unkontrollierten Stuhlabgang, vor allem wenn der Kläger außer Haus ist oder das Haus gerade verlässt;
letzteres auch dann, wenn er zu Hause unmittelbar zuvor noch Stuhlgang hatte. Die ihn behandelnde Internistin, die Zeugin
Dr. S L. verordnet ihm daher zumindest seit Juni 2009 Loperamid-haltige Arzneimittel (u.a. "Imodium" und "Loperamid 1A Pharma")
auf Privatrezept. Ausweislich der Fachinformationen für diese Arzneimittel (Stand Mai 2008 bei "Imodium", Stand Juni 2010
bei "Loperamid 1 A Pharma") umfasst das Anwendungsgebiet die symptomatische Behandlung von Diarrhöen, sofern kein kausale
Therapie zur Verfügung steht, wobei eine langfristige Anwendung der ärztlichen Verlaufsbeobachtung bedarf. Loperamid ist ein
Antidiarrhoikum, welches den Tonus im Darm erhöht, die propulsive Peristaltik verhindert und die Stuhlentleerungsfrequenz
bei Diarrhöen reduziert.
Dem spätestens am 18. Juni 2009 bei der Beklagten eingegangenen Antrag des Klägers auf eine "Ausnahmegenehmigung für Loperamid"
entsprach die Beklagte nicht (Schreiben vom 10. Juli 2009). Den hiergegen gerichteten Widerspruch wies sie mit Widerspruchsbescheid
vom 08. Oktober 2009 zurück, da das Arzneimittel "Imodium" nach Anlage I zum Abschnitt F der Arzneimittel-Richtlinien (AM-RL)
des Gemeinsamen Bundesausschusses (GBA) nur eingeschränkt verordnungsfähig sei und keine entsprechende Indikation beim Kläger
vorliege.
Die hiergegen gerichtete Klage hat das Sozialgericht mit Urteil vom 11. August 2010 abgewiesen und zur Begründung u.a. ausgeführt:
Soweit der Kläger Erstattung der Kosten i.H.v. insgesamt 26,11 Euro für die bis einschließlich 11. Juli 2009 beschafften Medikamente
begehre, fehle es schon am erforderlichen Ursachenzusammenhang zwischen der Kostenlast und der ablehnenden Entscheidung der
Beklagten. Zudem sei ein sog. Primäranspruch nicht gegeben, weil Loperamid-haltige Arzneimittel nicht zum Leistungskatalog
der gesetzlichen Krankenversicherung gehörten. Es handele sich um nicht verschreibungspflichtige Arzneimittel, für die kein
Ausnahmetatbestand eingreife.
Gegen dieses ihm am 01. September 2010 zugestellte Urteil richtet sich die Berufung des Klägers vom 24. September 2010, zu
deren Begründung er hervorbringt: Loperamid sei entgegen anderer Behauptung ein verschreibungspflichtiges Medikament und als
Dauermedikament nicht frei verkäuflich. Das Sozialgericht habe von ihm eingereichte ärztliche Atteste nicht berücksichtigt
und sei seinem Beweisantrag nicht gefolgt. Deswegen stelle er außerdem einen Normenkontrollantrag. Seit Anfang September 2010
sei Loperamid aufgrund einer Nachbesserung der Arzneimittelrichtlinie verordnungsfähig. Die medizinische Besonderheit und
sein Gesundheitszustand seien nicht ausreichend gewürdigt worden. Von gewisser Lebensbedrohlichkeit sei auszugehen, weil es
zu einem Ausfall des Elektrolythaushaltes (Flüssigkeits- und Mineralstoffverlust) kommen könne.
Der Kläger beantragt sinngemäß,
1. das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 11. August 2010 aufzuheben und den Bescheid der Beklagten vom 10. Juli 2009 in
der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 08. Oktober 2009 aufzuheben,
2. die Beklagte zu verurteilen, an ihn 243,96 Euro zu zahlen,
3. die Beklagte zu verurteilen, ihn künftig mit Loperamid-haltigen Arzneimitteln zu versorgen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend und trägt ergänzend vor: Für die Zeit seit der Änderung der AM-RL am
17. Juni 2010 gelte, dass unverändert die Entscheidung über die vertragsärztliche Versorgung der Vertragsarzt treffe. Sollte
die Zeugin dennoch Hürden zur Entscheidungsfindung sehen, "sei ihr der Hinweis der zuständigen Kassenärztlichen Vereinigung
zu geben, unter deren Beratung sie ihre Verordnungsentscheidung treffen könne." Eine Entscheidung der Vertragsärztin sei möglich.
Eine Kostenübernahme für die hier strittigen Arzneimittel sei bereits durch die privatärztliche Verordnung ausgeschlossen.
Die Entscheidung darüber, ob ein Arzneimittel von der Krankenkasse zu bezahlen sei, treffe der Vertragsarzt, indem er ein
Kassenrezept verwende.
Der Berichterstatter hat im Erörterungstermin vom 22. August 2011 die Zeugin vernommen. Ferner hat der Senat deren Stellungnahmen
vom 26. Oktober 2011 und 25. Januar 2012 veranlasst.
Der Kläger hat zahlreiche Privatrezepte und Rechnungsbelege (Gesamtbetrag 243,96 €) für Loperamid-haltige Arzneimittel eingereicht.
Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme, des Sach- und Streitstandes im Einzelnen sowie wegen des weiteren Vorbringens der
Beteiligten wird auf die Gerichtsakte sowie die Verwaltungsakte der Beklagten, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren,
verwiesen.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Berufung ist teilweise begründet. Das Urteil des Sozialgerichts und die Bescheide der Beklagten erweisen sich
im Ergebnis teilweise als rechtswidrig. Denn der Kläger kann von der Beklagten die Erstattung der ihm ab dem 4. September
2010 entstandenen Kosten für Loperamid-haltige Arzneimittel sowie die künftige Versorgung hiermit verlangen.
I) Der auf Kostenerstattung gerichtete Antrag zu 2) ist zulässig und teilweise begründet.
Konnte die Krankenkasse eine unaufschiebbare Leistung nicht rechtzeitig erbringen oder hat sie eine Leistung zu Unrecht abgelehnt
bzw. sind den Versicherten für die selbst beschaffte Leistung Kosten entstanden, sind diese von der Krankenkasse in der entstandenen
Höhe zu erstatten, soweit die Leistung notwendig war (§
13 Abs.
3 Satz 1
SGB V). Diese Voraussetzungen sind im vorliegenden Fall für den Zeitraum vom 04. September 2010 bis zum 15. Februar 2012 - dem
Tag der mündlichen Verhandlung vor dem Senat - erfüllt (hierzu unter 3), im Übrigen jedoch nicht (hierzu unter 1 und 2).
1) Für die Kosten, die dem Kläger bis zum 10. Juli 2009 entstanden sind, ergibt sich die Unbegründetheit der Klage aus den
zutreffenden Ausführungen im Urteil des Sozialgerichts, auf die der Senat gem. §
153 Abs.
2 Sozialgerichtsgesetz (
SGG) verweist.
2) Für den anschließenden Zeitraum bis zum 3. September 2010 steht einem Kostenerstattungsanspruch des Klägers entgegen, dass
Loperamid-haltige Arzneimittel nicht zum Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung zählten. Denn die Voraussetzungen
von §
13 Abs.
3 Satz 1
SGB V sind auch dann nicht erfüllt, wenn - wie im vorliegenden Fall - bereits auf die Sachleistung kein Anspruch bestand.
a) Gemäß §
31 Abs.
1 SGB V haben Versicherte Anspruch auf Versorgung mit apothekenpflichtigen Arzneimitteln, soweit die Arzneimittel nicht nach §
34 SGB V oder durch Richtlinien nach §
92 Abs.
1 Satz 2 Nr.
6 SGB V ausgeschlossen sind. Gemäß §
92 Abs.
1 Satz 1, 1. Halbsatz
SGB V beschließt der GBA die zur Sicherung der ärztlichen Versorgung erforderlichen Richtlinien über die Gewährung für eine ausreichende,
zweckmäßige und wirtschaftliche Versorgung der Versicherten. Er soll nach Satz 2 Nr. 6 dieser Vorschrift insbesondere Richtlinien
beschließen über die Verordnung von Arznei-, Verband-, Heil- und Hilfsmitteln, Krankenhausbehandlung, häuslicher Krankenpflege
und Soziotherapie. Er kann dabei die Erbringung und Verordnung von Leistungen einschließlich Arzneimitteln oder Maßnahmen
einschränken oder ausschließen, wenn nach allgemein anerkanntem Stand der medizinischen Erkenntnisse der diagnostische oder
therapeutische Nutzen, die medizinische Notwendigkeit oder die Wirtschaftlichkeit nicht nachgewiesen sind sowie wenn insbesondere
ein Arzneimittel unzweckmäßig oder eine andere, wirtschaftlichere Behandlungsmöglichkeit mit vergleichbarem diagnostischen
oder therapeutischen Nutzen verfügbar ist (§
92 Abs.
1 Satz 2, 3. Halbsatz
SGB V in der bis zum 31. Dezember 2010 geltenden Fassung).
aa) In Umsetzung dieses gesetzlichen Auftrags hat der GBA mit der Neufassung der AM-RL mit Wirkung zum 1. April 2009 u.a.
folgende Regelungen getroffen:
§
16 Verordnungseinschränkungen und -ausschlüsse von Arzneimitteln nach §
92 Abs.
1 Satz 1 Halbsatz 3
SGB V
(1) Arzneimittel dürfen von Versicherten nicht beansprucht, von den behandelnden Ärztinnen und Ärzten nicht verordnet und
von Krankenkassen nicht bewilligt werden, wenn nach dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse
1. der diagnostische oder therapeutische Nutzen oder
2. die medizinische Notwendigkeit oder
3. die Wirtschaftlichkeit
nicht nachgewiesen ist.
(2) Diese Voraussetzungen treffen insbesondere zu, wenn
1. ein Arzneimittel unzweckmäßig ist,
2. eine andere, wirtschaftlichere Behandlungsmöglichkeit mit vergleichbarem diagnostischen oder therapeutischen Nutzen verfügbar
ist,
3. ein Arzneimittel nicht der Behandlung von Krankheiten dient oder die Anwendung aus medizinischen Gründen nicht notwendig
ist,
4. das angestrebte Behandlungsziel ebenso mit nichtmedikamentösen Maßnahmen medizinisch zweckmäßiger und/oder kostengünstiger
zu erreichen ist oder
5. an Stelle von fixen Wirkstoffkombinationen das angestrebte Behandlungsziel mit therapeutisch gleichwertigen Monopräparaten
medizinisch zweckmäßiger und/oder kostengünstiger zu erreichen ist.
(3) Die nach den Absätzen 1 und 2 in ihrer Verordnung eingeschränkten und von der Verordnung ausgeschlossenen Arzneimittel
sind in einer Übersicht als Anlage III der Arzneimittel-Richtlinie zusammengestellt.
Anlage III Nr. 12 der AM-RL
12. Antidiarrhoika,
a) ausgenommen Elektrolytpräparate zur Rehydratation bei Säuglingen, Kleinkindern und Kinder bis zum vollendeten 12. Lebensjahr
b) ausgenommen Saccharomyzes boulardii nur bei Kleinkindern und Kindern bis zum vollendeten 12. Lebensjahr zusätzlich zu Rehydratationsmaßnahmen
Den - abgesehen von den genannten Ausnahmen - generellen Ausschluss verschreibungspflichtiger Antidiarrhoika hat der GBA damit
begründet, dass Durchfallerkrankungen in der Regel selbstlimitierende Erkrankungen seien, die durch diätetische Maßnahmen
behandelt werden könnten (Erläuterung zum Beschluss des GBA über die Einleitung eines Stellungnahmeverfahrens zur Neufassung
der Arzneimittel-Richtlinie, S. 15, abrufbar unter http://www.g-ba.de/downloads/40-268-565/2008-03-13-AMR-SN-Neufassung_Erl.pdf).
bb) Nach diesen gesetzlichen Vorgaben konnte der Kläger für den Zeitraum vom 11. Juli 2009 bis 3. September 2010 von der Beklagten
nicht die Versorgung mit Loperamid-haltigen Arzneimittel beanspruchen.
(1) Allerdings zählen Loperamid-haltige Arzneimittel - entgegen der Darstellung des Sozialgerichts - zu den verschreibungspflichtigen
Arzneimitteln. Dies ergibt sich aus § 1 Nr. 1 der Arzneimittelverschreibungsverordnung, wonach Arzneimittel, die in der Anlage
1 zu dieser Verordnung bestimmte Stoffe oder Zubereitungen aus Stoffen sind, nur bei Vorliegen einer ärztlichen, zahnärztlichen
oder tierärztlichen Verschreibung abgegeben werden dürfen (verschreibungspflichtige Arzneimittel), soweit in den nachfolgenden
Vorschriften nichts anderes bestimmt ist. Anlage 1 zu dieser Verordnung benennt den Wirkstoff Loperamid ausdrücklich. Die
dort genannte Ausnahme für feste Zubereitungen zur oralen Anwendung bei akuter Diarrhö in Tagesdosen bis zu 12 mg und in Packungsgrößen
bis zu 24 mg, sofern auf Behältnissen und äußeren Umhüllungen angegeben ist, dass die Anwendung auf Erwachsene und Kinder
ab dem vollendeten 12. Lebensjahr beschränkt ist, ist im vorliegenden Fall nicht einschlägig, da der Kläger nicht an einer
akuten, sondern einer chronischen Diarrhö leidet.
(2) Somit unterfallen die vom Kläger eingenommenen Loperamid-haltigen Arzneimittel dem generellen Ausschluss von Antidiarrhoika
in Anlage III Nr. 12 der AM-RL. Die Voraussetzungen der in dieser Regelung vorgesehenen Ausnahmetatbestände sind beim Kläger
offenkundig nicht erfüllt.
b) Auch die Anwendung von §
31 Abs.
1 Satz 4
SGB V führt zu keinem anderen Ergebnis. Nach dieser Vorschrift, deren Inhalt §
16 Abs. 5 AM-RL wiederholt, kann der Vertragsarzt Arzneimittel, die auf Grund der Richtlinien nach §
92 Abs.
1 Satz 2 Nr.
6 SGB V von der Versorgung ausgeschlossen sind, ausnahmsweise in medizinisch begründeten Einzelfällen mit Begründung verordnen. Eine
Arzneimittelverordnung "mit Begründung" liegt im Falle des Klägers nicht vor. Weil der Gesetzgeber die Durchbrechung des vom
GBA vorgenommenen Verordnungsausschlusses nur unter sehr engen Voraussetzungen zulassen will ("ausnahmsweise", "in medizinisch
begründeten Einzelfällen", "mit Begründung"), geht der Senat davon aus, dass die Begründung i.S.v. §
34 Abs.
1 Satz 4
SGB V in unmittelbarem zeitlichen Zusammenhang mit der Verordnung abgegeben und nach außen kundgetan werden muss, z.B. indem sie
auf dem Verordnungsvordruck selbst enthalten ist oder diesem beigefügt oder zeitnah der betroffenen Krankenkasse übermittelt
wird. Würde es hingegen genügen, dass bei einer auf §
31 Abs.
1 Satz 4
SGB V gestützten vertragsärztlichen Verordnung die gesetzlich vorgeschriebene Begründung z.B. erstmals in einem viel später durchgeführten
Regressverfahren gegeben wird, unterschiede sich der Fall nicht von anderen Einzelverordnungsregressen, in denen typischerweise
die Verordnungsfähigkeit eines Arzneimittels erstmals im Verfahren der Wirtschaftlichkeitsprüfung (§
106 SGB V) geklärt wird. Das Tatbestandsmerkmal "mit Begründung" liefe dann leer.
c) Zutreffend hat das Sozialgericht auch darauf hingewiesen, dass die Voraussetzungen für eine grundrechtsorientierte Ausweitung
des Leistungskatalogs der gesetzlichen Krankenversicherung (BVerfG, Urteil vom 6. Dezember 2005, Az.: 1 BvR 347/98, veröffentlicht in Juris) nicht vorliegen. Auf die dortigen Ausführungen kann der Senat gem. §
153 Abs.
2 SGG verweisen. Das hierauf bezogene Vorbringen des Klägers im Berufungsverfahren ändert daran nichts. Allein die Möglichkeit,
dass Diarrhöen ab einer gewissen Häufigkeit und Schwere den Elektrolythaushalt gefährden und hierdurch ggf. eine lebensbedrohliche
Situation entstehen kann, genügt nicht. Denn gerechtfertigt ist eine verfassungskonforme Auslegung der einschlägigen gesetzlichen
Regelungen nur, wenn eine notstandsähnliche Situation im Sinne einer in einem gewissen Zeitdruck zum Ausdruck kommenden Problematik
vorliegt, wie sie für einen zur Lebenserhaltung bestehenden akuten Behandlungsbedarf typisch ist. Das bedeutet, dass nach
den konkreten Umständen des Falles bereits drohen muss, dass sich der voraussichtlich tödliche Krankheitsverlauf innerhalb
eines kürzeren, überschaubaren Zeitraums mit großer Wahrscheinlichkeit verwirklichen wird. Ähnliches kann für den ggf. gleichzustellenden,
nicht kompensierbaren Verlust eines wichtigen Sinnesorgans oder einer herausgehobenen Körperfunktion gelten (BSG, Urteil vom 14. Dezember 2006, Az.: B 1 KR 12/06 R, veröffentlicht in Juris).
3) Für die Zeit ab dem 4. September 2010 besteht allerdings ein Sachleistungsanspruch, sodass der Kläger für die bis zum 15.
Februar 2012 entstandenen und gegenüber dem Senat nachgewiesenen Kosten Erstattung von der Beklagten und für die Zukunft die
Versorgung mit Loperamid-haltigen Arzneimitteln verlangen kann.
a) Ab diesem Zeitpunkt stellt sich die Rechtslage insofern anders dar, als der GBA durch seinen Beschluss vom 17. Juni 2010
(BAnz. Nr. 133 [S. 3015] vom 3. September 2010), in Kraft getreten am 4. September 2010, Anlage III Nr. 12 der AM-RL um einen
weiteren Ausnahmetatbestand erweiterte. Nach Nr. 12 c bb der Anlage III sind seither vom generellen Verordnungsausschluss
ausgenommen auch Motilitätshemmer bei schweren und länger andauernden Diarrhöen, sofern eine kausale oder spezifische Therapie
nicht ausreichend ist. Allerdings bedarf nach Nr. 12 Satz 2 der Anlage III eine längerfristige Anwendung (über 4 Wochen) der
besonderen Dokumentation und Verlaufsbeobachtung. Als schwere Diarrhöen sind nach Auffassung des GBA "solche anzusehen, die
zu einem Anstieg der Stühle auf 7 und mehr pro Tag und/oder heftigen Krämpfen sowie Inkontinenz, was die Aktivitäten des täglichen
Lebens beeinträchtigt, führen oder solche, die bei Kolostomie-Patienten zu einer starken Zunahme von breiig wäßrigem Stuhlgang
führen, was die normalen Aktivitäten beeinträchtigt" (Tragende Gründe zum Beschluss des GBA über eine Änderung der AM-RL im
Anlage III Nr. 12 - Antidiarrhoika - vom 17. Juni 2010, S. 3, abrufbar unter http://www.g-ba.de/downloads/40-268-1256/2010-06-17_AM-RL3_Antidiarrhoika_TrG.pdf).
b) Die Voraussetzungen dieser weiteren Ausnahmeregelung sind im Falle des Klägers erfüllt.
aa) Denn die bei ihm bestehende chronische und somit länger andauernde Diarrhö stellt aufgrund der mit ihr verbundenen Inkontinenz
auch eine schwere Diarrhö i.S. dieser Ausnahmeregelung dar. Dass der Kläger auch an Darminkontinenz leidet und ihm Windelhosen
dauerhaft verordnet werden, ist der ihrer Stellungnahme vom 25. Januar 2012 auszugsweise beigefügten Patientenakte der Zeugin
zu entnehmen.
bb) Die längerfristige, d.h. mehr als 4 Wochen andauernde Anwendung Loperamid-haltiger Arzneimittel wird - wie von den AM-RL
und teilweise den Arzneimittel-Fachinformationen gefordert - im Falle des Klägers auch hinreichend dokumentiert und in ihrem
Verlauf beobachtet.
(1) Die Vorgaben des GBA zur vertragsärztlichen Dokumentation finden sich in § 10 AM-RL. Nach dessen Abs. 1 Satz 2 ist, soweit
die Verordnung von Arzneimitteln oder bei Arzneimittelgruppen die Verordnung für einzelne Arzneimittel aufgrund der jeweils
genannten Ausnahtatbestände zulässig ist, die Therapieentscheidung nach den Vorgaben der Übersicht nach § 16 Abs. 3 AM-RL
zu dokumentieren. Die Dokumentation erfolgt im Sinn von § 10 (Muster-)Berufsordnung für die deutschen Ärztinnen und Ärzte.
Im Regefall genügt die Angabe der Indikation und gegebenenfalls die Benennung der Ausschlusskriterien für die Anwendung der
wirtschaftlichern Therapiealternativen, soweit sich aus den Bestimmungen der Richtlinie nichts anderes ergibt (§ 10 Abs. 2
Sätze 1 und 2 AM-RL). § 10 Abs. 1 der in Bezug genommenen, von der Bundesärztekammer beschlossenen (Muster-)Berufsordnung
regelt folgendes: Ärztinnen und Ärzte haben über die in Ausübung ihres Berufes gemachten Feststellungen und getroffenen Maßnahmen
die erforderlichen Aufzeichnungen zu machen. Diese sind nicht nur Gedächtnisstützen für die Ärztin oder den Arzt, sie dienen
auch dem Interesse der Patientin oder des Patienten an einer ordnungsgemäßen Dokumentation.
(2) Diesen Anforderungen genügt die von der Zeugin vorgenommene Dokumentation und Verlaufsbeobachtung.
Ausweislich ihrer Stellungnahme vom 26. Oktober 2011 erhebe sie anlässlich der alle 6 bis 8 Wochen erfolgenden Praxistermine
des Klägers über die Beschwerdesymptomatik sowie die Stuhlfrequenz eine Anamnese, taste das Abdomen ab und stelle das Gewicht
fest; alle 3 Monate erfolgten Blutuntersuchungen, einmal jährlich ein Bauchultraschall. Die Ergebnisse dieser Untersuchungen
hat die Zeugin in der Patientenakte dokumentiert.
c) Dem Kostenerstattungsanspruch des Klägers steht - entgegen der Rechtsauffassung der Beklagten - nicht entgegen, dass die
begehrten Arzneimittel "nur" auf einem Privatrezept verordnet wurden.
aa) Ist ein Vertragsarzt unsicher, ob die von ihm für erforderlich gehaltene Medikation eines Versicherten mit den gesetzlichen
Regelungen des Krankenversicherungsrechts in Übereinstimmung steht, kann er - entsprechend den Regelungen in § 29 Abs. 11 BMV-Ä und § 15 Abs. 10 EKV-Ä - dem Versicherten ein Privatrezept ausstellen und es diesem überlassen, sich bei der Krankenkasse um Erstattung der Kosten
zu bemühen. Er kann aber auch zunächst selbst bei der Krankenkasse deren Auffassung als Kostenträger einholen und im Ablehnungsfall
dem Versicherten ein Privatrezept ausstellen. Ermöglicht der Vertragsarzt indessen nicht auf diese Weise eine Vorab-Prüfung
durch die Krankenkasse, sondern stellt er ohne vorherige Rückfrage bei dieser eine vertragsärztliche Verordnung aus und löst
der Versicherte diese in der Apotheke ein, so sind damit die Arzneikosten angefallen und die Krankenkasse kann nur noch im
Regresswege geltend machen, ihre Leistungspflicht habe nach den maßgeblichen rechtlichen Vorschriften nicht bestanden. Verhindert
ein Vertragsarzt durch den Weg der vertragsärztlichen Verordnung in medizinisch umstrittenen oder unklaren Fällen eine Vorab-Prüfung
durch die Krankenkasse und übernimmt er damit das Risiko, dass später die Leistungspflicht der Krankenkasse verneint wird,
so kann ein entsprechender Regress nicht beanstandet werden (vgl. BSG, Beschluss vom 31. Mai 2006, Az: B 6 KA 53/05 B, veröffentlicht in Juris). Die Verordnung von Arzneimitteln für Versicherte unter Verwendung eines Privatrezepts schließt
also entgegen der Rechtsauffassung der Beklagten (so aber auch noch: LSG für das Land Brandenburg, Urteil vom 16. April 2003,
Az.: L 4 KR 32/00, veröffentlicht unter www.sozialgerichtsbarkeit.de) deren Leistungsanspruch nicht von vornherein aus, sondern stellt vielmehr
eine von mehreren Möglichkeiten für den Vertragsarzt dar, bei Unsicherheit über den Leistungsumfang in der gesetzlichen Krankenversicherung
die von ihm für erforderlich gehaltene Medikation vorzunehmen und gleichzeitig ein Regressverfahren zu vermeiden. Hat der
Vertragsarzt hingegen eine vertragsärztliche Verordnung ausgestellt und diese dem Versicherten ausgehändigt, besteht für ihn
keine Möglichkeit mehr, die Verordnungsfähigkeit vorab klären zu lassen. Die Rechtsauffassung der Beklagten, die nach Kenntnis
des Senats von zahlreichen Krankenkassen geteilt wird, würde hingegen dazu führen, dass sich die Krankenkassen der Verantwortung
für die Versicherten im Bereich der Arzneimittelversorgung entziehen. Denn sie ist möglicherweise von der Absicht getragen,
eine Vorab-Prüfung möglichst zu umgehen und stattdessen den im Verhältnis zum Versicherten und damit auch unter Wettbewerbsaspekten
bequemeren Weg des vertragsärztlichen Regressverfahrens zu wählen.
bb) Daher ist auch nicht entscheidend, dass die Zeugin nach ihren Eintragungen in der Patientenakte davon ausging, dass auch
für die Zeit ab dem 4. September 2010 Loperamid-haltige Arzneimittel nicht zu Lasten der Beklagten verordnet werden könnten.
Denn diese Einschätzung war, wie die Zeugin anlässlich ihrer Vernehmung am 22. August 2011 zu erkennen gab, ihrer Unsicherheit
und der Furcht vor einem Regressverfahren der Krankenkasse geschuldet. Gerade diese Unsicherheit über die Verordnungsfähigkeit
ist aber nach der o.g. Rechtsprechung des BSG ein hinreichender Grund, Arzneimittel für Versicherte nur auf Privatrezept auszustellen.
d) Der Höhe nach ist der Erstattungsanspruch des Klägers beschränkt. Berücksichtigungsfähig sind nur Kosten i.H.v. 66,75 Euro
für diejenigen Loperamid-haltigen Arzneimittel, für die der Kläger bezogen auf den Zeitraum 4. September 2010 bis 15. Februar
2012 sowohl die ärztliche Verordnung als auch den von ihm verauslagten Kaufpreis nachgewiesen hat.
II) Der auf künftige Leistung gerichtete Antrag zu 3) ist zulässig und in vollem Umfang unbegründet.
1) Der Zulässigkeit dieses Leistungsantrags steht nicht entgegen, dass der Kläger nicht die Versorgung mit einem bestimmten
Arzneimittel begehrt, sondern die Versorgung mit Arzneimitteln, die einen bestimmten Wirkstoff enthalten (hier: Loperamid).
Dass der Antrag des Klägers nicht auf ein bestimmtes Arzneimittel gerichtet ist, ist prozessual unschädlich (vgl. zum Hilfsmittelbereich:
BSG, Urteil vom 7. Oktober 2010, Az.: B 3 KR 13/09 R, veröffentlicht in Juris), weil die Beteiligten nur um den Versorgungsanspruch nach §
31 SGB V dem Grunde nach, nicht aber um ein ganz bestimmtes Arzneimittel streiten und zu erwarten ist, dass bei einer rechtskräftigen
Verurteilung der Beklagten zur Versorgung des Klägers mit Loperamid-haltigen Arzneimitteln kein zusätzlicher Streit über das
jeweilige Präparat entsteht. Hierfür spricht, dass die Beklagte bislang einen Versorgungsanspruch des Klägers generell, d.h.
ohne Abstellen auf bestimmte Arzneimittel, ablehnt und die wechselnde Verordnung von "Imodium", "Loperamid 1A Pharma" und
anderen Loperamid-haltigen Arzneimitteln durch die Zeugin darauf schließen lässt, dass Loperamid-haltige Arzneimittel beim
Kläger gleich gut wirken und von ihm gleich gut vertragen werden.
2) Der Leistungsantrag ist auch begründet, weil ein Sachleistungsanspruch des Klägers auf Versorgung mit Loperamid-haltigen
Arzneimittel besteht (s. hierzu die Ausführungen unter I 3). Wegen des für die gesamte gesetzliche Krankenversicherung geltenden
Wirtschaftlichkeitsgebots (§
2 Abs.
1 und 4, §
12 Abs.
1 SGB V) ist die Leistungspflicht der Beklagten allerdings auf das kostengünstigste der vom Kläger vertragenen Loperamid-haltigen
Arzneimittel begrenzt.
3) Zur Klarstellung weist der Senat darauf hin, dass aufgrund der von ihm festgestellten Leistungspflicht der Beklagten Loperamid-haltige
Arzneimittel für den Kläger künftig - vorbehaltlich der Rechtskraft dieses Urteils - wieder auf "Kassenrezept", d.h. auf den
für die vertragsärztliche Versorgung vorgesehenen Vordrucken verordnet werden können, ohne dass die Zeugin (oder andere diese
Arzneimittel verschreibende Ärzte des Klägers) wegen dieser Verordnungen in Regress genommen werden darf. Denn der Leistungsanspruch
des Versicherten schließt einen Regressanspruch gegen den Vertragsarzt aus.
III) Nur soweit der Kostenerstattungs- und der Leistungsantrag - Anträge zu 2) und 3) - begründet sind, erweisen sich die
angegriffenen Bescheide der Beklagten im Ergebnis als rechtswidrig, sodass auch nur insoweit der auf Anfechtung gerichtete
Antrag zu 1) begründet ist.
IV) Die Kostenentscheidung beruht auf §
193 SGG und entspricht dem Ausgang des Rechtsstreits.