Kostenübernahme der gesetzlichen Krankenversicherung für Arzneimittel im Rahmen des Off-Label-Use; Behandlung von Erwachsenen
mit ADHS
Tatbestand:
Die Klägerin begehrt die Versorgung mit einem methylphenidathaltigen Arzneimittel. Methylphenidathaltige Arzneimittel wie
u. a. Equasym, Concerta, Ritalin oder Medikinet sind in Deutschland bzw. innerhalb der Europäischen Union (EU) insgesamt nur
zur Behandlung der Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Störung (ADHS) im Kindes- und Jugendalter zugelassen, nicht aber
bei Erwachsenen.
Die 1967 geborene, ihre 1996 geborene Tochter allein erziehende Klägerin bezieht Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem Dritten
Kapitel des Sozialgesetzbuches Zwölftes Buch (SGB XII). Unter Bezugnahme auf Stellungnahmen ihrer behandelnden Ärzte Dr. B
(Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie sowie für Kinderheilkunde) und Dr. K (Arzt für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie)
vom Januar 2005 beantragte sie am 30. August 2006 die Kostenübernahme für das Medikament "Concerta retard 18 mg" sowie die
Feststellung, dass dieses Medikament künftig als Sachleistung zu erbringen sei. Nachdem die Beklagte eine Stellungnahme des
Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung - MDK - (Frau Dr. S) veranlasst hatte, teilte sie der Klägerin mit Schreiben
vom 13. September 2006 mit, dass die vom Bundessozialgericht (BSG) aufgestellten engen Voraussetzungen für einen zulassungsüberschreitenden
Einsatz verkehrsfähiger Arzneimittel (sog. Off-Label-Use) im Falle der Klägerin nicht vorlägen. Weder sei eine in die frühe
Kindheit zurückgehende Kernsymptomatik einer ADHS nachgewiesen, noch seien die Behandlungsmöglichkeiten bzgl. der Begleiterkrankungen
(depressive Symptomatik, ausgeprägte emotional instabile Persönlichkeitsstörung) ausgeschöpft, noch liege für die Situation
einer spät einsetzenden ADHS im Erwachsenenalter eine qualifizierte Studienlage für die Langzeitanwendung vor, die ein ausgewogenes
Verhältnis von nachgewiesenem Nutzen zu vertretbaren Risiken belege. Außerdem sei die Behandlung bereits durch die Arzneimittelrichtlinien
Ziffer 20.1.l ohne Ausnahmeregelung ausgeschlossen. Den hiergegen gerichteten Widerspruch, mit dem die Klägerin die Gewährung
von Concerta retard 18 mg als Sachleistung sowie vorsorglich die Kostenerstattung für dieses Medikament gemäß §
13 Abs.
3 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (
SGB V) begehrte, wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 15. November 2006 mit im Wesentlichen gleich lautender Begründung
zurück.
Mit ihrer Klage hat die Klägerin geltend gemacht, sie sei auf ein Medikament mit dem Wirkstoff Methylphenidat angewiesen,
da ihre Lebensqualität anhaltend beeinträchtigt sei und sich ihre Erkrankung auch auf ihre Berufsperspektiven auswirke, da
die letzte Möglichkeit für die Erstellung ihrer Diplomarbeit unmittelbar bevorstehe. Der Nachweis der ADHS im Kindesalter
sei erbracht. Methylphenidat sei zur Behandlung der ADHS im Erwachsenenalter in mehreren europäischen Staaten zugelassen.
Erst durch ein methylphenidat-haltiges Medikament werde sie zum konzentrierten, aufmerksamen Arbeiten an dem Stoff der Diplomarbeit
sowie den notwendigen weiteren Fachprüfungen befähigt. Erste Ergebnisse der sog. "EMMA-Studie" der Medice Arzneimittel GmbH,
einer kontrollierten klinischen Prüfung der Phase III, seien auf einem Kongress am 24. November 2006 sowie in der Ärztezeitung
vom 13. Dezember 2006 veröffentlicht worden. Hieraus ergebe sich die Wirksamkeit von Methylphenidat auch bei ADHS im Erwachsenenalter.
Da das vom Gemeinsamen Bundesausschuss (GBA) mit Beschluss vom 20. Dezember 2005 mit einer Bewertung des Einsatzes von Methylphenidat
bei ADHS im Erwachsenenalter beauftragte Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) seine diesbezügliche
Tätigkeit noch nicht einmal aufgenommen habe, sei der Verweis auf eine abzuwartende Entscheidung des GBA der Klägerin nicht
länger zuzumuten.
Die Beklagte hat die angegriffenen Bescheide unter Hinweis auf zwei weitere Stellungnahmen des MDK verteidigt.
Das Sozialgericht hat Befundberichte der die Klägerin behandelnden Ärzte Dr. K vom 27. April 2007, Dr. B (Facharzt für Neurologie
und Psychiatrie) vom 18. Mai 2007, Dr. B (Facharzt für Nervenheilkunde) vom 15. Juni 2007 und Dr. N (Facharzt für Neurologie
und Facharzt für Psychiatrie) vom 06. Juli 2007 sowie eine Stellungnahme der J GmbH vom 07. September 2007 veranlasst. Mit
Urteil vom 27. November 2007 hat es die auf Kostenübernahme für ein Methylphenidat in retardierter Form enthaltendes Arzneimittel
gerichtete Klage abgewiesen, da die ADHS keine lebensbedrohliche Erkrankung sei und die Lebensqualität der Klägerin auch nicht
auf Dauer beeinträchtige.
Gegen dieses der Klägerin am 06. Dezember 2007 zugestellte Urteil richtet sich deren Berufung vom 07. Januar 2008 (Montag).
Die Klägerin bringt vor, während eines mehrwöchigen Aufenthalts in einer auf die Behandlung von ADHS bei Erwachsenen spezialisierten
Rehabilitationsklinik sei im Rahmen der intensiven ärztlichen Betreuung festgestellt worden, dass eine Kombination der Medikamente
Equasym retard 20 mg mit nicht retardiertem Methylphenidat (Methylphenidat Hexal 10 mg) eine bessere Wirkung erziele als die
Behandlung mit Concerta 18 mg. Insoweit verweist die Klägerin auf eine privatärztliche Verordnung dieser beiden Arzneimittel
durch Dr. B vom 07. Januar 2008 bzw. 18. Januar 2008. Entgegen den Feststellungen des Sozialgerichts lägen die Voraussetzungen
für einen Off-Label-Use in ihrem Falle vor. Sie sei durch ihre Erkrankung dergestalt in ihrer Lebensqualität beeinträchtigt,
dass sie nach den Feststellungen des Ärztlichen Dienstes der Agentur für Arbeit über eine Leistungsfähigkeit von weniger als
3 Stunden verfüge. Der zuständige Träger der Grundsicherung habe sich dafür eingesetzt, dass sie über Fondsmittel jedenfalls
bis zu einer Entscheidung des Sozialgerichts die Kosten für die Beschaffung des Medikaments erhalten habe. Wegen des dauerhaften
Verlustes der Arbeitsfähigkeit und der zusätzlich notwendigen Unterstützung durch Sozialarbeiter bei der Organisation des
Haushalts sei ihre Lebensqualität nachhaltig beeinträchtigt. Auch lägen veröffentlichte Studien der Phase III vor, welche
die Wirksamkeit von Methylphenidat belegten. Dieser Wirkstoff sei nach sämtlichen internationalen wie auch den Behandlungsleitlinien
der Bundesärztekammer der Wirkstoff der ersten Wahl für die Behandlung der ADHS bei Erwachsenen. ADHS sei eine schwerwiegende
chronische Krankheit, die unbehandelt latent lebensbedrohlich wirke. Unter Equasym retard 20 mg habe sich ihre Funktionsfähigkeit
erheblich verbessert. Sie habe im März 2008 ihre Diplomarbeit begonnen. Ihre Leistungen, ihr Durchhaltevermögen sowie ihr
Sozialverhalten hätten sich erheblich stabilisiert. Die Wirksamkeit von Methylphenidat werde durch zahlreiche - von der Klägerin
im Einzelnen benannte - Studien belegt. Auch aus der sog. Nikolausentscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG vom 06.
Dezember 2005) ergebe sich der streitgegenständliche Anspruch. Soweit sich der Staat bzw. die Gesetzliche Krankenversicherung
(GKV) zur Erfüllung ihrer Aufgaben der - ökonomischen Interessen folgenden - privaten Pharmaindustrie bedienten, seien sie
in Fällen eines Versagens des Systems gehalten, die notwendige Versorgung - nötigenfalls entgegen allgemeiner Ordnungsinteressen
- bereitzustellen. Leib, Leben und Gesundheit, der Schutz behinderter Menschen stellten Rechtsgüter dar, die gegenüber dem
Ordnungsinteresse an Medikamentensicherheit zurückzutreten habe.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 27. November 2007 und den Bescheid der Beklagten vom 13. September 2006 in Gestalt
des Widerspruchsbescheides vom 15. November 2006 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, sie mit dem Medikament Methylphenidat
Hexel 10 mg und Equasym retard 20 mg zu versorgen,
hilfsweise,
sie mit Medikamenten mit dem Wirkstoff Methylphenidat nach ärztlicher Verordnung zu versorgen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält das angegriffene Urteil für zutreffend.
Wegen des Sach- und Streitstandes im Einzelnen sowie wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakte
sowie die beigezogene Verwaltungsakte, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung war, verwiesen.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Berufung ist unbegründet. Im Ergebnis zu Recht hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Denn die angegriffenen
Bescheide stellen sich im Ergebnis ebenfalls als rechtmäßig dar. Die Klägerin hat derzeit keinen Anspruch gegenüber der Beklagten
auf Versorgung mit Equasym retard 20 mg, Methylphenidat Hexal 10 mg - dass die Klägerin Methylphenidat Hexel 10 mg beantragte,
beruht auf einem offensichtlichen Versehen - oder einem anderen methylphenidathaltigen Arzneimittel.
Gemäß §§ 27 Abs. 1 S. 1 und S. 2 Nr.
3,
31 Abs.
1 Satz 1 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (
SGB V) haben Versicherte Anspruch auf Versorgung mit apothekenpflichtigen Arzneimitteln, soweit die Arzneimittel nicht nach §
34 SGB V oder durch Richtlinien nach §
92 Abs.
1 Satz 2 Nr.
6 SGB V ausgeschlossen sind, und auf Versorgung mit Verbandmitteln, Harn- und Blutteststreifen. Diese Voraussetzungen liegen im Falle
der Klägerin nicht vor.
Um vom Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung erfasst zu sein, bedarf ein Fertigarzneimittel zur Anwendung
bei einem Versicherten grundsätzlich der arzneimittelrechtlichen Zulassung für das Indikationsgebiet, in dem es eingesetzt
wird. Fertigarzneimittel sind mangels Zweckmäßigkeit und Wirtschaftlichkeit (§
2 Abs.
1 Satz 1, §
12 Abs.
1 SGB V) nicht von der Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung nach §
27 Abs. 1 S. 3 Nr.
1 und
3, §
31 Abs.
1 S. 1
SGB V umfasst, wenn ihnen die erforderliche (§ 21 Abs. 1 Arzneimittelgesetz [AMG]) arzneimittelrechtliche Zulassung fehlt (ständige Rechtsprechung, vgl. hierzu und zum Folgenden Urteil des Senats vom
4. Juli 2007, L 9 KR 52/05, m.w.N. zur Rspr. des BSG, zitiert nach juris). Die Arzneimittel Equasym retard 20 mg und Methylphenidat Hexal 10 mg sind
zwar im Sinne der Krankenversicherung verordnungsfähige Arzneimittel, jedoch beschränkt sich ihre Zulassung auf die Anwendung
bei Kindern und Jugendlichen mit der Diagnose ADHS. Es hat weder in Deutschland noch innerhalb der Europäischen Union insgesamt
die erforderliche Arzneimittelzulassung für das Indikationsgebiet ADS/ADHS im Erwachsenenalter, für das es von der Klägerin
eingesetzt wird. Ausnahmsweise ist unter engen Voraussetzungen die Verordnung eines Arzneimittels zwar auch außerhalb des
nach den Bestimmungen des AMG vorgegebenen Zulassungsbereichs möglich, jedoch bestimmt § 29 Abs. 3 Nr. 3 AMG, dass die Erweiterung des Anwendungsbereiches eines Arzneimittels einer erneuten Zulassung bedarf, an der es bei den von
der Klägerin begehrten Arzneimitteln derzeit mangelt.
Die Klägerin kann die begehrten Arzneimittel auch nicht nach den Grundsätzen des so genannten Off-Label-Use beanspruchen.
Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts, der der Senat nach eigener Prüfung folgt, kann - abgesehen von Fällen einer
extrem seltenen Erkrankung (diese liegt hier nicht vor) - die Verordnung eines Arzneimittels in einem von der Zulassung nicht
umfassten Anwendungsgebiet grundsätzlich in Betracht kommen, wenn es um die Behandlung einer schwerwiegenden (lebensbedrohlichen
oder die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigenden) Erkrankung geht (erste Voraussetzung), wenn keine andere
Therapie verfügbar ist (zweite Voraussetzung) und wenn aufgrund der Datenlage die begründete Aussicht besteht, dass mit dem
betreffenden Arzneimittel ein Behandlungserfolg (kurativ oder palliativ) erzielt werden kann (dritte Voraussetzung).
Der Senat kann offen lassen, ob die Klägerin an einer schwerwiegenden Erkrankung in diesem Sinne leidet. Offen bleiben kann
auch, ob eine andere Therapie verfügbar ist. Denn jedenfalls fehlt es an der genannten dritten Voraussetzung für einen Off-Label-Use
zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung. Von einer "begründeten Erfolgsaussicht" kann dann ausgegangen werden, wenn
Forschungsergebnisse vorliegen, die erwarten lassen, dass das Arzneimittel für die betreffende Indikation zugelassen werden
kann. Dies kann angenommen werden, wenn entweder die Erweiterung der Zulassung bereits beantragt worden ist und Ergebnisse
einer kontrollierten klinischen Prüfung der Phase III (gegenüber Standard und Placebo) veröffentlicht worden sind und eine
klinisch relevante Wirksamkeit respektive einen klinisch relevanten Nutzen bei vertretbaren Risiken belegen oder außerhalb
eines Zulassungsverfahrens gewonnene Erkenntnisse veröffentlicht worden sind, die über Qualität und Wirksamkeit des Arzneimittels
in dem neuen Anwendungsbereich zuverlässige, wissenschaftlich nachprüfbare Aussagen zulassen und aufgrund derer in den einschlägigen
Fachkreisen Konsens über einen voraussichtlichen Nutzen in dem vorgenannten Sinne besteht. Von fachwissenschaftlichem Konsens
in diesem Sinne kann bereits dann nicht die Rede sein, wenn der Nutzen des Arzneimittels für die betreffende (neue) Indikation
jedenfalls auch beachtlichen Einwendungen unterliegt.
Der Senat hat nicht ermittelt, ob die pharmazeutischen Hersteller von Equasym retard 20 mg und Methylphenidat Hexal 10 mg
einen Antrag auf Erweiterung der Zulassung für die Indikation "ADHS im Erwachsenenalter" gestellt haben; auch die Klägerin
hat dies nicht behauptet. Denn fest steht jedenfalls, dass zum jetzigen Zeitpunkt keine Ergebnisse einer kontrollierten klinischen
Prüfung der Phase III (gegenüber Standard und Placebo) veröffentlicht worden sind, die eine klinisch relevante Wirksamkeit
respektive bzw. klinisch relevanten Nutzen bei vertretbaren Risiken belegen.
Im Übrigen sind auch keine außerhalb eines Zulassungsverfahrens gewonnenen Erkenntnisse veröffentlicht, die über Qualität
und Wirksamkeit des Arzneimittels in dem neuen Anwendungsbereich zuverlässige, wissenschaftlich nachprüfbare Aussagen zulassen.
Insbesondere kann nach bisheriger Datenlage nicht davon ausgegangen werden, dass derzeit in den einschlägigen Fachkreisen
Konsens über einen voraussichtlichen Nutzen in dem vorgenannten Sinne besteht (ebenso jüngst LSG Hamburg, Beschluss vom 14.
August 2008, L 1 B 258/08 ER KR; SG Düsseldorf, Urteil vom 5. März 2008, S 2 KA 84/07; zitiert jeweils nach juris). So hat etwa die Autorin Miriam Alexandra Maier in einer aktuellen, vom Senat ins Verfahren
eingeführten Dissertation zum Thema "Die Behandlung der adulten ADHS mit Methylphenidat versus Atomoxetin: systematische Review"
(2007) die Effektivität beider genannten Medikamente zur Behandlung der adulten ADHS untersucht (http://tobias-lib.ub.uni-tuebingen.de/volltexte/2007/3053/pdf/Doktorarbeit_ENDVERSION_27032007).
Sie hat hierbei zahlreiche Studien zu Methylphenidat ausgewertet und festgestellt, dass die Studien "Mängel wie kurze Dauer,
kleine Stichproben, fehlende Intention-To-Treat Analyse, uneinheitliche Ausschlusskriterien und ebensolche Messung der Response"
aufwiesen. Die Ergebnisse der Studien seien "weit gestreut und teilweise konträr". Das größte Problem bei der Auswertung habe
die uneinheitliche Messung der Response auf die Medikation dargestellt. Die Widersprüchlichkeit der Ergebnisse der Methylphenidatstudien
habe auch andere Reviewer vor Probleme gestellt. Es hätten sich zwar Hinweise auf die Effektivität der Behandlung der adulten
ADHS finden lassen, wobei die Effektivität von Atomoxetin besser untersucht sei, wenn man die methodischen Mängel der Studien
zu Methylphenidat in Rechnung stelle. Es müsse unter Berücksichtigung der Vorteile des Atomoxetins eine Ablösung des Methylphenidats
als Standardmedikation für die adulte ADHS in Erwägung gezogen werden (vgl. die Zusammenfassung auf S. 55-58 der Arbeit).
Die genannte Arbeit ist im vorliegenden Zusammenhang von besonderer Bedeutung, weil sie in der Auseinandersetzung um die Indikation
von Methylphenidat zur Behandlung der ADHS im Erwachsenenalter keine Partei ergreift, sondern sich als "Studie über Studien"
begreift und analysiert, dass die Studienlage uneinheitlich bis widersprüchlich sei. Gerade deshalb ist die Studie der Autorin
Maier, die keine erkennbaren methodischen Mängel enthält, für den Senat von besonderem Gewicht und gerade deshalb sieht der
Senat es als erwiesen an, dass ein fachwissenschaftlicher Konsens über den Nutzen von Methylphenidat für die Behandlung der
adulten ADHS jedenfalls derzeit nicht besteht; es gibt beachtliche Stimmen, die für einen solchen Nutzen sprechen, doch eben
auch nennenswerte Gegenstimmen.
Auch sonst ist keine gesicherte Datenlage ersichtlich, die den Rückschluss auf einen Behandlungserfolg mit methylphenidathaltigen
Medikamenten zur Behandlung der adulten ADHS zuließen. Der Gemeinsame Bundesausschuss hat am 20. Dezember 2005 beschlossen,
insoweit gemäß §
35 b Abs.
3 SGB V eine Expertengruppe (Off-Label im Fachbereich Neurologie/Psychiatrie) einzusetzen und diese mit der Erstellung von Bewertungen
zur Anwendung von Arzneimitteln außerhalb des zugelassenen Indikationsbereichs, u.a. für Methylphenidat bei ADHS im Erwachsenenalter,
beauftragt. Diese beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte gebildete Expertengruppe hat die Bearbeitung des
Auftrags derzeit jedoch im Hinblick auf entsprechende klinische Prüfungen seitens einzelner Hersteller methylphenidat-haltiger
Arzneimittel zurückgestellt. Die Zurückstellung basiert somit auf sachgerechten, nicht zu beanstandenden Erwägungen.
Etwas anderes ergibt sich auch nicht unter Berücksichtigung des Verfassungsrechts. Zwar hat das Bundesverfassungsgericht betont,
dass die Regelungen des Leistungsrechts der gesetzlichen Krankenversicherung zur Arzneimittelversorgung insbesondere dann
einer verfassungskonformen Auslegung bedürfen, wenn Versicherte an einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlich verlaufenden
Erkrankung leiden, bei der die Anwendung der üblichen Standardbehandlung aus medizinischen Gründen ausscheidet und andere
Behandlungsmöglichkeiten nicht zur Verfügung stehen (Beschluss vom 6. Dezember 2005, Az.: 1 BvR 347/98, BVerfGE 115, 25 = NJW 2006, 891). Diese auf den Grundrechten aus Art.
2 Abs.
1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip und Art.
2 Abs.
2 Satz 1
GG beruhenden Grundsätze sind auf den vorliegenden Fall jedoch nicht übertragbar, da die Erkrankung der Klägerin trotz ihrer
spürbaren Ausprägung nicht mit einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlich verlaufenden Erkrankung auf eine Stufe gestellt
werden kann oder etwa mit einer akut drohenden Erblindung eines Auges zu vergleichen wäre (vgl. hierzu Bundessozialgericht,
Urteil vom 19. Oktober 2004, B 1 KR 27/02 R, zitiert nach juris).
Die im letzten Schriftsatz der Klägerin detailliert aufgeführten medizinischen Literaturstellen führen zu keiner anderen Beurteilung.
Sämtliche von der Klägerseite zitierte medizinische Literatur wurde in der o.g. Tübinger Dissertation von M. A. Maier (2007)
bereits berücksichtigt, lediglich der erst 2008 veröffentlichte Beitrag von Medori u.a. konnte naturgemäß nicht verarbeitet
werden. Da sich diese Veröffentlichung jedoch nach dem Vorbringen der Klägerseite nur mit der Frage befasste, ob die Langzeitanwendung
von Methylphenidat kardiovaskuläre Risiken mit sich bringe (und dies verneinte), fehlt es nach wie vor an einem Nachweis der
Wirksamkeit von Methylphenidat bei adulter ADHS.
2. Auch der Hilfsantrag bleibt ohne Erfolg. Keines der weiteren in Deutschland zur Behandlung der ADHS bei Kindern und Jugendlichen
zugelassene, methylphenidat-haltige Arzneimittel - zu nennen sind insoweit Concerta, Medikinet, Ritalin, Methylphenidat 1
A Pharma und Methylpheni TAD, teilweise in unterschiedlichen Dosen - ist zugleich zur Behandlung der adulten ADHS zugelassen.
Für keines dieser Arzneimittel besteht der für einen Off-Label-Use erforderliche wissenschaftliche Konsens im o.g. Sinne.
Die Revision ist nicht zuzulassen, weil Zulassungsgründe nach §
160 Abs.
2 SGG nicht vorliegen.