Übernahme der Kosten für die medizinische Versorgung mit Cannabinoiden
Nichtausschöpfung therapeutischer Optionen
Fehlende ärztliche Begründung zur Notwendigkeit einer Versorgung mit Cannabis
Gründe
Die am 9. Dezember 2020 erhobene Beschwerde gegen den der Antragstellerin am 9. November 2020 zugestellten Beschluss des Sozialgerichts,
mit dem die Antragstellerin ihr Begehren, die Antragsgegnerin zu verpflichten, bis zur Entscheidung in dem beim Sozialgericht
Frankfurt/Oder anhängigen Hauptsacheverfahren S 42 KR 869/19 der Antragstellerin vorläufig Leistungen nach §
31 Abs.
6 Fünftes Buch/Sozialgesetzbuch (
SGB V) zu gewähren und die diesbezüglichen Kosten für die medizinische Versorgung mit Cannabinoiden zu übernehmen, bleibt ohne
Erfolg.
Das Sozialgericht hat zutreffend darauf hingewiesen, dass es für den begehrten Erlass einer einstweiligen Anordnung bereits
an der Glaubhaftmachung eines Anordnungsanspruchs i.S. eines materiellen Anspruchs auf Versorgung gemäß §
31 Abs.
6 SGB V fehlt. Die Anspruchsgrundlage gewährt einen Anspruch auf Versorgung mit „Cannabis in Form von getrockneten Blüten oder Extrakten
in standardisierter Qualität und auf Versorgung mit den Wirkstoffen Dronabinol oder Nabilon“, wenn die weiteren Voraussetzungen
(Nr. 1 lit a) oder b) oder Nr. 2) vorliegen.
1. Ein Anspruch auf Versorgung mit Cannabidiol, wie ihn die Antragstellerin im Verwaltungsverfahren primär, wenn nicht sogar
ausschließlich verfolgte, wird von §
31 Abs.
6 SGB V unter keinen Umständen getragen. Der in der Norm verwendete Begriff „Cannabis“ meint nur solche Cannabisblüten und -extrakte,
die zumindest die betäubungsmittelrechtlichen Anforderungen erfüllen. Das ergibt sich aus der Gesetzesgeschichte sowie Sinn
und Zweck. §
31 Abs.
6 SGB V wurde mit dem Gesetz zur Änderung betäubungsmittelrechtlicher und anderer Vorschriften mit Wirkung zum 10. März 2017 in das
SGB V eingefügt. Die Änderung steht im Zusammenhang mit der gleichzeitig erfolgten Änderung von § 1 der Betäubungsmittel-Verschreibungsverordnung (BtMVV). Nach § 1 Abs. 1 BtMVV in der bis dahin geltenden Form konnte Cannabis in Form von getrockneten Blüten nicht verschrieben werden, denn dies war
zu medizinischen Zwecken nur für Zubereitungen erlaubt. Cannabis war weder als getrocknete Blüten noch als Fertigarzneimittel
eine Zubereitung, sondern ein (Rein-)Stoff. Mit einer Ausnahmeerlaubnis des BfArM nach § 3 Absatz 2 BtMG a.F. war für die Behandlung einiger Patientengruppen erlaubt, Cannabis zu medizinischen Zwecken in Form von getrockneten
Blüten nach Deutschland einzuführen oder einen Cannabisextrakt in Deutschland herzustellen und in Apotheken abzugeben. Mit
der Neuregelung des Betäubungsmittelrechts zum 10. März 2017 wurde die Therapie mit getrockneten Blüten und Extrakten in die
ärztliche Verantwortung gegeben, indem eine entsprechende Verschreibungsfähigkeit hergestellt wurde. Die parallele Neuregelung
in §
31 SGB V schuf dazu für Versicherte in eng begrenzten Ausnahmefällen einen Anspruch auf Versorgung (BT-Drs. 18/8965, S. 23 und 25).
Das gilt nach der Gesetzesbegründung aber nur „für solchen Cannabis in Form von getrockneten Blüten, der die betäubungsmittelrechtlichen
sowie arzneimittel- und apothekenrechtlichen Anforderungen erfüllt und von der jeweiligen Ärztin bzw. dem jeweiligen Arzt
verordnet wurde.“ Aus der systematischen Stellung des §
31 Abs.
6 SGB V in der Vorschrift über die Versorgung „mit Arzneimitteln“ ergibt sich zudem, dass als verordnungsfähige Cannabis-Produkte
nur Arzneimittel in Betracht kommen. Damit werden z.B. Nahrungsergänzungsmittel ausgeschlossen.
Ausgehend davon begehrte die Antragstellerin im gesamten Verwaltungsverfahren die Kostenübernahme für eine „Cannabidiol-Medikation“
bzw. „CBD“ oder berief sich zumindest konkret auf „CBD-Öl Adrexol 4%“. Auch die Stellungnahmen von Dr. J bezogen sich auf
CBD. Solche Stoffe unterfallen nicht dem Cannabis-Begriff des §
31 Abs.
6 SGB V, da sie keine Betäubungsmittel sind. Das Rezeptur-Arzneimittel „Ölige Cannabidiol-Lösung 50mg/mL/100 mg/ml“ (NRF 22.10) enthält
die Bestandteile Cannabidiol und mittelkettige Triglyceride, es enthält kein Tetrahydrocannabinol (THC), damit die berauschende
Substanz der Pflanzen der Gattung Hanf (Cannabis).
2. Bei den von der Antragstellerin nach eigenen Angaben bereits im Selbstversuch mit Erfolg angewendeten CBD-Tropfen, z.B.
Adrexol CBD 4 % Tropfen, handelt es sich auch nicht um ein Arzneimittel i.S. des §
31 SGB V, sondern ein Nahrungsergänzungsmittel. Dieses lässt sich rezeptfrei sowohl in Online-Apotheken als auch in Drogerie-Märkten
(mittlerweile nur online) erwerben. Darüber hinaus enthält auch dieses einen THC-Anteil von weniger als 0,05 % und ist deshalb
nicht psychoaktiv (vgl. Medizinische Informationen zu Adrexol CBD 4% Tropfen, www.holland-apo.de). Gleiches gilt für artverwandte
Produkte, die online von Drogerieketten vertrieben werden (vgl. nur CBD-Öl 5 % des Herstellers HANFAMA, frei erhältlich bei
der Drogeriekette dm, www.dm.de).
3. Soweit die Antragsgegnerin auch eine Versorgung mit Cannabinoiden abgelehnt hat (so im Widerspruchsbescheid) und die Antragstellerin
eine solche Versorgung mit ihrem Eilantrag explizit auch begehrt, d.h., Cannabis in Form von getrockneten Blüten oder Extrakten,
so hat sie deshalb keinen Anspruch glaubhaft gemacht, weil es dafür zumindest an einer in ihrem Einzelfall begründeten Einschätzung
der behandelnden Vertragsärztin oder des behandelnden Vertragsarztes mangelt. Nach dem eindeutigen Wortlaut der Norm hat die
behandelnde Vertragsärztin unter Abwägung der zu erwartenden Nebenwirkungen und unter Berücksichtigung des Krankheitszustandes
der oder des Versicherten begründet darzulegen, warum eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende
Leistung nicht zur Anwendung kommen kann. Zwar kommt der behandelnden Vertragsärztin insoweit nach der Intention des Gesetzes
eine Einschätzungsprärogative zu. Jedoch setzt diese voraus, dass eine im Einzelfall begründete Einschätzung des behandelnden
Vertragsarztes vorliegt (Beschluss des Senats vom 27. Mai 2019 – L 9 KR 72/19 B ER –, Rn. 7, juris).
Dies ist hier nicht der Fall. Die im Verwaltungsverfahren vorgelegten ärztlichen Stellungnahmen beziehen sich zum Teil nur
auf CBD. Der Befundbericht Dr. J vom 12. März 2019 empfiehlt allein eine Cannabidiol-Medikation, also gerade keine Cannabis-Versorgung.
Dr. J begründet im Übrigen im Verwaltungsverfahren weder, warum die therapeutischen Optionen für die Antragstellerin ausgeschöpft
sein sollen, noch begründet er, woraus sich seiner Meinung nach ergibt, dass mit einer Cannabis-Versorgung eine nicht ganz
entfernt liegende Aussicht auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf oder auf schwerwiegende Symptome
besteht. Als seine Auffassung stützende Literatur benennt er eine nicht näher benannte Veröffentlichung des Springer-Verlags
aus dem 2018. Ausführungen dazu, ob und warum die Antragstellerin seiner Auffassung nach austherapiert ist, tätigt er nicht,
sondern behauptet in dem Arztfragebogen lediglich pauschal, dass die „bisherigen Therapieoptionen erschöpft“ seien.
Auch im erstinstanzlichen Verfahren oder mit der Beschwerde wurden keine ärztlich begründeten Einschätzungen nachgereicht.
Ausweislich des Entlassungsberichts der Immanuel-Diakonie vom 15. August 2018 wurde der Antragstellerin eine psychosomatische
Rehabilitation und ein beruflicher Wiedereinstieg über das Hamburger Modell empfohlen. Die Befundberichte, die vom Sozialgericht
in der Hauptsache S 42 KR 869/19 aus dem ebenfalls beim Sozialgericht anhängigen Rentenstreitverfahren S 6 R 17/20 und der Verwaltungsakte der Deutschen Rentenversicherung Berlin-Brandenburg beigezogen wurden, geben naturgemäß keine ärztliche
Begründung gerade zur Notwendigkeit der Cannabis-Versorgung ab.
Es kann nach derzeitigem Sachstand offen bleiben, ob, wie das Sozialgericht meint, bei der Antragstellerin auch keine schwerwiegenden
Erkrankung vorliegt.
Diese Entscheidung ist nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht anfechtbar (§
177 SGG).