Vorläufige Versorgung mit dem Hörsystem Siemens Pure Binax 5bx
Unmittelbarer Behinderungsausgleich
Gründe:
Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 4. Oktober 2016 hat keinen Erfolg. Zu
Recht hat das Sozialgericht den Eilantrag zurückgewiesen.
1. Der Antragsteller begehrt die Verpflichtung der Antragsgegnerin im Wege einstweiliger Anordnung, ihn eigenanteilsfrei mit
dem Hörsystem Siemens Pure Binax 5bx zu versorgen. Im Hinblick auf dieses Hörgerät, das nach einem Kostenvoranschlag der Firma
G. Hörzentrum in Leipzig zu einem Betrag von 3.919,02 Euro (Kassenanteil 1.534,02 Euro, Eigenanteil 2.405,00 Euro) veräußert
wird, ist jedoch noch kein Verwaltungsverfahren durchgeführt worden. Der Bescheid der Beklagten vom 29. November 2013 in der
Fassung des Widerspruchsbescheides vom 22. Januar 2015 betrifft nämlich das vom Kläger seinerzeit begehrte Hörgerät Widex
Clear 220 c2-FS. Ihre ablehnende Entscheidung begründete die Antragsgegnerin hier im Wesentlichen mit einem Vergleich der
mit dem Gerät Widex Clear 220 c2-FS und dem eigenanteilsfreien Gerät Starkey Ignite 20 BTE 13 jeweils erzielten Messwerte
im Rahmen des Freiburger Sprachtests.
Dem nunmehrigen Wunsch, mit dem Gerät Siemens Pure Binax 5bx versorgt zu werden, liegen der Umzug des Antragstellers nach
Leipzig, eine neue vertragsärztliche Verordnung vom 5. Januar 2016 sowie die Konsultation eines neuen Hörgeräteakustikers
zugrunde. Nunmehr wird die Antragsgegnerin die Messergebnisse für das Gerät Siemens Pure Binax 5bx einerseits und für ein
eigenanteilsfreies Gerät andererseits zu würdigen haben. Dies ist bislang weder in dem anhängigen Klageverfahren noch im Eilverfahren
erfolgt. Anderes könnte nur gelten, wenn die Antragsgegnerin den Antragsteller in ihren vorangegangenen Bescheiden kategorisch
auf den Festbetrag verwiesen hätte, ohne die individuellen Messwerte für das begehrte Hörgerät in die Entscheidung einzubeziehen.
Denn dann hätte die Antragsgegnerin entschieden, den Antragsteller grundsätzlich nur mit einem Festbetragsgerät versorgen
zu wollen. So lag es hier aber gerade nicht, denn richtiger Weise hat die Antragsgegnerin ihrem Widerspruchsbescheid eine
Würdigung der Messwerte der seinerzeit getesteten Geräte zugrunde gelegt. Deshalb steht es dem Antragsteller nicht frei, seinen
Versorgungswunsch beliebig zu ändern und ein Eilverfahren zu betreiben.
2. Diese Beschwerde gegen den Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 4. Oktober 2016 ist unbegründet, denn ein Anordnungsanspruch
ist nicht hinreichend glaubhaft gemacht (vgl. §
86b Abs.
2 Sätze 2 und 4
Sozialgerichtsgesetz [SGG]) i.V.m. §
920 Abs.
2 Zivilprozessordnung [ZPO]).
Nach §
33 Sozialgesetzbuch/Fünftes Buch (
SGB V) haben Versicherte Anspruch auf Versorgung mit Hörhilfen, Körperersatzstücken, orthopädischen und anderen Hilfsmitteln, die
im Einzelfall erforderlich sind, um den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern, einer drohenden Behinderung vorzubeugen oder
eine Behinderung auszugleichen. Wie in allen anderen Bereichen der Leistungsgewährung der gesetzlichen Krankenversicherung
auch, müssen die Leistungen nach §
33 SGB V ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sein; sie dürfen das Maß des Notwendigen nicht überschreiten. Leistungen, die
nicht notwendig oder unwirtschaftlich sind, können Versicherte nicht beanspruchen, dürfen die Leistungserbringer nicht bewirken
und die Krankenkassen nicht bewilligen (§
12 Abs.
1 SGB V).
Da mit den Hörgeräten der Ausgleich der Behinderung erfolgen soll, indem die beim Antragsteller eingeschränkte Hörfähigkeit
künstlich verbessert wird, hat die Prüfung des Anspruchs anhand des §
33 Abs.
1 Satz 1, dritte Alternative
SGB V zu erfolgen. Im Vordergrund steht daher der Ausgleich der ausgefallenen oder beeinträchtigten Körperfunktion selbst. Bei
diesem unmittelbaren Behinderungsausgleich gilt das Gebot eines möglichst weitgehenden Ausgleichs des Funktionsdefizits, und
zwar unter Berücksichtigung des aktuellen Stands des medizinischen und technischen Fortschritts. Die gesonderte Prüfung, ob
ein allgemeines Grundbedürfnis des täglichen Lebens betroffen ist, entfällt, weil sich die unmittelbar auszugleichende Funktionsbeeinträchtigung
selbst immer schon auf ein Grundbedürfnis bezieht; die Erhaltung bzw. Wiederherstellung einer Körperfunktion ist als solche
ein Grundbedürfnis. Dabei kann die Versorgung mit einem fortschrittlichen, technisch weiterentwickelten Hilfsmittel nicht
mit der Begründung abgelehnt werden, der bisher erreichte Versorgungsstandard sei ausreichend, solange ein Ausgleich der Behinderung
nicht vollständig im Sinne des Gleichziehens mit einem nicht behinderten Menschen erreicht ist. Die Wirtschaftlichkeit eines
dem unmittelbaren Behinderungsausgleich dienenden Hilfsmittels ist grundsätzlich zu unterstellen und erst dann genauer zu
prüfen, wenn zwei tatsächlich gleichwertige, aber unterschiedlich teure Hilfsmittel zur Wahl stehen.
Es spricht viel dafür, dass mit einer stattgebenden Entscheidung des Senats eine endgültige Vorwegnahme der Hauptsache verbunden
wäre, weil der vom Antragsteller geltend gemachte Versorgungsanspruch nicht nur in vollem Umfang erfüllt würde, sondern die
einstweilige Versorgung für die Antragsgegnerin auch nicht ohne eine erhebliche Kostenbelastung rückgängig zu machen wäre.
Denn die von der Antragsgegnerin zu finanzierenden und für den Antragsteller individuell anzupassenden Hörgeräte könnten aus
hygienischen Gründen im Falle des Unterliegens des Antragstellers im Hauptsacheverfahren nicht mehr für andere Versicherte
verwendet werden. Die Antragsgegnerin wäre deshalb in diesem Fall auf den Weg des Schadensersatzes nach §
935 ZPO verwiesen, der bei so teuren Hilfsmitteln wie im vorliegenden Fall (3.919,02 Euro) regelmäßig nur schwer durchzusetzen wäre.
Deshalb sind an das Vorliegen der Voraussetzungen eines Anordnungsanspruchs im einstweiligen Verfahren die gleichen Anforderungen
zu stellen wie für einen Anspruch in einem Hauptsacheverfahren, zumal der Antragsteller bei einer stattgebenden einstweiligen
Entscheidung an der Durchführung eines solchen Hauptsacheverfahrens wegen der vollen Vorwegnahme der Hauptsache kein Interesse
mehr haben dürfte, so dass eine endgültige Klärung der zwischen den Beteiligten streitigen Rechtsfrage für die Antragsgegnerin
nur schwer zu erlangen wäre (vgl. Beschluss des Senats vom 11. November 2014, L 9 KR 323/14 B ER, zitiert nach juris, dort Rdnr. 3 bis 5, m.w.N.).
Ob der Antragsteller einen Anspruch auf Versorgung mit dem Gerät Siemens Pure Binax 5bx hat, wird im Hauptsacheverfahren zu
klären sein. Nach Lage der Akten hat der Senat durchaus Zweifel am Bestehen des geltend gemachten Anspruchs: Denn mit dem
Festbetragsgerät Starkey Ignite 20 BTE 13 hat der Antragsteller im Februar 2014 beim Freiburger Sprachtest ein Sprachverstehen
von 80 % und unter Hinzunahme von 60dB Störschall ein Sprachverstehen von 35 % erreicht. Demgegenüber hat eine Messung im
Juni 2016 ergeben, dass der Antragsteller mit dem begehrten Gerät Siemens Pure Binax 5bx schlechtere Werte erreicht hat, nämlich
im Freifeld bei Nutzschall von 65dB ein Sprachverstehen von 75 % und unter Hinzunahme von 60dB Störschall ein Sprachverstehen
von 20 %. Dafür, dass der Freiburger Sprachtest ein von vornherein ungeeignetes Testverfahren darstellt, sieht der Senat zwar
keinen durchgreifenden Anhaltspunkt. Was allerdings aus den unterschiedlichen Messergebnissen folgt, wird aufzuklären sein,
denn das Hörvermögen des Antragstellers hat sich nach Lage der Akten zwischen Februar 2014 und Juni 2016 verschlechtert, so
dass die zu verschiedenen Zeitpunkten mit verschiedenen Geräten durchgeführten Tests nur bedingt vergleichbar sind. Im Verwaltungs-
bzw. im Hauptsacheverfahren muss daher zur Klärung der medizinischen und technischen Fragen gegebenenfalls ein medizinischer
Sachverständiger und/oder ein sachverständiger Hörgeräteakustiker eingeschaltet werden, damit über den Versorgungsanspruch
des Antragstellers abschließend entschieden werden kann.
Ist ein Anspruch auf Versorgung mit dem begehrten Gerät danach derzeit nicht belegt, ergibt sich ein Anordnungsanspruch auch
nicht unter dem Aspekt der Folgenabwägung (vgl. dazu den Beschluss des Senats vom 11. November 2014, a.a.O. Rdnr. 7). Dabei
lässt sich der Senat von folgenden Überlegungen leiten: Die Antragsgegnerin ist bereit, den Antragsteller mit dem getesteten
zuzahlungsfreien Gerät Starkey Ignite 20 BTE 13 zu versorgen, das nach Lage der Akten im Rahmen des Freiburger Sprachtests
die besten Messwerte aller drei getesteten Geräte erzielt hat. Vor diesem Hintergrund ist es dem Antragssteller bis zum Abschluss
des Hauptsacheverfahrens zuzumuten, von dieser Bewilligung Gebrauch zu machen, die bewilligten Hilfsmittel anzunehmen und
seinen Versorgungsanspruch mit der von ihm gewünschten Alternativversorgung in einem Hauptsacheverfahren weiterzuverfolgen.
Denn es ist nicht erkennbar, dass er in diesem Fall schwerwiegenden, nicht wieder rückgängig zu machenden Nachteilen ausgesetzt
wäre. Die im Schriftsatz vom 24. Juni 2016 dargestellten Geräuschnachteile beziehen sich nicht auf dieses Gerät. Entspräche
die von ihm gewünschte Versorgung mit dem Gerät Siemens Pure Binax 5bx dagegen tatsächlich dem aktuellen Stand des medizinischen
und technischen Fortschritts und wäre nur sie ausreichend i.S.d. §
12 SGB V, hätte die Antragsgegnerin den Leistungsanspruch mit der Zurverfügungstellung eines anderen zum Festbetrag erhältlichen Hilfsmittels
nicht erfüllt mit der Folge, dass er trotz anderweitiger Versorgung dessen Erfüllung weiterhin verlangen könnte. Demgegenüber
würde die Verpflichtung der Antragsgegnerin zur Leistung im einstweiligen Rechtsschutzverfahren zu den oben bereits beschriebenen,
für sie nur schwer rückgängig zu machenden Nachteilen führen, so dass ihren Interessen deshalb hier der Vorrang zukommt.
Die Kostenentscheidung beruht auf §
193 SGG.
Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht angefochten werden (§
177 SGG).