Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II; Mehrbedarf wegen kostenaufwändiger Ernährung bei frühkindlichem Autismus
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten um die Gewährung eines Mehrbedarfes wegen kostenaufwendiger Ernährung in der Zeit vom 01.06.2009
bis zum 30.11.2009.
Der am 2001 geborene Kläger lebt mit seinen Eltern N und U L sowie seinem Bruder K (geboren 1998) in einer Bedarfsgemeinschaft
im Sinne des Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II). Der Kläger ist an einem seit 2005 bekannten frühkindlichen Autismus erkrankt.
Die Familie bezog im streitigen Zeitraum Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II.
Bis einschließlich Mai 2009 hatte der Beklagte dem Kläger Mehrbedarf für kostenaufwendige Ernährung in Höhe von monatlich
25,56 EUR gewährt.
Mit Bewilligungsbescheid vom 07.05.2009, gerichtet an die Mutter des Klägers für die ganze Bedarfsgemeinschaft, bewilligte
der Beklagte dem Kläger keinen Mehrbedarf mehr für kostenaufwendige Ernährung. Auf den hiergegen eingelegten Widerspruch leitete
der Beklagte Ermittlungen durch Einholen einer gutachterlichen Äußerung des Ärztlichen Dienstes der Bundesagentur für Arbeit
ein. Die ärztliche Stellungnahme vom 16.12.2009 ergab, dass zwar in der Lebenssituation des autistischen Kindes unter anderem
ein Mehrbedarf an physischem Pflegeaufwand bei der Nahrungsaufnahme (zum Beispiel manuell bei der mundgerechten Zubereitung
von Speisen oder eventuell unterstützend bei der oralen Zufuhr) bestehe, eine finanzielle Krankenkostzulage zur Regelung von
krankheitsbedingt erhöhtem Ernährungsbedarf jedoch nach aktuellem Stand der Ernährungsmedizin bei Autismus nicht begründbar
sei. Die Empfehlungen des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge e.V. zur Krankenkostzulage im Sozialrecht
sähen für die Erkrankung weder qualitativ noch quantitativ eine spezielle Kostform oder Diät vor. Demzufolge sei die Ernährung
des autistisch erkrankten Kindes kostenneutral als Vollkost auf Grundlage marktüblich verfügbarer Lebensmittel, Speisen und
Nahrungsrohstoffe in großer Angebotsbreite und über den Regelsatz zu realisieren.
Mit Widerspruchsbescheid vom 08.01.2010 wies der Beklagte den Widerspruch des Klägers als unbegründet zurück. Dem Kläger sei
kein Mehrbedarf wegen einer aus medizinischen Gründen kostenaufwendigen Ernährung nach § 21 Abs. 5 SGB II zu gewähren. Zwar bestätige die Kinderärztin des Klägers in der ärztlichen Bescheinigung vom 16.05.2008 eine Autismuserkrankung
sowie die Ernährung in Breiform, jedoch werde gemäß den neuen Erkenntnissen und Empfehlungen des Deutschen Vereins für öffentliche
und private Fürsorge e.V. bei dieser Erkrankung ein krankheitsbedingt erhöhter Ernährungsaufwand verneint. Da jedoch die Empfehlungen
des Deutschen Vereins ausschließlich für Erwachsene gelten, sei der Ärztliche Dienst eingeschaltet worden. Die Ermittlungen
hätten jedoch keinen ernährungsbedingten Mehrbedarf beim Kläger ergeben. Die Empfehlungen des Deutschen Vereins sähen für
die Erkrankung weder qualitativ noch quantitativ eine spezielle Kostform oder Diät vor.
Hiergegen hat der Kläger am 25.01.2010 Klage beim Sozialgericht Chemnitz (SG) erhoben. Die Autismuserkrankung erschwere seine Nahrungsaufnahme. Die Mutter müsse oft Nahrungsmittel wegwerfen, da der
Kläger die Nahrungsaufnahme verweigere. Hierdurch fielen Mehrkosten an. Ein Essensprotokoll ist beigefügt worden.
Die behandelnde Kinderärztin hat bestätigt, dass selbst bei normaler Ernährung ein erhöhter Nahrungsmittelbedarf erforderlich
sei, weil der Kläger relativ unberechenbar einen Großteil der Nahrung wieder erbreche, bzw. teilweise auch mutwillig zerstöre
und auf den Boden werfe. Des Weiteren hat sie eine bestehende Zöliakie diagnostiziert, die sich dann im Laufe des Verfahrens
jedoch als Irrtum herausstelle.
Am 26.11.2010 hat der Beklagte durch den ärztlichen Dienst, Dr. D. F, Stellung genommen. Der Kläger leide allein an Autismus,
die Diagnose Zöliakie sei zurückgezogen worden. Autismus bedinge im ernährungsphysiologischen Kontext selbst keine spezifische
Zusammensetzung von Nahrung. Mehrausgaben entstünden durch Vollkost nicht. Dies habe der Gutachter des Ärztlichen Dienstes
bereits am 16.12.2009 festgestellt. Es bestünden möglicherweise individuelle Besonderheiten im Aufwand durch Dritte bei der
Krankenpflege eines Autisten, bei der Speisenvor- bzw. und Speisenzubereitung oder beim "unterstützenden Handling" der Nahrungsaufnahme.
Bei den genannten Hilfestellungen handle es sich aber um äußere, flankierende Fürsorgeleistungen, die nicht durch die ernährungsspezifischen
Empfehlungen des Deutschen Vereins gedeckt seien und die bei zahlreichen anderen Leiden ebenso erbracht würden.
Nach Anhörung der Beteiligten hat das SG Chemnitz mit Gerichtsbescheid vom 20.12.2010 der Klage stattgegeben. Beim Kläger
sei ein Mehrbedarf wegen kostenaufwendiger Ernährung in Form eines quantitativen Mehrbedarfes durch die Autismuserkrankung
gegeben. Auch der quantitative Mehrbedarf falle unter § 21 Abs. 5 SGB II. Die Erkrankung in Form des Autismus führe kausal zu einer kostenaufwendigen Ernährung. Die Kosten sind anhand der Angaben
der Eltern für Juni 2009 auf 67,43 EUR und für Juli 2009 und die folgenden Monate auf 52,63 EUR geschätzt worden.
Gegen den dem Beklagten am 04.01.2011 zugegangenen Gerichtsbescheid hat dieser am 03.02.2011 beim Landessozialgericht Berufung
eingelegt. Er begründet seine Auffassung damit, dass kein Bedürfnis an medizinisch bedingtem Ernährungsmehrbedarf aufgrund
der autistischen Erkrankung des Klägers erkennbar sei. Die Stellungnahme des ärztlichen Dienstes ergebe, dass nur eine Ernährung
mit Vollkost angezeigt sei, die keine Mehrkosten verursache. Der erhöhte physische Pflegeaufwand bei der Nahrungsaufnahme
falle nicht unter die krankheitsbedingten Mehrkosten nach dem SGB II (§ 21 Abs. 5 SGB II). Ein größeres Speisenangebot könne nicht den höheren Pflegeaufwand kompensieren, der für eine ausreichende Ernährung sorge,
da auch ein größeres Angebot an Speisen nicht zu einer Verhaltensänderung des Autisten führe. Schließlich ließen die Aufzeichnungen
der Eltern des Klägers erkennen, dass lediglich drei Mahlzeiten am Tag angeboten würden. Ein mit Mehrkosten belastetes Ersatzangebot
bei Essensverweigerung ist den Aufzeichnungen nicht zu entnehmen. Der Senat hat einen aktuellen Befundbericht der behandelnden
Kinderärztin DM Bodenschatz vom 08.06.2012 eingeholt.
Im Auftrag der Einzelrichterin des Senates ist ein Gutachten bei DM U, ärztliche Leiterin des Sozialpädiatrischen Zentrums
C, eingeholt worden. In ihrem Gutachten vom 05.07.2012 gelangt die Gutachterin zu der Einschätzung, dass beim Kläger kein
Mehrbedarf wegen kostenaufwendiger Ernährung bestehe. Aus den medizinischen Unterlagen des Klägers seien keine spezifischen
Ernährungsberatungen und Ernährungsprotokolle ersichtlich. Notwendige, zeitlich versetzte Nahrungsangebote, bzw. veränderte
Verabreichung von Nahrungsmitteln bzw. Wiederholung der Verabreichung könnten nicht nachvollzogen werden. Da der Kläger über
den gesamten Entwicklungsverlauf innerhalb der Normalverteilung mit seinem Körpergewicht gelegen habe, habe kein intensiverer
medizinischer Interventionsbedarf bestanden, eine Ernährungstherapie einzuleiten. Die aktuellen Gewichtsangaben zeigten das
Körpergewicht im oberen Normbereich mit 53 kg für einen 11 5/12 - jährigen Knaben. Aus den vorliegenden Unterlagen der Behandlungsstellen
seien nahrungsmittelbedingte Mehrkosten nicht nachzuweisen. Es bleibe nur ein Mehraufwand an Zeit und personellen Ressourcen
in der Vorbereitung der Nahrung, im Austausch der angebotenen Nahrungsmittel und der eventuellen zeitlich versetzten nochmaligen
Verabreichung von Nahrungsmitteln an den Kläger. Genaue Nachweise für die Einschätzung der Quantität fehlten.
Der Beklagte beantragt,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Chemnitz vom 20.12.2010 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er hält den Mehrbedarf wegen kostenaufwendiger Ernährung sowie vom SG tenoriert für zutreffend.
Der Einzelrichterin des Senats lagen die Verwaltungsakten des Beklagten sowie die Gerichtsakte der I. Instanz vor. Ihr Inhalt
war Gegenstand der Beratung und Entscheidungsfindung.
Entscheidungsgründe:
Das Gericht konnte durch die Berichterstatterin als Einzelrichterin gemäß §
155 Abs.
4 i. V. m. Abs.
3 Sozialgerichtsgesetz -
SGG - entscheiden, weil sich die Beteiligten hiermit einverstanden erklärt haben.
Die zulässige Berufung ist begründet. Der Gerichtsbescheid des SG Chemnitz vom 20.12.2010 war aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der zugrunde liegende Bescheid vom 07.05.2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 08.01.2010 ist rechtmäßig und
verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten. Dem Kläger steht über die Regelleistung hinaus kein Anspruch auf Mehrkosten wegen
kostenaufwendiger Ernährung aufgrund seiner Autismuserkrankung im Zeitraum vom 01.06.2009 bis 30.11.2009 zu.
Kläger des vorliegenden Verfahrens ist derjenige, der seine eigenen Mehrkosten wegen kostenaufwendiger Ernährung geltend macht.
Es handelt sich hierbei um sein eigenes Recht. Die Klage war nicht durch die Mutter des Klägers zu führen. Insofern war das
Rubrum im Laufe des Berufungsverfahrens zu berichtigen. Der Kläger wird gesetzlich vertreten durch seine beiden Eltern. Streitgegenstand
des vorliegenden Verfahrens sind ausschließlich Ansprüche auf höhere Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes in der
Zeit vom 01.06.2009 bis zum 30.11.2009. Die Gewährung eines Mehrbedarfes wegen kostenaufwendiger Ernährung allein kann nicht
zulässiger Streitgegenstand eines gerichtlichen Verfahrens sein. Die Regelung des Beklagten über die laufenden Leistungen
zur Sicherung des Lebensunterhaltes (mit Ausnahme der Kosten der Unterkunft) lassen sich in rechtlich zulässiger Weise nicht
in weitere Streitgegenstände aufspalten (vgl. BSGE 104, 48 = SozR4 - 1500, § 71 Nr. 2, jeweils Randnummer 11, BSG SozR4 - 4200, § 21 Nr. 9, Randnummer 11).
Gegenstand des Verfahrens ist damit der Bescheid des Beklagten vom 07.05.2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom
08.01.2010, mithin der Bewilligungsabschnitt vom 01.06.2009 bis zum 30.11.2009.
Dem Kläger steht über die Regelleistung hinaus kein Mehrbedarf wegen kostenaufwendiger Ernährung nach § 21 Abs. 5 SGB II zu.
Nach § 21 Abs. 5 SGB II erhalten erwerbsfähige Hilfebedürftige, die aus medizinischen Gründen einer kostenaufwendigen Ernährung bedürfen, einen Mehrbedarf
in angemessener Höhe. Das Gesetz begründet damit bei medizinischem Erfordernis kostenaufwendiger Ernährung einen Rechtsanspruch
des Hilfebedürftigen. Voraussetzung ist eine gesundheitliche Beeinträchtigung, die eine Ernährung erforderlich macht, deren
Kosten höher ("aufwendiger") sind, als dies für Personen ohne eine solche Einschränkung der Fall ist (vgl. Düring in Gagel,
SGB II/SGB III, Stand November 2010, § 21 SGB II, Randnummer 31; O. Loose in: GK- SGB II, Stand Juli 2010, § 21 Randnummer 34 f.; Münder in: ders., SGB II, 3. Auflage 2009 § 21 Randnummer 25). Ein solches besonderes, medizinisch begründetes Ernährungsbedürfnis führt zu einem Anspruch auf einen Mehrbedarf
in angemessener Höhe (zum Ganzen BSG, Urteil vom 24.02.2011, Az.: B 14 AS 49/10 R, Randnummer 21, unter Verweis auf BSGE 100, 83 = SozR4 - 4200, § 20 Nr. 6, jeweils Randnummer 39 und BSG SozR4 - 4200, § 21 Nr. 2 Randnummer 24).
Die Autismuserkrankung des Klägers bedingt keine krankheitsbedingten Mehrkosten und zwar weder qualitativer noch quantitativer
Art. Dass der Kläger beispielsweise wegen einer Zöliakie in Verbindung mit der Autismuserkrankung krankheitsbedingte Mehrkosten
hätte, hat sich im Verlauf des gerichtlichen Verfahrens nicht bestätigt. Die zum Teil getroffene Diagnose einer Zöliakie beim
Kläger ist widerrufen worden, sodass aus diesem Grund keine krankheitsbedingten Mehrkosten gewährt werden können. Aber auch
ein quantitativer Mehrbedarf hat sich beim Kläger nicht nachweisen lassen. So sind keine Ernährungsprotokolle aus der streitigen
Zeit oder Folgezeit erkennbar, die krankheitsbedingte Mehrkosten nachweisen würden. Weder zusätzliche Nahrungsangebote noch
notwendig zeitlich versetzte Nahrungsangebote bzw. veränderte Verabreichungen von Nahrungsmitteln mit damit verbundenen Mehrkosten
sind nachvollziehbar. Hinzu kommt, dass der Kläger innerhalb des streitigen Zeitraumes mit seinem Körpergewicht sich in der
Normalverteilung befand, es bestand kein intensiver medizinischer Interventionsbedarf, um eine Ernährungstherapie einzuleiten.
Die Einzelrichterin des Senats folgt hierbei den schlüssigen und nachvollziehbaren Ausführungen der Gutachterin DM U in ihrem
Gutachten vom 05.07.2012.
Nahrungsmittelbedingte Mehrkosten lassen sich nicht nachweisen. Der Mehraufwand an Zeit und personellen Ressourcen in der
Vorbereitung der Nahrung, im Austausch der angebotenen Nahrungsmittel und der eventuell zeitlich versetzten nochmaligen Verabreichung
von Nahrungsmitteln an den Kläger fällt nicht unter das SGB II sondern gegebenenfalls unter die Pflegeversicherung.
Damit war die Berufung zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf §
193 SGG.
Die Revision war nicht zuzulassen (§
160 Abs.
2 SGG).