Einstweiliger Rechtsschutz im sozialgerichtlichen Verfahren; Ausschluss der Vollstreckung nach Ablauf der einmonatigen Vollziehungsfrist
Gründe:
I. Der Antragsgegner wendet sich gegen einen Beschluss nach §
201 des Sozialgerichtsgesetzes (
SGG).
Das Sozialgericht gab im Verfahren Az. S 13 SO 51/09 ER dem Antrag auf Gewährung vorläufigen gerichtlichen Rechtsschutzes
teilweise statt und erließ mit rechtskräftigem Beschluss vom 22. Juni 2009 eine einstweilige Anordnung, worin der Antragsgegner
verpflichtet wurde, die Kosten für den Arbeitsbereich in einer Werkstatt für behinderte Menschen ab 1. Juli 2009 vorläufig
darlehensweise zu übernehmen. In der Begründung setzte es sich mit den Voraussetzungen des § 92 Abs. 3 Satz 2 des Zwölften
Buches Sozialgesetzbuch - Sozialhilfe - (SGB XII) auseinander. Im Rahmen seines Ermessens nach §
86b Abs.
2 Satz 4
SGG i. V. m. §
938 Abs.
1 der
Zivilprozessordnung (
ZPO) erachtete es das Sozialgericht als ausreichend, wenn der Antragsgegner die Leistung einstweilen nur darlehensweise erbringt.
Der Beschluss wurde beiden Beteiligten jeweils am 29. Juni 2009 zugestellt.
Der Antragsgegner forderte mit Schreiben vom 6. Juli 2009 die Betreuerin des Antragstellers auf, eine Einverständniserklärung
über die Darlehensgewährung zu unterschreiben. Dies wurde vom anwaltlich vertretenen Antragsteller mit der Begründung abgelehnt,
dass sich die Rechtslage eindeutig aus dem Beschluss des Sozialgerichts ergebe.
Im Schreiben vom 15. Juli 2009 vertrat der Antragsgegner die Auffassung, dass ein Darlehen nur gegen Sicherheitsleistung gewährt
werden könne. Es werde um Mitteilung gebeten, wie das Darlehen gesichert werden solle. Hierauf erwiderte die Antragstellerbevollmächtigten
mit Schreiben vom 3. August 2009, dass das Sozialgericht die Verpflichtung zur Darlehensgewährung nicht von einer Sicherheitsleistung
abhängig gemacht habe. Der Antragsgegner werde zum wiederholten Male aufgefordert, dem gerichtlichen Beschluss endlich Folge
zu leisten und nicht ständig neue "Ausflüchte" zu suchen. Im Schreiben vom 6. August 2009 hielt der Antragsgegner an seiner
Rechtsauffassung fest und berief sich auf die Ermessensregelung in § 91 Satz 2 SGB XII.
Am 24. August 2009 hat der Antragsteller beim Sozialgericht beantragt, entsprechend §
201 SGG dem Antragsgegner eine Frist zur Umsetzung des Beschlusses vom 22. Juni 2009 zu setzen und für den Fall der Nichtbefolgung
binnen gesetzter Frist ein Zwangsgeld von bis zu 1.000,00 EUR anzudrohen. Die Vollziehungsfrist sei gewahrt, weil gegenüber
dem Antragsgegner binnen Monatsfrist und im Anschluss deutlich gemacht worden sei, aus dem Beschluss Rechte herleiten zu wollen.
Der Antragsgegner hat erwidert, dass der Vollziehung des Beschlusses die Monatsfrist des §
929 Abs.
2 ZPO entgegenstehe. Im Übrigen wurden Bedenken geäußert, ob der Beschluss einen vollstreckungsfähigen Inhalt habe.
Das Sozialgericht hat mit Beschluss vom 19. Oktober 2009 die Festsetzung eines Zwangsgeldes in Höhe von 1.000,00 EUR für den
Fall angedroht, dass der Antragsgegner nicht bis spätestens 22. Oktober 2009, 12.00 Uhr, den Beschluss vom 22. Juni 2009 zugunsten
des Antragstellers umgesetzt hat. Der Antrag sei zulässig. Zwar sei die Monatsfrist des §
929 Abs.
2 ZPO von Amts wegen zu beachten. Jedoch sei auch zu beachten, dass sich niemand rechtsmissbräuchlich auf dies Frist berufen dürfe.
Der Antragsteller habe auf Grund des Schreibens des Antragsgegners vom 6. Juli 2009 davon ausgehen können, dass der Antragsgegner
dem Beschluss vom 22. Juni 2009 nachkommen werde. Erst auf Grund des Schreibens vom 6. August 2009 habe für den Antragsteller
Veranlassung bestanden, mit der Vollstreckung zu beginnen. Es bedürfte daher keiner Entscheidung darüber, ob die Monatsfrist
des §
929 Abs.
2 ZPO generell erst ab dem Zeitpunkt zu laufen beginne, in dem der Antragsteller Kenntnis von der Nichtbefolgung des gerichtlichen
Beschlusses habe. Selbst wenn man vorliegend keinen Verstoß gegen Treu und Glauben erkennen wolle, könne dem Antragsteller
Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt werden. Der Antrag sei auch begründet, weil der Antragsgegner seiner Verpflichtung
aus der einstweiligen Anordnung nicht nachgekommen sei. Darin seien etwaige Sicherheiten vom Antragsteller nicht verlangt
worden.
Der Antragsgegner hat am 22. Oktober 2009 Beschwerde eingelegt und seine bisherigen Auffassungen weiter vertreten.
Der Antragsgegner beantragt:
Der Beschluss des Sozialgerichtes Leipzig vom 19. Oktober 2009 wird aufgehoben und der Antragsteller mit seinem Begehren auf
Vollziehung des Beschlusses des Sozialgerichtes Leipzig vom 22. Juni 2009 (Az. S 13 SO 51/09 ER) vollumfänglich zurückgewiesen.
Der Antragsteller beantragt,
die Beschwerde zurückzuweisen.
Er teilt die Rechtsauffassung des Sozialgerichtes und beantragt vorsorglich die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand.
Wegen der Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakten aus beiden Verfahrenszügen sowie die beigezogene
Verwaltungsakte des Antragsgegners Bezug genommen.
II. 1. Die zulässige Beschwerde ist begründet. Der Beschluss des Sozialgerichtes Leipzig vom 19. Oktober 2009 ist aufzuheben,
weil aus dem Beschluss vom 22. Juni 2009 wegen Ablauf der einmonatigen Vollziehungsfrist nicht mehr vollstreckt werden kann.
a) Nach §
86b Abs.
2 Satz 4
SGG i. V. m. §
929 Abs.
2 ZPO ist die Vollziehung des Beschlusses über die Anordnung der einstweiligen Anordnung, der gemäß §
199 Abs.
1 Nr.
2 SGG ein Vollstreckungstitel ist, unstatthaft, wenn seit dem Tag, an dem der Beschluss verkündet oder der Partei, auf deren Antrag
er erging, zugestellt ist, ein Monat verstrichen ist. Die Regelung des §
929 Abs.
2 ZPO findet nach der ständigen Rechtsprechung des erkennenden Senates auf Grund der eindeutigen Verweisungsregelung in §
86b Abs.
2 Satz 4
SGG im sozialgerichtlichen Verfahren Anwendung (vgl. SächsLSG, Beschluss vom 24. Januar 2008 - L 3 B 610/07 AS-ER - JURIS-Dokument Rdnr. 2; SächsLSG, Beschluss vom 24. Oktober 2008 - L 3 B 380/08 AS-ER - JURIS-Dokument Rdnr. 3 ff.). Dies deckt sich mit der Rechtsauffassung, die überwiegend in der Rechtsprechung (vgl.
LSG Baden-Württemberg, Beschlüsse vom 11. Januar 2006 - L 7 SO 4891/05 ER-B - FEVS 58, 14 = JURIS-Dokument Rdnr. 4 -,vom 20.
November 2007 - L 7 AY 5173/07 ER-B - JURIS-Dokument Rdnr. 2 und 4 -, vom 30. Juli 2008 - L 7 AS 2809/08 ER-B - JURIS-Dokument Rdnr. 4 - und vom 15. Dezember 2008 - L 7 SO 4639/08 ER-B - JURIS-Dokument Rdnr. 5; Schl.-Holst. LSG,
Beschluss vom 4. Januar 2007 - L 11 B 509/06 AS-ER - Breithaupt 2007, 535 = JURIS-Dokument Rdnr. 2 und 3; LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 22. Juni 2007 - L 14 B 633/07 AS-ER - JURIS-Dokument Rdnr. 1; BayLSG, Beschluss vom 27. April 2009 - L 8 SO 29/09 B ER - JURIS-Dokument Rdnr. 19; a. A.:
SächsLSG, Beschluss vom 22. April 2008 - L 2 B 111/08 AS-ER - JURIS-Dokument Rdnr. 12 ff.) und im Schrifttum (vgl. Adolf, in: Hennig,
Sozialgerichtsgesetz [16. Erg.-Lfg., August 2009], §
86b Rdnr. 103, m. w. N.; Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer,
Sozialgerichtsgesetz [9. Aufl., 2008], §
86b Rdnr. 46, m. w. N.; Düring, in: Jansen,
Sozialgerichtsgesetz [3. Aufl., 2009], §
86b Rdnr. 44; Binder, in: Lütke (Hrsg.),
Sozialgerichtsgesetz [3. Aufl., 2009], §
86b Rdnr. 56; a. A.: Geiger, in: info also 2007, 243; Plagemann/Schafhausen, jurisPR-SozR 13/2008 Anm. 4) vertreten wird.
Von der Anwendbarkeit der Regelung der §
929 Abs.
2 ZPO im sozialgerichtlichen Verfahren sind vorliegend auch das Sozialgericht und die Beteiligten ausgegangen.
b) Die Anwendung der Regelung über die Vollziehungsfrist in §
86b Abs.
2 Satz 4
SGG i. V. m. §
929 Abs.
2 ZPO setzt voraus, dass der Vollstreckungstitel einen vollstreckbaren Inhalt hat (vgl. LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 15.
Dezember 2008 - L 7 SO 4639/08 ER-B - JURIS-Dokument Rdnr. 5). Maßgebend ist insoweit nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichtes
(vgl. Beschluss vom 6. August 1999 - B 4 RA 25/98 B - SozR 3-1500 § 199 Nr. 1 = JURIS-Dokument Rdnr. 13) allein die Entscheidungsformel (vgl. §
136 Abs.
1 Nr.
4 SGG). Wenn es Anlass zu Zweifeln über ihren Inhalt gibt, ist sie durch Heranziehung des sonstigen Inhalts des Urteils, insbesondere
der Entscheidungsgründe, auszulegen (vgl. BGH, aaO., m. w. N.).
Vor diesem Hintergrund und unter Berücksichtigung des vollstreckungsrechtlichen Grundsatzes der Titelklarheit (vgl. BGH, aaO.)
besitzt die einstweilige Anordnung unter Ziffer I des Beschlusses des Sozialgerichtes vom 22. Juni 2009 entgegen den Bedenken
des Antragsgegners einen vollstreckbaren Inhalt. Das Sozialgericht hat darin angeordnet, dass "der Antragsgegner verpflichtet
im Wege der einstweiligen Anordnung [wird], die Kosten für den Arbeitsbereich in einer Werkstatt für behinderte Menschen ab
01.07.2009 vorläufig darlehensweise zu übernehmen."
Der Antragsgegner weist zwar hinsichtlich der Möglichkeit, eine Sozialhilfeleistung darlehensweise zu erbringen, zutreffend
auf die Regelung des § 91 SGB XII hin. Danach soll, soweit nach § 90 SGB XII für den Bedarf der nachfragenden Person Vermögen
einzusetzen ist, jedoch der sofortige Verbrauch oder die sofortige Verwertung des Vermögens nicht möglich ist oder für die,
die es einzusetzen hat, eine Härte bedeuten würde, die Sozialhilfe als Darlehen geleistet werden (vgl. § 91 Satz 1 SGB XII).
Nach § 91 Satz 1 SGB XII kann die Leistungserbringung davon abhängig gemacht werden, dass der Anspruch auf Rückzahlung dinglich
oder in anderer Weise gesichert wird.
Der Antragsgegner übersieht bei seinem Ansatz jedoch, dass sich das Sozialgericht weder im Tenor des Beschlusses vom 22. Juni
2009 noch in der Beschlussbegründung auf die Vorschrift des § 91 SGB XII bezogen oder sich mit ihr auseinandergesetzt hat.
Vielmehr hat das Sozialgericht bei der Begründung, weshalb die im Rahmen der einstweiligen Anordnung zuerkannte Leistung nur
darlehensweise zugesprochen worden ist, ausdrücklich auf §
86b Abs.
2 Satz 4
SGG i. V. m. §
938 Abs.
1 ZPO Bezug genommen. Danach bestimmt das Gericht nach freiem Ermessen, welche Anordnungen zur Erreichung des Zweckes erforderlich
sind. Die Gestaltungsmöglichkeiten des Gerichtes sind mithin beim Erlass einer einstweiligen Anordnung weiter als im Hauptsacheverfahren
(vgl. Schoch, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner,
Verwaltungsgerichtsordnung [17. Erg.-Lfg., Oktober 2008], §
123 Rdnr. 133; Dombert, in: Finkelnburg/Dombert/Külpmann, Vorläufiger Rechtsschutz im Verwaltungsstreitverfahren [5. Aufl., 2008],
Rdnr. 144, m. w. N.). Das Sozialgericht hat sich auf dieser Grundlage entschieden, dem Antragsteller die einstweilig zuerkannte
Leistung nicht in Form eines Zuschusses, sondern in Form eines Darlehens zuzusprechen. Dies bedeutet, dass der Antragsteller
die einstweilig zuerkannte Leistung nicht bis zum Abschluss des Hauptsacheverfahrens ungeschmälert erhalten und behalten sollte,
sondern dass er verpflichtet sein sollte, bereits zuvor nach Maßgabe der noch zu treffenden Darlehensregelungen Rückzahlungen
zu leisten.
Einem vollstreckbaren Inhalt des Beschlusses steht auch nicht entgegen, dass das Sozialgericht nur einen vorläufigen Leistungsanspruch
in Form der darlehensweisen Leistungsgewährung dem Grund nach Entschieden hat, die Festlegung der Modalitäten der Darlehensgewährung
und der Darlehensrückzahlung aber den Beteiligten überantwortet hat. Wie bei einem Grundurteil im Sinne von §
130 SGG kann sich das Sozialgericht auch bei seiner Ermessensentscheidung gemäß §
86b Abs.
2 Satz 4
SGG i. V. m. §
938 Abs.
1 ZPO auf die Zuerkennung einer vorläufigen Leistung dem Grunde nach beschränken.
c) Die Monatsfrist nach §
86b Abs.
2 Satz 4
SGG i. V. m. §
929 Abs.
2 ZPO ist vorliegend abgelaufen. Der Beschluss des Sozialgerichtes vom 22. Juni 2009 (Az. S 13 SO 51/09 ER) ist dem Antragsteller
am 29. Juni 2009 zugestellt worden. Gemäß §
64 Abs.
2 Satz 1
SGG endet eine nach Monaten bestimmte Frist mit Ablauf desjenigen Tages des letzten Monats, welcher nach Benennung oder Zahl
dem Tag entspricht, in den das Ereignis oder der Zeitpunkt fällt. Danach wäre die Frist am 29. August 2009 abgelaufen. Da
dieser Tag aber ein Sonnabend war, endete gemäß §
64 Abs.
3 SGG die Frist mit Ablauf des nächsten Werktages, das heißt am 31. August 2009. Bis zu diesem Ende der Monatsfrist des §
929 Abs.
2 ZPO hatte weder der Antragsgegner das in dem Beschluss vom 22. Juni 2009 angeordnete Darlehen erbracht noch der Antragsteller
eine Vollstreckungsmaßnahme eingeleitet.
d) Die einmonatige Vollziehungsfrist ist nicht dadurch gewahrt, dass der Antragstellerbevollmächtigte den Antragsgegner aufforderte,
der einstweiligen Anordnung aus dem Beschluss des Sozialgerichtes vom 22. Juni 2009 Folge zu leisten und die Anordnung umzusetzen.
Für die Wahrung der Monatsfrist in §
929 Abs.
2 ZPO ist es nach der herrschenden Meinung in der zivilprozessrechtlichen Rechtsprechung und Kommentarliteratur ausreichend aber
auch erforderlich, dass die Vollstreckung bei der zuständigen Stelle innerhalb der Frist beantragt worden ist. Denn dann hat
der Vollstreckungsgläubiger mit der Antragstellung alles getan, was ihm möglich ist, und er soll keine Nachteile aus der Dauer
des Vollstreckungsverfahrens haben (vgl. BGH, Urteil vom 25. Oktober 1990 - IX ZR 211/89 - BSGE 122, 356 [359] = JURIS-Dokument Rdnr. 9 - und Beschluss vom 15. Dezember 2005 - I ZB 63/05 - NJW 2006, 1290 = JURIS-Dokument Rdnr. 7, m. w. N.; Reichold, in: Thomas/Putzo,
Zivilprozessordnung [30. Aufl., 2009], §
929 Rdnr. 4). Entsprechendes gilt im sozialgerichtlichen Verfahren (vgl. Geiger, info also 2007, 243). Einen Vollstreckungsantrag hat der Antragsteller bis zum Ende der Vollziehungsfrist aber - wie dargestellt wurde - nicht
gestellt. Die bloße wiederholte Aufforderung seitens der Antragstellerbevollmächtigten an den Antragsgegner zur Umsetzung
der einstweiligen Anordnung genügt den beschriebenen Anorderungen nicht.
e) Soweit das Sozialgericht der Auffassung zuneigt, dass die Monatsfrist des §
929 Abs.
2 ZPO erst ab dem Zeitpunkt zu laufen beginnt, in dem der Antragsteller Kenntnis von der Nichtbefolgung des gerichtlichen Beschlusses
erlangt hat (vgl. hierzu Geiger, info also 2007, 243 [244], m. w. N.), findet dies im Gesetzeswortlaut keine Stütze. Vielmehr wird in §
929 Abs.
2 ZPO ausdrücklich auf den "Tag, an dem der Beschluss verkündet oder der Partei, auf deren Antrag er erging, zugestellt ist", abgestellt
(vgl. BayLSG, Beschluss vom 27. April 2009 - L 8 SO 29/09 B ER - JURIS-Dokument Rdnr. 21).
f) Soweit das Sozialgericht und der Antragsteller die Auffassung vertreten, es sei rechtsmissbräuchlich, wenn sich der Antragsgegner
auf den Ablauf der Vollziehungsfrist berufe, sind bereits die Voraussetzungen für den Vorwurf eines rechtsmissbräuchlichen
Verhaltens nicht gegeben.
Rechtswidrig handelt unter anderem, wer eine Rechtsposition zu sachfremden, verfahrenswidrigen Zwecken gebraucht (vgl. Keller,
in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer,
Sozialgerichtsgesetz [9. Aufl., 2008], Vor §
60 Rdnr. 14), oder wer durch eigenes Fehlverhalten die Fristwahrung durch einen anderen Beteiligten treuwidrig verhindert hat
(vgl. Keller, aaO., § 67 Rdnr. 2b, m. w. N.14). In diesem Sinn kann dem Antragsgegner nicht der Vorwurf rechtsmissbräuchlichen
oder treuwidrigen Verhaltens gemacht werden.
Der Antragsteller konnte nicht darauf vertrauen, der Antragsgegner werde der einstweiligen Anordnung aus dem Beschluss vom
22. Juni 2009 ohne weiteres Folge leisten. Denn bereits eine Woche nach Zustellung des Beschlusses, nämlich im Schreiben vom
6. Juli 2009, gab der Antragsgegner zu erkennen, dass die angeordnete darlehensweise Kostenübernahme nur nach einer vorherigen
Einverständniserklärung des Antragstellers erfolgen könne. Auf die verweigerte Erklärung hin teilte dann der Antragsgegner
im Schreiben vom 15. Juli 2009 weiter mit, dass ein Darlehen nur gegen eine Sicherheitsleistung ausgereicht werden könne.
Spätestens zu diesem Zeitpunkt - und nicht erst auf Grund des Schreibens des Antragsgegners vom 6. August 2009 - war für den
Antragstellerbevollmächtigten zu erkennen, dass es Schwierigkeiten bei der Vollziehung der einstweiligen Anordnung geben wird.
Gleichwohl ist es noch im Schreiben vom 3. August 2009 lediglich bei der Aufforderung an den Antragsgegner verblieben, dem
Beschluss vom 22. Juni 2009 Folge zu leisten.
Allein der Umstand, dass der Antragsgegner die einstweilige Anordnung nicht befolgt hat, ist - auch vor dem Hintergrund der
Bindung der Verwaltung an Recht und Gesetz in Artikel
20 Abs.
3 des Grundgesetzes (
GG) - für sich nicht ausreichend, den Vorwurf rechtsmissbräuchlichen oder treuwidrigen Verhaltens zu begründen. Denn den Fall,
dass eine Gerichtsentscheidung vom unterlegenen Beteiligten nicht umgesetzt wird, hat der Gesetzgeber vorhergesehen und Vorschriften
zur Vollstreckung, das heißt zur zwangsweisen Durchsetzung von Gerichtsentscheidungen geschaffen.
Entsprechendes gilt für den Umstand, dass der Antragsgegner - im Gegensatz zum Sozialgericht und zum Antragsteller - zunächst
die Auffassung vertreten hat, das Darlehen nur gegen eine Sicherheitsleistung des Antragstellers erbringen zu müssen, und
später noch Bedenken an einem vollstreckungsfähigen Inhalt des Beschlusses vom 22. Juni 2009 geäußert hat. Denn eine sich
gegebenenfalls als unzutreffend erweisende Rechtsauffassung ist noch keine solche, die auf sachfremden Erwägungen beruht.
Dass der Antragsgegner den Unterschied zwischen der Darlehensregelung in §
91 SGB XII und dem Gestaltungsspielraum des Sozialgerichtes in §
86b Abs.
2 Satz 4
SGG i. V. m. §
938 Abs.
1 ZPO nicht gesehen hat, kann nicht als grob fehlerhafte und damit im Sinne des Missbrauchsvorwurfes zu missbilligende Rechtsauffassung
angesehen werden. Im vorliegenden Zusammenhang kann dem Antragsgegner auch nicht vorgehalten werden, dass er keine Beschwerde
gegen den Beschluss vom 22. Juni 2009 eingelegt hat. Denn er sah sich befugt, im Rahmen der angeordneten Darlehensgewährung
auf die Regelung des § 91 Satz 2 SGB XII zurückzugreifen. Ausgehend von dieser Rechtsauffassung bestand keine Veranlassung,
die von ihm im Übrigen akzeptierte einstweilige Anordnung anzugreifen.
Entgegen der Auffassung des Sozialgerichtes lässt sich auch aus dem letzten Absatz des Schreibens des Antragsgegners vom 28.
September 2009 nichts Gegenteiliges herleiten. Dort ist dem Antragsgegner dem Vortrag des Antragstellers, er, der Antragsgegner,
weigere sich, der gerichtlichen Anordnung Folge zu leisten, mit der Begründung entgegengetreten, dass für die Begründung des
Darlehensverhältnisses die Mitwirkung des Antragstellers notwendig sei. Der Antragsgegner hat damit seine bisherige Rechtsauffassung
nur bekräftigt.
g) Dem Antragsteller kann auch nicht gemäß §
67 Abs.
1 SGG Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt werden (vgl. hierzu Geiger, info also 2007, 243 [244]; Plagemann/Schaffhausen, aaO.). Nach dieser Regelung setzt die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand voraus, dass jemand
ohne Verschulden verhindert war, eine gesetzliche Verfahrensfrist einzuhalten. Ohne Verschulden handelt, wer diejenige Sorgfalt
angewendet hat, die einem gewissenhaften Prozessführenden nach den gesamten Umständen nach allgemeiner Verkehrsanschauung
zuzumuten ist (vgl. BSG, Urteil vom 31. März 1993 - 13 RJ 9/92 - BSGE 72, 158). Vorliegend ist ein solcher Hinderungsgrund, auch vor dem Hintergrund der vorstehenden Ausführungen zum behaupteten missbräuchlichen
oder treuwidrigen Verhalten des Antragsgegners, nicht zu erkennen.
g) Nach den vorstehenden Ausführungen ist die Vollstreckung aus dem Beschluss vom 22. Juni 2009 unstatthaft. Dies hat zur
Folge, dass der auf §
201 SGG gestützt Beschluss vom 19. Oktober 2009 nicht ergehen durfte. Er ist deshalb aufzuheben.
2. Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung von §
193 Abs.
1 Satz 1
SGG.
3. Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§
177 SGG).