Anspruch auf Grundsicherung für Arbeitsuchende; Leistungsausschluss für Auszubildende bei Maßnahmen im Rahmen der Förderung
der Teilhabe behinderter Menschen am Arbeitsleben
Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der den Erlass einer einstweiligen Anordnung ablehnende Beschluss des Sozialgerichts
Hamburg vom 10. Mai 2011 aufgehoben.
Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem Antragsteller vorläufig Leistungen nach dem Zweiten
Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen für den Zeitraum vom 9. Mai 2011 bis zum 31. Oktober
2011 zu gewähren.
Der Antragsgegner hat dem Antragsteller die notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Gründe:
Die am 26. Mai 2011 eingelegte Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Sozialgerichts Hamburg vom 10. Mai 2011
ist statthaft und zulässig, §§
172,
173 Sozialgerichtsgesetz (
SGG). Sie ist auch begründet.
Nach §
86b Abs.
2 Satz 2
SGG sind einstweilige Anordnungen zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig,
wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes
setzt einen Anordnungsanspruch, also einen materiell-rechtlichen Anspruch auf die Leistung, zu der der Antragsgegner im Wege
des einstweiligen Rechtsschutzes verpflichtet werden soll, sowie einen Anordnungsgrund, nämlich einen Sachverhalt, der die
Eilbedürftigkeit der Anordnung begründet, voraus. Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund sind nach §
86b Abs.
2 Satz 4
SGG in Verbindung mit §
920 Abs.
2, §
294 der
Zivilprozessordnung glaubhaft zu machen.
Das ist dem Antragsteller, der stark sehbehindert ist und seit August 2010 eine als Teilhabe am Arbeitsleben von der Bundesagentur
für Arbeit geförderte Ausbildung zum Kaufmann für Bürokommunikation im Landesbildungszentrum für Blinde in H. durchläuft,
nach der im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes bei einer Orientierung an den Erfolgsaussichten der Hauptsache erforderlichen,
jedoch notwendig nach zeitlichem Aufwand und inhaltlicher Tiefe eingeschränkten Prüfung der Sach- und Rechtslage gelungen.
Der Antragsteller ist leistungsberechtigt nach § 7 SGB II. Er ist über 15 Jahre alt und erwerbsfähig (§ 7 Abs. 1 Satz 1 Nrn.
1 und 2 SGB II). Zudem ist er hilfebedürftig (§ 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 i.V.m. § 9 Abs. 1 SGB II), weil er seinen Lebensunterhalt
nicht ausreichend aus dem zu berücksichtigen Einkommen und Vermögen sichern kann und die erforderliche Hilfe nicht von anderen
erhält. Der Antragsteller erhält lediglich Ausbildungsgeld nach §
105 Abs.
1 Nr.
2 Sozialgesetzbuch Drittes Buch (
SGB III) in Höhe von monatlich 102,- EUR sowie Kindergeld. Sein Unterkunftsbedarf ist durch die internatsmäßige Unterbringung in
H. nicht gedeckt, denn er wird dort nach der vorgelegten Auskunft des Internats vom 6. Januar 2011 an Feiertagen und in den
Urlaubsschließzeiten nicht beherbergt. Dass insoweit möglicherweise andere Absprachen mit der Bundesagentur für Arbeit bestehen,
ändert an der nicht durchgehenden Unterbringung des Antragstellers nichts. Schließlich hat der Antragsteller auch seinen gewöhnlichen
Aufenthalt in Deutschland (§ 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 SGB II): Aufgrund der bisherigen Lebensführung in Hamburg, seiner behinderungsbedingten
Angewiesenheit auf die bekannte Umgebung, seiner familiären und sozialen Kontakte, der nur ausbildungsbedingten und nicht
durchgehenden Unterbringung im Internat und der Absicht, nach der Ausbildung in Hamburg zu bleiben, ist sein gewöhnlicher
Aufenthaltsort die Stadt Hamburg.
Der Leistungsberechtigung steht nicht die Vorschrift des § 7 Abs. 5 SGB II entgegen. Danach haben Auszubildende, deren Ausbildung
im Rahmen des Bundesausbildungsförderungsgesetzes (BAFöG) oder der §§
60 bis
62 des
SGB III dem Grunde nach förderungsfähig ist, keinen Leistungsanspruch. Diese Ausschlussvorschrift ist aber nicht einschlägig. Eine
Ausbildungsförderung nach dem BAFöG kommt von vornherein nicht in Betracht. Auch die Voraussetzungen der §§
60 bis
62 SGB III dürften nicht vorliegen. Zwar ist die Ausbildung zum Bürokaufmann grundsätzlich auch nach §
60 Abs.
1 SGB III förderungsfähig. Liegen jedoch - wie hier -, weil es sich um einen behinderten Menschen handelt, die Voraussetzungen für
die Gewährung von Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben und insbesondere die Bewilligung besonderer Leistungen nach §§
102 ff.
SGB III vor, so verdrängen diese spezielleren Regelungen die allgemeinen. Das Ausbildungsgeld ist ein aliud zur Berufsausbildungsbeihilfe;
trotz der normativen Verbindung über §
104 Abs.
2 SGB III handelt es sich um unterschiedliche Förderungskategorien. Hätte der Gesetzgeber auch insoweit einen Ausschlusstatbestand
schaffen wollen, so hätte er die entsprechenden Vorschriften in Bezug nehmen können und müssen. Die Regelung in § 27 Abs.
3 SGB II (bzw. § 22 Abs. 7 SGB II a.F.), die einen Unterkunftskostenzuschuss auch für Bezieher von Ausbildungsgeld vorsieht
und der damit erkennbar die Vorstellung eines Leistungsausschlusses nach § 7 Abs. 5 SGB II zugrunde liegt, führt zu keiner
anderen Beurteilung. Denn das dürfte auf dem gesetzgeberischen Irrtum beruhen, dass § 7 Abs. 5 SGB II sich auch auf Bezieher
von Ausbildungsgeld erstrecke (so BT-Drs. 16/1410 S. 24); das aber war auch zur Zeit der Schaffung dieser Regelung in § 22
Abs. 7 SGB II a.F. nicht der Fall (wie hier: LSG Berlin-Brandenburg, Beschl. v. 11.2.2008 - L 5 B 10/08 AS ER; SG Berlin, Urt. v. 5.12.2008 - S 37 AS 23403/08; LSG Sachsen, Beschl. v. 6.9.2010 - L 7 B 633/08 AS ER; auch Brühl/Schoch, in: LPK-SGB II, 3. Aufl. 2009, § 7 Rn. 114; a.A. Spellbrink, in: Eicher/Spellbrink, SGB II, 2.
Aufl. 2008, § 7 Rn. 104). Mit der Neuregelung des SGB II durch Gesetz von 24. März 2011 (BGBl. I S. 453 ff.) und der Verlagerung der Zuschussregelung von § 22 Abs. 7 SGB II a.F. in den neu gefassten § 27 Abs. 3 SGB II hat der
Gesetzgeber hier nichts geändert und sich auch mit dem Umfang der Ausschlussregelung in § 7 Abs. 5 SGB II nicht auseinandergesetzt
(BT-Drs. 17/3403 S. 169 ff.).
Die einstweilige Anordnung war ab Antragstellung bei Gericht für den regelmäßigen Bewilligungszeitraum von sechs Monaten auszusprechen.
Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des §
193 SGG.