Gewährung von Leistungen nach der Pflegestufe I bei MS
Vorliegen einer Aufhebungssituation
Tatbestand:
I.
Die Beteiligten streiten über die Gewährung von Leistungen der Pflegestufe I aus der gesetzlichen Pflegeversicherung.
Die am 29. Juni 1957 geborene Klägerin leidet unter Multiple Sklerose (MS). Seit 2005 wurde ein GdB von 50 und das Vorliegen
des Merkzeichens "G" durch das Versorgungsamt Hamburg festgestellt. Die Klägerin lebt mit ihrem Ehemann in einer 80qm großen
Wohnung und bezieht seit 2005 Leistungen gemäß Pflegestufe I. Die Eheleute haben zwei Kinder. Der Sohn ist ebenfalls an MS
erkrankt und erhält Leistungen der Pflegestufe III und wird durch seine Ehefrau gepflegt. Die Tochter der Eheleute hat zwei
kleine Kinder und übernimmt auch teilweise die Pflege ihrer Eltern. Der Ehemann der Klägerin (Kläger des abgeschlossenen Verfahrens
vor dem Sozialgericht mit dem Az.: S 33 P 62/12) ist im März 2010 an einem Bronchialkarzinom erkrankt. Er bezog seit 12. Januar 2011 Leistungen gemäß Pflegestufe I und in
der Zeit von September 2011 bis Februar 2012 Leistungen gemäß Pflegestufe II.
Nachdem der Medizinische Dienst der Krankenversicherung Nord (MdK) in seinem Gutachten vom 22. Dezember 2004 festgestellt
hatte, dass ein Pflegebedarf im Bereich der Grundpflege von 55 Minuten vorliegt, gewährte die Beklagte der Klägerin ab 1.
Oktober 2004 mit Bescheid vom 19. Januar 2005 Leistungen gemäß Pflegestufe I.
Wie sich aus einem Vermerk vom 15. November 2011 ergibt, problematisierte die Beklagte, dass die selbst pflegebedürftige Klägerin
für ihren Ehemann, der zwischenzeitlich Leistungen gemäß Pflegestufe II bezog, als Pflegeperson angegeben wurde. Sie veranlasste
daraufhin eine Nachuntersuchung durch den MdK. Dieser kam nach Untersuchung in der Wohnung der Eheleute am 29. Dezember 2011
zu dem Ergebnis, dass unverändert die Voraussetzungen der Pflegestufe I bei der Klägerin gegeben seien. Dabei wurde ein Hilfebedarf
in der Grundpflege von 47 Minuten festgestellt. Hilfestellung werde bei der Körperpflege und im Haushaltsbereich durch den
Ehemann und auch durch die Tochter sowie Schwiegertochter erbracht. Es liege jedoch eine drohende Überforderung der Pflegepersonen
vor. Eine Besserung des Gesundheitszustandes sei nicht zu erwarten.
Die Beklagte stellte daraufhin mit Bescheid vom 18. Januar 2012 für die Zeit ab 1. Februar 2012 die Leistungsgewährung auf
Pflegesachleistungen durch einen ambulanten Pflegedienst um. Am 26. Januar 2012 begutachtete der MdK den Ehemann der Klägerin.
Im Gutachten wurde dargelegt, dass die Ehefrau freigehend die Tür geöffnet habe und "flinke Bewegungsabläufe" gezeigt hätte.
Daraufhin hob die Beklagte ohne weitere Ermittlungen mit Bescheid vom 16. Februar 2012 den ursprünglichen Bewilligungsbescheid
vom 19. Januar 2005 mit Wirkung zum 1. Februar 2012 auf. Ebenfalls aufgehoben wurde der Bescheid vom 18. Januar 2012.
In ihrem Widerspruch vom 21. Februar 2012 hob die Klägerin hervor, dass sie nach wie vor an MS erkrankt sei und Pflegeleistungen
auch durch die Schwiegertochter Frau S. erbracht werden. Mit Widerspruchsbescheid vom 23. Februar 2012 wies die Beklagte den
Widerspruch der Klägerin unter Hinweis auf die Beobachtungen des MdK bei der Begutachtung des Ehemanns zurück.
Die Klägerin hat am 27. Februar 2012 Klage vor dem Sozialgericht Hamburg erhoben. Sie hat kritisiert, dass eine weitere Konsultation
des MdK unterblieben sei. Seit 2004 habe sich ihr Gesundheitszustand nicht verändert. Es gebe jedoch Zeiten, in denen es ihr
etwas besser gehe, das sei jedoch nur vorübergehend. So ließen sich die geschilderten "flinken Bewegungen" erklären. Die Pflege
werde neben der Schwiegertochter auch durch ihre Tochter sichergestellt.
Das Sozialgericht hat die Verwaltungsakte der Beklagten beigezogen und Befundberichte der behandelnden Ärzte eingeholt. In
dem Parallelverfahren des Ehemannes hat am 21. Februar 2013 eine mündliche Verhandlung vor dem Sozialgericht stattgefunden.
Der Kläger des dortigen Verfahrens hat angegeben, dass die Pflege durch die Tochter erfolgt sei, ob deren kleinen Kinder dabei
gewesen seien, konnte er nicht sagen. Die Klägerin in diesem Verfahren wurde als Zeugin vernommen, und hat angegeben, dass
ihre Tochter S. zwei- bis dreimal pro Tag da gewesen sei und ihre damals ein und zwei Jahre alten Kinder mitgenommen habe.
Sie habe die Einkäufe und die Wäsche teilweise übernommen. Beim Anziehen habe sie ihrem Mann geholfen, beim Duschen habe die
Tochter geholfen.
Das Sozialgericht hat ein Sachverständigengutachten eingeholt. Der Facharzt für Allgemeinmedizin W. ist in seinem Gutachten
vom 13. November 2013 zu dem Ergebnis gelangt, dass von einem Hilfebedarf im Bereich der Grundpflege von 54 Minuten auszugehen
sei. Die Voraussetzungen hätten durchgehend bestanden. Es sei nicht zu einer Änderung des Gesundheitszustandes gekommen. Hilfestellung
sei zum Teil durch den Ehemann, die Tochter und die Schwiegertochter erfolgt. Er hat weiter dargelegt, dass die Klägerin sich
zwar innerhalb der Wohnung bewegen könne, jedoch unsicher und verlangsamt. Sie nötige Hilfe bei der Körperpflege und beim
An- und Auskleiden, teilweise auch bei der mundgerechten Zubereitung der Nahrung.
Die Beklagte hat auf Widersprüche hinsichtlich der Angaben über die Pflegeperson verwiesen. Nach den Beobachtungen der Beklagtenvertreterin
in der mündlichen Verhandlung des Parallelverfahrens des Ehemanns der Klägerin habe diese ein flüssiges Gangbild gezeigt,
auch eine fein- oder grobmotorische Schwäche der Hände sei nicht erkennbar gewesen. So habe die Klägerin die Ladung aus der
Tasche genommen, wieder glattgestrichen, gefaltet und in die Tasche gesteckt. Auch das Aufstehen und Hinsetzen sei ohne Probleme
erfolgt.
Das Sozialgericht hat der Klage mit Urteil vom 28. November 2014 stattgegeben und die Bescheide vom 18. Januar 2012 und 16.
Februar 2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23. Februar 2012 aufgehoben. Das Sozialgericht ist dabei den Einschätzungen
des MDK und des Sachverständigen W. folgend davon ausgegangen, dass bei der Klägerin durchgehend die Voraussetzungen der Pflegestufe
I vorgelegen haben. Eine wesentliche Änderung im Sinne des § 48 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) sei daher nicht nachgewiesen. Es hat darauf hingewiesen, dass die Beurteilung der Pflegbedürftigkeit immer von Durchschnittswerten
auszugehen habe. Der tatsächliche Bedarf könne daher an den einzelnen Tagen durchaus schwanken. Wenn an einem Tag "flinke
Bewegungen" möglich seien, heiße das nicht, dass tatsächlich insgesamt ein geringerer Pflegebedarf vorhanden sei. Aus diesem
Grund könnten die von der Beklagten angeführten Beobachtungen keine von den sachverständigen Feststellungen abweichende Beurteilung
rechtfertigen. Was die wechselseitige Pflege der Klägerin und ihres Ehemannes betreffe, so sei zumindest für den hier streitigen
Zeitraum ab Februar 2012 zu beachten, dass der Ehemann der Klägerin seit Januar 2012 keine Pflegeleistungen mehr bezogen habe.
Unabhängig davon sei zu beachten, dass auch nach den Ausführungen des Sachverständigen es nicht ungewöhnlich sei, dass Eheleute
in besonderen Lagen zur Unterstützung des jeweiligen Partners zu außergewöhnlichen Leistungen im Stande seien. Selbst, wenn
sich aus dem Vortrag der Beklagten Zweifel an dem Vorliegen der Leistungsvoraussetzungen ergeben würden, würde dies der Beklagten
nicht zum Erfolg verhelfen. Dafür sei vielmehr erforderlich, dass das Gericht von dem Vorliegen einer wesentlichen Änderung
im Sinne des § 48 SGB X überzeugt sei. Da dies nicht der Fall sei, würden bestehende Unsicherheiten nach den Grundsätzen der objektiven Beweislast
zu Lasten der Beklagten gehen. Erst recht könne nicht auf die Regelung des § 45 SGB X abgestellt werden, da hierfür sogar erforderlich sei, dass die Klägerin zu keiner Zeit die Leistungsvoraussetzungen für die
Pflegestufe I erfüllt hätte.
Die Beklagte hat gegen das ihr am 23. Januar 2015 zugestellte Urteil am 10. Februar 2015 Berufung eingelegt. Sie betont nochmals,
dass die Angaben der Klägerin und ihres Ehemannes über die Durchführung der Pflege widersprüchlich seien. Zudem sei die Klägerin
in dem Termin vor dem Sozialgericht relativ flüssig gehend und ohne Handstock erschienen. Ein Tremor der Hände sei nicht erkennbar
gewesen und sie habe ohne Probleme aufstehen und sich wieder setzen können. Schließlich stützt die Beklagte ihre Entscheidung
weiterhin ergänzend auf § 45 SGB X.
Die Beklagte beantragt,
unter Aufhebung des Urteils des Sozialgerichts Hamburg vom 28. November 2014 die Klage abzuweisen.
Die Klägerin hat keinen Antrag gestellt.
Mit Verfügung vom 14. Juli 2015 hat das Gericht darauf hingewiesen, dass beabsichtig sei, die Berufung mit Beschluss nach
§
153 Abs.
4 Sozialgerichtsgesetz (
SGG) zurückzuweisen und bot Gelegenheit zur Stellungnahme.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die vorbereitenden Schriftsätze der Beteiligten sowie
den weiteren Inhalt der Prozessakte und der beigezogenen Verwaltungsakte der Beklagten sowie der ebenfalls beigezogenen Akten
des Sozialgerichts S 33 P 40/12 und S 33 P 62/11 Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
II.
Der Senat weist die statthafte (§§
143,
144 SGG) und auch im Übrigen zulässige, insbesondere form- und fristgerecht (§
151 SGG) eingelegte Berufung nach Anhörung der Beteiligten (§
153 Abs.
4 Satz 2
SGG) durch Beschluss zurück, weil er sie einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält
(§
153 Abs.
4 Satz 1
SGG).
Das Sozialgericht hat in seinem Urteil vom 28. November 2014 zu Recht angenommen, dass seit der Bewilligung der Pflegestufe
I im Oktober 2004 keine wesentliche Änderung in den Verhältnissen im Sinne des § 48 SGB X nachgewiesen ist, die eine Aufhebung der erfolgten Bewilligung rechtfertigen könnten. Erst recht gibt es keine Anhaltspunkte
dafür, dass von vornherein die Bewilligung der Pflegestufe zu Unrecht erfolgt ist. Daher hat es das Sozialgericht auch zutreffend
abgelehnt, die streitigen Bescheide auf § 45 SGB X zu stützen.
Das Sozialgericht hat in seiner Entscheidung alle Gesichtspunkte des Falles umfassend und nach Ansicht des Senates völlig
zutreffend erfasst und abgehandelt. Hierauf wird nach §
153 Abs.
2 SGG vollumfänglich Bezug genommen.
Mit der Berufung trägt die Beklagte keine neuen Umstände vor, sondern wiederholt im Wesentlichen ihre Argumente aus dem erstinstanzlichen
Verfahren. Für den Senat ist daher kein Grund ersichtlich, von der Entscheidung des Sozialgerichts abzuweichen.
Nur ergänzend wird daher - wie auch schon vom Sozialgericht - darauf hingewiesen, dass es vorliegend rechtlich um eine Aufhebungssituation
geht. Das bedeutet, dass die streitgegenständlichen Bescheide nur dann Bestand haben können, wenn zur vollen Überzeugung des
Gerichtes - also mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit - feststeht, dass die Voraussetzungen für die Gewährung der
Pflegestufe I (für den Fall des § 45 SGB X) schon zum Zeitpunkt der Bewilligung nicht vorlagen bzw. (für den Fall des § 48 SGB X) im Zeitraum nach der Bewilligung entfallen sind. Davon kann unter Berücksichtigung der vorliegenden Erkenntnisse nicht ausgegangen
werden.
Unstreitig leidet die Klägerin an einer schwerwiegenden, nicht heilbaren und ständig weiter fortschreitenden Erkrankung. Sowohl
der von der Beklagten beauftragte MDK als auch der vom Gericht beauftragte Sachverständige haben in mehreren Gutachten zu
unterschiedlichen Zeitpunkten übereinstimmend das Vorliegen der Voraussetzungen für die Gewährung der Pflegestufe I festgestellt.
Will man dies - wie nunmehr die Beklagte - anders sehen, läuft dies auf den Vorwurf hinaus, dass die Klägerin die ganze Zeit
über einen tatsächlich nicht vorhandenen Pflegebedarf vorgetäuscht hat. Um diesen Vorwurf zu beweisen, bedarf es vor dem Hintergrund
der bestehenden Erkrankung und der gutachterlichen Feststellungen Erkenntnisse von durchschlagender Aussage- und Überzeugungskraft.
Nicht ausreichend ist es dafür, dass anlässlich einer Begutachtung des Ehemannes der Klägerin von der dortigen Gutachterin
"flinke Bewegungsabläufe" und ein "freies Gehen" bei der Klägerin bemerkt wurden. Vor diesem Hintergrund ist es nicht nachvollziehbar,
dass die Beklagte diese eher vagen und zufälligen Beobachtungen zum Anlass genommen hat, die Leistungsbewilligung "sofort"
(vgl. Aktenvermerk Blatt 42 der Verwaltungsakte) aufzuheben, nachdem noch wenige Wochen zuvor aufgrund einer Begutachtung
durch den MDK das Fortbestehen der Leistungsvoraussetzungen festgestellt worden war. Hier wären vielmehr weitere Ermittlungen
nötig gewesen, um begründet davon ausgehen zu können, dass die Leistungsvoraussetzungen tatsächlich nicht vorliegen. Die vom
Sozialgericht durchgeführten Ermittlungen haben die Vermutung der Beklagten nicht bewiesen. Vielmehr bestätigte der gerichtliche
Gutachter das Vorliegen der Pflegestufe I. Die weiteren von der Beklagten vorgetragenen Indizien, wie die Bewegungen und das
Verhalten der Klägerin während der mündlichen Verhandlung hat bereits das Sozialgericht ausführlich und zutreffend unter Berücksichtigung
der hierzu vom Sachverständigen gemachten Ausführungen gewürdigt.
Die Kostenentscheidung beruht auf §
193 SGG. Gründe für die Zulassung der Revision sind nicht ersichtlich.