Voraussetzungen der wirksamen Zustellung eines elektronischen Dokuments
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über die Gewährung einer Verletztenrente aufgrund zweier Arbeitsunfälle des Klägers.
Der 1970 geborene Kläger war Profi-Eishockeyspieler. Am 18. März 2009 zog sich der Kläger eine Verletzung des rechten Sprunggelenkes
und des Bandapparates zu. Die weiteren Untersuchungen ergaben u.a. eine Teilläsion des Innenbandkomplexes; eine Fraktur konnte
ausgeschlossen werden. Die Behandlung wurde am 31. Juli 2009 abgeschlossen.
Am 10. März 2014 beantragte der Kläger Leistungen aufgrund des Ereignisses, weil er immer noch über Beschwerden im Bereich
des rechten Knöchels leide. Auf Veranlassung der Beklagten erstattete Dr. T1 unter dem 8. Dezember 2016 ein erstes Rentengutachten.
Der Gutachter diagnostizierte einen Zustand nach schwerer Sprunggelenksdistorsion rechts mit Deltabandteilruptur sowie Teilriss
der fibularen Bänder, posttraumatische Osteochondrosis dissecans der innenseitigen Sprungbeinschulter rechts, geringgradige
posttraumatische Arthrose im oberen Sprunggelenk, anhaltende Belastungsschmerzen im rechten Sprunggelenk und röntgenlogisch
erkennbare posttraumatische Veränderungen im Sprunggelenk. Die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) sei vom 1. August 2009
bis zum 8. November 2016 mit 20 vom Hundert (v.H.) und ebenfalls mit 20 v.H. darüber hinaus einzuschätzen.
Unter dem 4. Januar 2017 nahm Dr. G. für die Beklagte beratungsärztlich Stellung mit der Bemerkung, die MdE sei mit unter
10 v.H. aufgrund der objektiv mitgeteilten Befunde einzuschätzen und die Osteochondrosis dissecans sei nicht unfallbedingt
anzunehmen. Mit Bescheid vom 10. Januar 2017 lehnte die Beklagte daraufhin die Gewährung einer Rente aufgrund des Unfallereignisses
vom 18. März 2009 ab. Als Folge des Versicherungsfalles erkannte die Beklagte an: „Ohne funktionelle Einschränkungen verheilte,
konservativ behandelte Zerrung des rechten, oberen Sprunggelenks mit Einrissen im Innen- und Außenband“. Der Widerspruch des
Klägers blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 30. März 2017). Hiergegen hat der Kläger Klage erhoben.
Am 21. April 2013 erlitt der Kläger bei einem Eishockeyspiel eine Schädelprellung, die bis zum 13. Mai 2013 Arbeitsunfähigkeit
verursachte. Im März 2014 beantragte der Kläger auch hier Leistungen aufgrund dieses Unfallereignisses bei der Beklagten.
Unter dem 11. Oktober 2016 erstattete der Facharzt für Hals-Nerven-Ohrenmedizin (HNO) Dr. R. ein erstes Rentengutachten. Der
Gutachter diagnostizierte eine unfallbedingte funktionelle Anosmie nach commotio cerebri als Unfallfolgen. Er schätzte die
unfallbedingte MdE mit 15 v.H. ab 14. Mai 2013 auf Dauer ein. Unter dem 4. Januar 2017 nahm Dr. G. beratungsärztlich Stellung
und führte zusammengefasst aus, das Gutachten könne nicht schlüssig darlegen, welches unfallbedingte Korrelat (Schädel-Hirn-Trauma)
mit struktureller Hirnschädigung die festgestellte hochgradige Riechstörung verursacht haben sollte. Mit Bescheid vom 10.
Januar 2017 lehnte die Beklagte daraufhin die Gewährung einer Rente auch aufgrund des Ereignisses vom 21. April 2013 ab und
erkannte als Folgen des Versicherungsfalles eine ohne funktionelle Beeinträchtigung verheilte Schädelprellung an. Auf den
Widerspruch des Klägers hin erstattete der HNO-Arzt Dr. H. am 7. April 2017 ein Gutachten und führte aus, die Tatsache, dass
am Tag nach dem Unfallereignis der Patient immer noch desorientiert gewesen sei, spreche für ein doch erhebliches stumpfes
Schädeltrauma. Bei einem solchen vermute man, dass es durch die Beschleunigungswirkung der einwirkenden Kraft zu einem Abscheren
der Riechfäden im Bereich der Schädelbasis kommen könne. Insoweit sei der Geruchsverlust unmittelbar nach dem Unfall vorhanden
gewesen. Aufgrund der Auswirkungen einer beidseitigen Anosmie sei diese nach der derzeitig gültigen Literatur bei abstrakter
Bewertung mit 15 v.H. einzuschätzen. Insoweit liege ein Dauerschaden vor, eine Besserung der Anosmie gebe es nicht.
Auf Veranlassung der Beklagten erstattete sodann der Facharzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. P. unter dem 24. Juli 2017
ein neurologisch-psychiatrisches Gutachten nach Untersuchung des Klägers. Zusammenfassend kommt der Gutachter zum Ergebnis,
es handele sich beim Zustand des Klägers um einen solchen nach einem Schädel-Hirn-Trauma mit Hinweisen auf eine strukturelle
Verletzung. Ebenso liege eine Anosmie vor. Die MdE sei mit 15 v.H. einzuschätzen.
Mit Bescheid vom 9. August 2017 half die Beklagte dem Widerspruch des Klägers gegen den Bescheid vom 10. Januar 2017 teilweise
ab, indem sie den Verlust des Geruchssinnes (Anosmie) als Unfallfolge anerkannte. Im Übrigen wies sie den Widerspruch des
Klägers mit Widerspruchsbescheid vom 31. August 2017 zurück. Zur Begründung führte die Beklagte zusammengefasst aus, eine
MdE im rentenberechtigenden Grade liege nicht vor. Der Verlust des Riechvermögens als Unfallfolge begründe eine MdE von 15
v.H.. Eine entsprechende Feststellung einer Rente von 15 v.H. ohne eine weitere Stütz-MdE sei aber nicht zulässig. Auch hiergegen
hat der Kläger Klage erhoben.
Das Sozialgericht hat die beiden Verfahren zur gemeinsamen Entscheidung miteinander verbunden und Beweis erhoben durch Einholung
eines Gutachtens des Facharztes für Chirurgie-Unfallchirurgie und Sozialmedizin Dr. T. im Januar 2018. Dieser hat ausgeführt,
die Kernspintomografie des rechten Sprunggelenkes vom 6. April 2009 zeige bereits eine Osteochondrosis dissecans Grad 1 an
der inneren Sprungbeinschulter. Ein wesentliches Knochenmarködem, als Ausdruck einer äußeren Gewalteinwirkung am Sprungbein
(bone bruise) habe hingegen nicht bestanden. Knapp sieben Jahre nach dem Ereignis sei der Kläger wieder ärztlich vorstellig
geworden. Die Osteochondrosis dissecans als Gesundheitsstörung habe sich weiterentwickelt. Diese Gesundheitsstörung habe unfallunabhängig
vorgelegen. Die von Dr. T1 im Ersten Rentengutachten mitgeteilten Funktionsdaten rechtfertigten eine MdE unter 10 v.H.. Die
MdE durch das Unfallereignis vom 21. April 2013 könne mit 15 v.H. durch die Anosmie bestätigt werden.
Auf Antrag des Klägers hat des Weiteren der Facharzt für Unfallchirurgie, Chirurgie und Orthopädie Dr. H1 unter dem 31. August
2018 ein Gutachten erstattet. Dieser hat einen diffusen Druckschmerz im Bereich des Innenknöchels/medialer oberer Gelenksspalt
rechts, einen Provokationsschmerz bei forcierter Supination/Eversion des Fußes rechts, eine ödematöse Schwellung des rechten
Sprunggelenks, eine klinisch nachweisbare anteriore Instabilität und Rotationsinstabilität, einen seitvergleichend weichen
überdehnbaren Bandapparat des oberen Sprunggelenkes rechts bei geringer Einschränkung aktiver Beweglichkeit des oberen Sprunggelenk
rechts und geringer Einschränkung koordinativer Fähigkeiten festgestellt. Die MdE werde mit 20 v.H. eingeschätzt. Der Gutachter
hat hierzu ausgeführt, diese Einschätzung orientiere sich nicht an den starren Sichtweisen der Gliedertaxe, bei welcher Instabilitäten,
Muskelminderungen mit Kraftverlust, Beinlängendifferenzen, neurogene Störungen etc., die sich durchaus additiv auswirken würden,
unberücksichtigt blieben. Modulare Bewertungssysteme würden in der Gutachtenkommission kontrovers diskutiert, hätten aber
ihre Anerkennung. Er gehe von einer unfallbedingten Osteochondrosis dissecans aus. Beide Gutachter haben noch ergänzend Stellung
genommen und sind dabei im Ergebnis bei ihrer jeweiligen Meinung geblieben.
Das Sozialgericht hat die Klagen durch Gerichtsbescheid vom 15. Januar 2020 abgewiesen und ist dabei im Wesentlichen den Bescheiden
der Beklagten und dem Gutachten des Dr. T. gefolgt. Die Osteochondrosis dissecans sei keine Folge des Unfallereignisses, denn
diese Gesundheitsstörung/Krankheit sei bereits in der ersten MRT-Aufnahme als vorbestehend zu erkennen gewesen. Eine erforderliche
komplexe Schädigung mit Verrenkungsstellung des Sprunggelenkes sei beim Kläger durch das Unfallereignis nicht eingetreten.
Dies zeige der Heilverlauf und die weiterhin nach dem Unfallereignis ausgeübte Tätigkeit als Profi-Eishockeyspieler. Die Genese
einer medialen Osteochondrosis dissecans sei auch nicht unfalltypisch, wie Dr. T. ausgeführt habe. Im Übrigen lägen die funktionellen
Bewegungsausmaße, die bei der MdE-Bemessung zu Grunde zu legen seien, auch nach der Feststellung durch Dr. H1 bei einem fast
seitengleichen Ergebnis. So habe dieser beim Kläger am 23. August 2018 am unfallbetroffenen rechten oberen Sprunggelenk einen
Wert von 10-0-40 und links von 20-0-50 gemessen. Dies könne eine MdE in rentenberechtigendem Grade nicht begründen. Eine MdE
unter 20 v.H. bzw. eine MdE von 10 oder 15 v.H. sei ohne Stützrententatbestand nicht festzustellen.
Der Gerichtsbescheid ist den Beteiligten am 23. Januar 2020 gegen Empfangsbekenntnis zugesendet worden, dem Bevollmächtigten
des Klägers an sein elektronisches Postfach als Syndikusanwalt der V. AG. Der Bevollmächtigte des Klägers verfügt über zwei
elektronische Postfächer, die nach dem Bundesweiten Amtlichen Anwaltsverzeichnis wie folgt gekennzeichnet sind:
1. Rechtsanwalt (Syndikusrechtsanwalt)
V. AG Brieffach _____
Herr Rechtsanwalt
2. Rechtsanwalt
V. AG
Am 5. März 2020 und am 19. März 2020 wurde der Bevollmächtigte an die Übersendung des Empfangsbekenntnisses erinnert. Der
Bevollmächtigte nahm daraufhin dahingehend Stellung, die Zustellung sei an das falsche Postfach als Syndikusanwalt erfolgt,
er weise diese zurück und bitte um Zustellung an sein privates Postfach. Daraufhin wurde unter Hinweis auf eine nach Auffassung
des Vorsitzenden des Sozialgerichts bereits ordnungsgemäß erfolgte Zustellung der Gerichtsbescheid mit einfacher Post nochmals
am 2. April 2020 an den Bevollmächtigten des Klägers abgeschickt.
Am 31. März 2020 hat der Bevollmächtigte des Klägers Berufung eingelegt. Er ist der Auffassung, die Berufung sei rechtzeitig,
da eine wirksame Zustellung nicht erfolgt sei. Auf Hinweis des Vorsitzenden, dass die Zustellung an das besondere Anwaltspostfach
bei der V. AG den Angaben im Briefkopf des Bevollmächtigten entsprechend wirksam erfolgt sein dürfte, hat der Bevollmächtigte
Folgendes ausgeführt:
„Ich verfüge - wie gesetzlich vorgeschrieben - über zwei besondere elektronische Anwaltspostfächer, einmal als Syndikusanwalt
und einmal als niedergelassener Anwalt. Das Postfach als Syndikusanwalt trägt daher hinter meinem Namen den Zusatz V. R in
Klammern. Hierdurch wird eindeutig zum Ausdruck gebracht, dass es sich um das Postfach als Syndikusanwalt handelt und damit
nur Schriftverkehr die V. GmbH betreffend in dieses Postfach zu versenden ist. Hieran ändert auch die Verwendung des Zusatzes
c/o bei der postalischen Anschrift nichts, denn c/o bedeutet insoweit lediglich bei, es wird allerdings weiterhin deutlich,
dass es die Person G.S. als Einzelanwalt betrifft. Daher ist eine ersatzweise Zustellung erst durch Kenntnisnahme am 16.03.2020
erfolgt, die Berufungsfrist somit durch die Berufungseinlegung am 01.04.2020 gewahrt. Da das Sozialgericht zuvor nur auf postalischem
Wege kommuniziert hatte, hätte es bei Vorliegen zweier Postfächer und erstmaliger Nutzung der elektronischen Zustellung für
den Gerichtsbescheid zudem ermitteln und darlegen müssen, warum es welches Postfach ausgewählt und nicht sicherheitshalber
an beide Postfächer zugestellt oder beim Klägervertreter nachgefragt hat.
Doch selbst bei Zugrundelegung der gegenteiligen Auffassung müsste zunächst einmal ein fiktiver Zustellungszeitpunkt ermittelt
werden, an dem die Berufungsfrist zu laufen begonnen hätte. Hierzu führt das Gericht nichts aus.
Daher ist über die Berufung in der Sache zu entscheiden, die Berufungsfrist wurde gewahrt.“
Inhaltlich ist er der Auffassung, das Gutachten des Dr. T. überzeuge nicht, es sei dem Gutachten des Dr. H1 und der Einschätzung
der im Verwaltungsverfahren beauftragten Gutachter zu folgen.
Der Kläger beantragt,
den Gerichtsbescheid des SG Hamburg vom 15. Januar 2020 aufzuheben und den Bescheid der Beklagten vom 10. Januar 2017 in der
Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30. März 2017 sowie die Bescheide vom 10. Januar 2017 und vom 9. August 2017 in der
Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 31. August 2017 abzuändern und die Beklagte zu verurteilen, eine MdE in Höhe von 15
v.H. aufgrund des Unfallereignisses vom 21. April 2013 festzustellen sowie dem Kläger eine Verletztenrente nach einer MdE
um 20 v.H. zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält die Berufung für verfristet und vertritt im Übrigen die Auffassung, der Gerichtsbescheid sei in der Sache überzeugend
und zutreffend.
Hinsichtlich des weiteren Vorbringens der Beteiligten und des Sachverhalts im Übrigen wird Bezug genommen auf den Inhalt der
ausweislich der Sitzungsniederschrift vom 24. März 2021 zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemachten Akten und Unterlagen.
Entscheidungsgründe
Die nach §§
143,
105 Abs.
2 Satz 1
Sozialgerichtsgesetz (
SGG) gegen den Gerichtsbescheid statthafte Berufung ist unzulässig, da sie außerhalb der gesetzlichen Frist eingelegt worden
ist.
Nach §§
151 Abs.
1,
105 Abs.
1 Satz 3
SGG ist die Berufung bei dem Landessozialgericht innerhalb eines Monats nach Zustellung des Gerichtsbescheides schriftlich oder
zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle einzulegen. Die Berufungsfrist begann nach §
64 Abs.
1 SGG am 24. Januar 2020, und endete nach §
64 Abs.
2 Satz 1
SGG am Montag, den 24. Februar 2020, weil der 23. Februar 2020 ein Sonntag war. Die Berufung ging erst am 30. März 2020, und
damit nach Ablauf der Frist, beim Landessozialgericht ein.
Entgegen der Auffassung des Bevollmächtigten des Klägers ist ihm der Gerichtsbescheid ausweislich der elektronischen Dokumenteneinträge
des Gerichts am 23. Januar 2020 wirksam zugestellt worden. Zugestellt wird gemäß §
63 Abs.
2 Satz 1
SGG von Amts wegen nach den Vorschriften der
Zivilprozessordnung (
ZPO). Bei einer Zustellung eines elektronischen Dokuments durch Empfangsbekenntnis nach §
174 Abs.
3 und
4 ZPO – wie vorliegend – ist Zustellungsdatum der Tag, an dem der Zustellungsadressat vom Zugang des übermittelten Schriftstücks
persönlich Kenntnis erlangt und es empfangsbereit entgegennimmt (BSG, Urteil vom 13. Mai 2015 – B 6 KA 18/14 R –, juris; BGH, Beschluss vom 20. Juli 2006 – I ZB 39/05 –, juris m.w.N.). Auf die Frage, ob der Rechtsanwalt das Schriftstück auch inhaltlich zur Kenntnis genommen hat, kommt es
dagegen nicht an. Hinzukommen muss, dass der Empfangswille durch Unterzeichnung des Empfangsbekenntnisses, bei dem es sich
um eine öffentliche Urkunde handelt, beurkundet wird (BGH, Beschluss vom 20. Juli 2006 – I ZB 39/05 –, juris Rdnr. 7).
Die Übermittlung des Gerichtsbescheides ist zunächst ordnungsgemäß an die Person des Bevollmächtigten des Klägers erfolgt.
Der Umstand, dass an das elektronische Syndikusanwaltspostfach zugestellt worden ist, hindert die ordnungsgemäße Zustellung
nicht. Zugestellt wird an die Person, nicht an „ein Postfach“, vgl. §
166 Abs.
1 ZPO, und Inhaber des elektronischen Postfachs, und damit Adressat der Zustellung, war unbestritten der Bevollmächtigte des Klägers.
Dies ergibt sich bereits daraus, dass ihn der Gerichtsbescheid auch tatsächlich erreicht hat, denn er hat am 30. März 2020
Berufung unter inhaltlicher Bezugnahme auf die Entscheidung eingelegt, bevor diese erneut am 2. April 2020 an ihn abgesendet
wurde. Der Inhaber eines elektronischen Postfachs ist im Übrigen nach § 31a Abs. 6 Bundesrechtsanwaltsordnung (BRAO) unter anderem auch verpflichtet, Zustellungen und den Zugang von Mitteilungen über das besondere elektronische Anwaltspostfach
zur Kenntnis zu nehmen. Darüber hinaus hat, ohne dass es im Ergebnis darauf ankäme, der Bevollmächtigte auch durch seinen
Briefkopf mit der Bezeichnung „c/o V. GmbH“ den Anschein gesetzt, über das Postfach der V. AG erreichbar zu sein. „c/o“, also
„care of“, bedeutet nämlich im allgemeinen Schriftverkehr die (alleinige) Erreichbarkeit über die dann folgende Adresse.
Voraussetzung einer wirksamen Zustellung gegen Empfangsbekenntnis an eine der in §
174 Abs.
1 ZPO aufgeführten Personen ist neben der Übermittlung des Schriftstücks in Zustellungsabsicht die Empfangsbereitschaft des Empfängers.
Die Entgegennahme des zuzustellenden Schriftstücks muss mit dem Willen erfolgen, es als zugestellt gegen sich gelten zu lassen.
Hinzukommen muss, wie oben dargelegt, dass der Empfangswille durch Unterzeichnung des Empfangsbekenntnisses, bei dem es sich
um eine öffentliche Urkunde handelt, beurkundet wird (BGH, Beschluss vom 20. Juli 2006 – I ZB 39/05, juris). Vorliegend hat indes der Bevollmächtigte entgegen seiner aus § 14 Berufsordnung für Rechtsanwälte (BORA) folgenden anwaltlichen Verpflichtung das Empfangsbekenntnis nicht unverzüglich zurückgesendet und auch nicht unverzüglich
der Zustellung widersprochen. Eine Zustellung nach §§
63 SGG,
174 ZPO ist daher nicht erfolgt.
Jedoch ist der Zustellmangel nach §
189 ZPO geheilt. Nach dieser Vorschrift gilt ein Dokument, dessen formgerechte Zustellung sich nicht nachweisen lässt oder das unter
Verletzung zwingender Zustellungsvorschriften zugegangen ist, in dem Zeitpunkt als zugestellt, in dem das Dokument der Person,
an die die Zustellung dem Gesetz gemäß gerichtet war oder gerichtet werden konnte, tatsächlich zugegangen ist. Eine Heilung
durch den tatsächlichen Zugang des Schriftstücks im Sinne des §
189 ZPO setzt voraus, dass das Schriftstück so in den Machtbereich des Adressaten gelangt, dass er es behalten kann und Gelegenheit
zur Kenntnisnahme von dessen Inhalt hat. Zudem kommt die Heilung einer fehlerhaften Zustellung nur beim Vorliegen eines Zustellungswillens
in Betracht, mithin dann, wenn eine formgerechte Zustellung von dem Gericht wenigstens angestrebt worden ist (BGH, Beschluss
vom 07. Oktober 2020 – XII ZB 167/20, juris). So ist es auch hier. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Zustellung über das elektronische Anwaltspostfach erfolgte.
Bei diesem tritt, sofern keine technischen Probleme bestehen, der Zugang in den Machtbereich des Adressaten – also unmittelbar
des Anwalts selbst – zuverlässig innerhalb weniger Minuten ein. Im Gegensatz zur postalischen Zustellung tritt dieser Vorgang
– was als allgemeinkundig erachtet wird – unverzüglich ein und zwar ohne irgendeine fehleranfällige Zwischenschaltung von
Dienstleistern wie der D. oder Hilfspersonal des Anwalts. Gleichzeitig kann in diesem Fall ausschließlich der Empfänger selbst
Auskunft über den genauen Zeitpunkt des Zugangs geben oder technische Schwierigkeiten geltend machen.
Technische Probleme haben zum fraglichen Zeitpunkt, dem 23. Januar 2020, nicht bestanden und sind auch nicht geltend gemacht
worden. Es ist daher von einem Zugang noch am Tag der Übersendung des Gerichtsbescheides an das elektronische Postfach des
Klägerbevollmächtigten auszugehen. Der Bevollmächtigte war auch tatsächlich empfangsbereit, denn er hat den Gerichtsbescheid
ja – trotz gegenteiligen Ausführungen gegenüber dem Sozialgericht, welche indes auch erst nach Ablauf der Berufungsfrist erfolgt
sind – tatsächlich nicht zurückgewiesen, sondern das Dokument im Gegenteil geöffnet und darauf reagiert. Dies ergibt sich
daraus, dass die Berufung am 30. März 2020 mit inhaltlicher Bezugnahme auf den Gerichtsbescheid beim Landessozialgericht einging
und damit vor der erneuten Absendung des Gerichtsbescheides an den Klägerbevollmächtigten am 2. April 2020. Da keine technischen
Schwierigkeiten geltend gemacht werden oder sonst aufgetreten sind, sondern allein, wie oben dargelegt unzutreffend die „falsche
Zustellung“ gerügt wird, ist von einem regelhaften Zugang der Entscheidung in einem elektronischen Postfach des Klägerbevollmächtigten
noch am Tag der Absendung und damit von einer nach §
189 ZPO wirksam geheilten Zustellung auszugehen.
Die Berufung war daher als unzulässig zu verwerfen.
Die Kostenentscheidung beruht auf §
193 SGG und entspricht dem Ausgang des Rechtsstreits; Gründe für eine Zulassung der Revision sind nicht ersichtlich.