Feststellung einer Berufskrankheit
Haftungsbegründende Kausalität
Anforderungen an den Beweismaßstab
Tatbestand:
Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob der Kläger hinsichtlich einer Störung der Sexualfunktion, der Leberfunktion, des
Fettstoffwechsels, der Nierenfunktion und hinsichtlich eines Diabetes mellitus an einer Berufskrankheit (BK) nach Nr. 1302
(Erkrankungen durch Halogenkohlenwasserstoffe - BK 1302), Nr. 1303 (Erkrankungen durch Benzol, seine Homologe oder durch Styrol
- BK 1303) und/oder Nr. 1310 (Erkrankungen durch halogenierte Alkyl-, Aryl- oder Alkylaryloxide - BK 1310) der Anlage 1 zur
Berufskrankheiten-Verordnung (
BKV) leidet.
Der 1937 geborene Kläger war von Mai 1975 bis Januar 1979 in dem damaligen H. Werk des Unternehmens B. (im Folgenden: Fa.
B.) beschäftigt und während dieser Tätigkeiten unter anderem den Einwirkungen von Hexachlorcyclohexan (HCH) und Benzol sowie
von Stoffen aus der Gruppe der Dioxine ausgesetzt, also Schadstoffen im Sinne der BKen 1302, 1303 und 1310. Bei seinen vorherigen
(Maurerausbildung, Seefahrt) und späteren (Hafenarbeiter) beruflichen Tätigkeiten bestand keine Exposition gegenüber Schadstoffen
im Sinne dieser BKen.
Erstmals im Juli 1993 beantragte er bei einer der Rechtsvorgängerinnen der Beklagten die Anerkennung einer Berufskrankheit,
weil er seit der Tätigkeit für die Fa. B. und in letzter Zeit vermehrt auftretende Kopfschmerzen, eine innerliche Unruhe sowie
Störungen von Konzentration und Schlaf auf die Schadstoffbelastung durch Dioxin und HCH zurückführte. Dieser Antrag blieb
ohne Erfolg (Bescheid vom 18. Oktober 1995 / Widerspruchsbescheid vom 30. Oktober 1996 über die Ablehnung einer BK 1310, Bescheid
vom 10. Oktober 1996 / Widerspruchsbescheid vom 22. Dezember 1998 über die Ablehnung einer BK 1302, miteinander verbundene
Klagen beim Sozialgericht (SG) Hamburg S 25 U 579/96 und S 25 U 10/99 (führend), abweisendes Urteil vom 22. November 2000 bezüglich der BK 1302 nach Teilrücknahme bezüglich der BK 1310, die Berufung
zurückweisendes Urteil des Landessozialgerichts (LSG) Hamburg vom 13. Januar 2004 - L 3 U 33/01).
Ebenfalls erfolglos blieb ein Antrag auf Anerkennung einerseits einer BK 1302 im Rahmen eines Überprüfungsverfahrens nach
§ 44 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) sowie andererseits einer BK 1317 (Polyneuropathie oder Enzephalopathie durch organische Lösungsmittel oder deren Gemische)
vom 10. März 2005 (Bescheide vom 4. August 2005 / Widerspruchsbescheide vom 26. September 2006, miteinander verbundene Klagen
S 24 U 296/06 und S 24 U 297/06 (führend), abweisendes Urteil des SG Hamburg vom 13. Mai 2009, Berufung beim LSG Hamburg L 3 U 38/09). In der mündlichen Verhandlung des Berufungsverfahrens wurde am 10. Dezember 2013 nach Hinweis des Gerichts darauf, dass
Streitgegenstand ausschließlich die BK 1317 unter dem Blickwinkel der im BK-Tatbestand genannten Krankheitsbilder und die
BK 1302 unter dem Blickwinkel der allein geprüften und beschiedenen Gesundheitsstörungen "Kopfschmerzen, innere Unruhe sowie
Schlaf-und Konzentrationsstörungen" seien, der Rechtsstreit für erledigt erklärt, nachdem die Beklagte sich zu Protokoll verpflichtet
hatte, auf der Grundlage des bei ihr am 29. April 2005 eingegangenen (dem Feststellungsantrag des Klägers vom 10. März 2005
nachfolgenden) Schreibens von Prof. Dr. M. (damals Zentralinstitut für Arbeitsmedizin und tätig in der Beratungsstelle für
ehemalige Mitarbeiter des H. Werks der Fa. B., der 1993 die erste BK-Anzeige erstattet und bei dem sich der Kläger erstmals
im Juli 1989 vorgestellt hatte) "hinsichtlich einer Störung der Sexualfunktion, der Leberfunktion, des Fettstoffwechsels und
hinsichtlich eines Diabetes mellitus sowie der ab 2010 aufgetretenen Störung der Nierenfunktion" in eine erstmalige Prüfung
der BKen 1302, 1303 und 1310 einzutreten und den Kläger entsprechend zu bescheiden.
Nachdem der Kläger schriftlich unter dem 31. Dezember 2013 auch die Feststellung einer Wie-BK nach §
9 Abs.
2 Sozialgesetzbuch Siebtes Buch (
SGB VII) beantragt hatte, holte die Beklagte eine Stellungnahme ihres beratenden Arztes und Facharztes für Arbeitsmedizin, Umweltmedizin
Dr. P. ein, der unter dem 31. Januar 2014 mit telefonischer Ergänzung vom 25. März 2014 ausführte, dass sich ein ursächlicher
Zusammenhang zwischen der beruflichen Schadstoffbelastung des Klägers bei der Fa. B. und den geltend gemachten Gesundheitsstörungen
nicht wahrscheinlich machen lasse. Neue wissenschaftlich gesicherte Erkenntnisse für bisher nicht berücksichtigte berufliche
Ursachen der als BK angezeigten Krankheitsbilder lägen nicht vor. Dies gelte auch für mögliche Kombinationswirkungen der diskutierten
Stoffe. Auch eine vom damaligen Prozessbevollmächtigten des Klägers vorgetragene Polyneuropathie sei nicht festgestellt worden.
Nachdem sich die staatliche Gewerbeärztin Dr. M1 dem in einer Stellungnahme vom 1. April 2014 angeschlossen hatte, lehnte
die Beklagte mit Bescheid vom 8. Mai 2014 die Anerkennung der Störung der Sexualfunktion, der Leberfunktion, des Fettstoffwechsels,
der Nierenfunktion sowie der Diabeteserkrankung als BKen 1302, 1303 und 1310 oder als Wie-BK ab. Es bestünden auch keine Polyneuropathie
oder Enzephalopathie, die als Wie-BK anerkannt werden könnten. Zur Begründung führte die Beklagte aus, zu einer möglichen
BK 1303 existierten medizinisch-wissenschaftlich gesicherte Erkenntnisse über einen Kausalzusammenhang von Benzol mit Diabetes,
Fettstoffwechselstörungen und Nierenschädigungen nicht. Eine Störung der Sexualfunktion wäre allenfalls als Symptom einer
durch Benzol verursachten toxischen Enzephalopathie und/oder Polyneuropathie denkbar. Eine toxische Enzephalopathie oder Polyneuropathie
bestehe nach den umfangreichen Ermittlungen in den geführten Vorverfahren nicht. Auch für eine benzolbedingte Störung der
Leberfunktion seien keine Anhaltspunkte gegeben, weil Benzol keine starke lebertoxische Wirkung besitze. Leberwertveränderungen
müssten daher schon während der Zeit der Benzoleinwirkung vorhanden gewesen sein. Entsprechende Befunde existierten allerdings
nicht. Hinsichtlich einer möglichen BK 1302 oder BK 1310 existierten keine gesicherten medizinisch wissenschaftlichen Erkenntnisse,
dass HCH generell geeignet sei, eine Diabeteserkrankung oder Fettstoffwechselstörung zu verursachen. Die Verursachung einer
Nierenerkrankung sei möglich, allerdings müsse es sich um einen tubulären Nierenschaden handeln. Ein solcher liege nach dem
medizinischen Bild beim Kläger nicht vor. Bezüglich der Störung der Sexualfunktion gelte das gleiche, wie schon zur BK 1303
ausgeführt. Auch für die übrigen Krankheitsbilder habe schon in den umfangreichen Verwaltungs- und Gerichtsverfahren ein Kausalzusammenhang
mit einer Einwirkung gegenüber HCH und Dioxin ausgeschlossen werden können. Hinsichtlich der ebenfalls begehrten Anerkennung
einer Wie-BK existierten keine neuen gesicherten medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnisse darüber, dass die Stoffe der
BKen 1302, 1303 und 1310 im Einzelnen oder auch in Kombination miteinander eine der vom Kläger geltend gemachten Erkrankungen
verursachen könnten.
Den hiergegen am 12. Juni 2014 eingelegten Widerspruch des Klägers wies die Beklagte mit am Folgetag abgesandtem Widerspruchsbescheid
vom 13. Januar 2015 zurück. Am 16. Februar 2015 hat der Kläger Klage beim SG Hamburg erhoben und unter Bezugnahme auf eine
Stellungnahme des emeritierten Tropen- und Umweltmediziners Prof. Dr. F. vorgetragen, es lägen neue medizinisch-wissenschaftliche
Erkenntnisse insbesondere in Gestalt einer schwedischen Studie aus dem Jahr 2011 vor, nach denen seine Gesundheitsstörungen
als BKen 1302, 1303 und/oder 1310 und/oder als Wie-BK anerkannt werden könnten. Danach sei ein Zusammenhang insbesondere zwischen
einer Exposition gegenüber chlorierten Kohlenwasserstoffen / polychlorierten Pestiziden wie HCH und dem Auftreten eines Diabetes
mellitus Typ II signifikant. Wie auch schon in einer saudi-arabischen Studie ablesbar, führe die neurotoxische Wirkung auf
das autonome Nervensystem zu Übergewicht schon im jugendlichen Alter und anschließend zu Diabetes, wie es beim Kläger, der
bei seiner Exposition ebenfalls jugendlich gewesen sei, der Fall gewesen sei. Die Annahme, die Diabetes-Erkrankung des Klägers
sei durch Lebensstilfaktoren und Übergewicht verursacht worden, sei deshalb nicht haltbar.
Das SG hat Beweis erhoben durch Einholung zweier Sachverständigengutachten. Zunächst ist der Prof. für medizinische Statistik und
Epidemiologie Prof. Dr. U. in einem epidemiologischen Gutachten vom 8. Februar 2016 zu dem Schluss gekommen, dass bei unterschiedlichen
Ergebnissen verschiedener Studien sich insgesamt aus den Meta-Analysen Hinweise auf einen Zusammenhang zwischen einer Exposition
gegenüber Dioxinen und/oder Beta-HCH und dem Auftreten eines Diabetes mellitus erkennen ließen. Insgesamt dürfte hiernach
das Diabetesrisiko des Klägers um maximal etwa 30 % höher als für eine vergleichbare Person ohne Exposition gewesen sein.
Im Hinblick auf die anderen geltend gemachten Erkrankungen lägen keine verwertbaren Daten vor. Sodann hat der Facharzt für
Innere Medizin und Arbeitsmedizin, Lungen- und Bronchialheilkunde, Umweltmedizin und Diplomchemiker Dr. S. unter dem 27. Mai
2015 (gemeint: 2016) nach Untersuchung des Klägers ausgeführt, dass sich ein ursächlicher Zusammenhang zwischen den geltend
gemachten Gesundheitsstörungen und der - nicht sehr hohen - beruflichen Belastung nicht mit ausreichender Wahrscheinlichkeit
belegen lasse. Insbesondere sei es möglich, dass Dioxine und Beta-HCH bei entsprechender Exposition eine Blutzuckererkrankung
auslösen könnten, ein Zusammenhang lasse sich jedoch nicht mit der notwendigen ausreichenden Wahrscheinlichkeit belegen. Bezüglich
Benzol fänden sich keine Studien, die einen Zusammenhang zwischen entsprechender Exposition mit Auftreten von Diabetes mellitus
belegten. Diabetes mellitus sei in der westlichen Welt, auch in Deutschland, eine häufige Erkrankung. In Deutschland litten
etwa 7 % der Bevölkerung an dieser Krankheit, wobei geschätzt werde, dass bei etwa 2 % der Diabetes noch nicht bekannt sei.
95 % der Betroffenen litten an einem Diabetes Typ II, der Form, an der auch der Kläger erkrankt sei. Wesentliche Ursachen
für die Entstehung eines Typ II-Diabetes mellitus seien genetische Disposition, Übergewicht, mangelnde Bewegung sowie andere
Faktoren. Fest stehe im Fall des Klägers, dass bei ihm per se ein deutlich erhöhtes Diabetesrisiko bestanden habe, dies allein
aufgrund des erheblichen Übergewichts. Die außerberuflichen Risikofaktoren überwögen deutlich die beruflichen hinsichtlich
der Entstehung des Diabetes mellitus. Auch ein Zusammenhang der Schadstoffexposition mit der gestörten Sexualfunktion des
Klägers bei objektivierter Sexualhormonerniedrigung lasse sich angesichts der bekannten Studienlage und des Umstands, dass
Patienten mit Übergewicht, chronischen Erkrankungen wie insbesondere dem beim Kläger bestehenden metabolischen Syndrom besonders
betroffen seien, nicht belegen, zumal der Kläger zum Zeitpunkt des Auftretens der Störung 1994 in einem Alter gewesen sei,
in dem fast 20 % aller Männer einen Testosteronmangel aufwiesen. Eine Störung der Leberfunktion sei beim Kläger nicht nachweisbar.
Als wesentliche Ursache für die festgestellte leichte Gamma-GT-Erhöhung sei die Leberzellverfettung aufgrund der deutlich
erhöhten Gesamtfettmenge im Körper anzusehen. Schließlich fänden sich keine epidemiologischen Studien, die einen signifikanten
Zusammenhang zwischen einer Beta-HCH-Belastung in der Größenordnung, wie hier vorliegend, oder einer Dioxinexposition und
einem Leberparenchymschaden oder einer Fettstoffwechselstörung belegten.
Nachdem Dr. S. am 26. April 2016 im Rahmen einer mündlichen Verhandlung sein Gutachten und die Ausführungen von Prof. Dr.
U. erläutert und der Bevollmächtigte des Klägers eine Studie aus dem arabischen Raum vorgelegt hatte, wonach Beta-HCH als
wesentliche Ursache für Diabetes angesehen werden solle, hat Prof. Dr. U. unter dem 20. September 2016 in einer ergänzenden
Stellungnahme mitgeteilt, die vorgelegte Studie enthalte keinen Hinweis auf einen Zusammenhang zwischen Beta-HCH und dem Auftreten
eines Diabetes mellitus.
Nachdem der Kläger sich hierzu unter Hinweis auf einige Studien ausführlich ablehnend geäußert und mitgeteilt hatte, dass
das Versorgungsamt bei ihm ab April 2015 einen Grad der Behinderung (GdB) von 50 mit einem Teil-GdB von 50 für den Diabetes
mellitus, einem solchen von 20 für die Nierenfunktionseinschränkung bei einem Leberschaden mit einem GdB von unter 10 anerkannt
habe, überreichte die Beklagte eine unter dem 24. Mai 2017 erstellte beratungsärztliche Stellungnahme von Dr. P., wonach die
vorgelegten wissenschaftlichen Studien keine wissenschaftlich gesicherten Erkenntnisse über Kausalzusammenhänge zwischen den
Einwirkungen und den geltend gemachten Erkrankungen belegten.
Nach diesbezüglicher Anhörung der Beteiligten hat das SG die Klage mit Gerichtsbescheid vom 8. August 2017 abgewiesen. Die zulässige Anfechtungs- und Feststellungsklage sei unbegründet.
Die angefochtenen Bescheide der Beklagten seien rechtmäßig und verletzten den Kläger nicht in seinen Rechten. Der Kläger habe
keinen Anspruch auf die Feststellung seiner Gesundheitsstörungen - Störung der Sexualfunktion, Leberfunktion, des Stoffwechsels
und der Diabeteserkrankung sowie einer Störung der Nierenfunktion - als eine BK 1302, 1303 und 1310 oder als Wie-BK. Der Kläger
sei während seiner versicherten Tätigkeit bei der Fa. B. zwar den in den BKen 1302, 1303 und 1310 genannten gefährdenden Einwirkungen,
insbesondere Benzol, HCH und Dioxin, ausgesetzt gewesen und leide an den von ihm geltend gemachten Erkrankungen, es könne
jedoch nicht festgestellt werden, dass diese Erkrankungen durch seine versicherte Tätigkeit verursacht worden seien. Das Gericht
könne bereits nicht feststellen, dass der naturwissenschaftliche Zusammenhang (1. Kausalitätsstufe) vorliege. Der Kläger sei
zwar während seiner versicherten Tätigkeit bei der Fa. B. den gefährdenden Schadstoffen ausgesetzt gewesen, die grundsätzlich
geeignet seien, die BKen 1302, 1303 und 1310 zu verursachen. Diese beruflichen Einwirkungen hätten die beim Kläger unstreitig
vorliegenden Erkrankungen nach dem aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstand aber nicht verursacht. Insoweit sei der erforderliche
naturwissenschaftliche Zusammenhang nach den aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen nicht feststellbar. Das Gericht folge
den schlüssigen und zutreffenden Ausführungen der gerichtlich bestellten Sachverständigen Dr. S. und Professor Dr. U ... Der
Sachverständige Professor Dr. U. habe für das Gericht den aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstand zu den neuesten epidemiologischen
Studien dargelegt, dass derzeit ein kausaler Zusammenhang zwischen den Erkrankungen beim Kläger und einer beruflichen Verursachung
wissenschaftlich nicht belegt sei. Das Gericht stelle insoweit fest, dass nach aktuellem wissenschaftlichen Erkenntnisstand
der erforderliche (signifikant erhöhte) Zusammenhang, der nach dem Berufskrankheitenrecht erforderlich sei, in Bezug auf die
Erkrankungen beim Kläger nicht bestehe. Das Gericht folge weiter den Ausführungen des Dr. S., der zum einen darauf hingewiesen
habe, dass die tatsächliche Belastung beim Kläger durch seine berufliche Tätigkeit als nicht hoch einzuschätzen sei, sodass
ein ursächlicher Zusammenhang bereits auch aus diesem Grunde nicht wahrscheinlich zu machen sei. Es spreche naturwissenschaftlich
mehr gegen als für eine berufliche Verursachung.
Gegen dieses, seinem Prozessbevollmächtigten am 9. August 2017 zugestellte Urteil richtet sich die am 8. September 2017 eingelegte
Berufung des Klägers, mit der er ausweislich der Berufungsschrift nur noch die Feststellung einer BK 1302, 1303 und/oder 1310
begehrt und sein vorgerichtliches und erstinstanzliches Vorbringen wiederholt. Er rügt, dass sein ausführlicher Vortrag vom
SG nicht zur Kenntnis genommen und erforderliche Ermittlungen nicht durchgeführt worden seien und zitiert ergänzend Prof. Dr.
F., der auf die neuere wissenschaftliche Abhandlung von Kuo et al. (Kuo/Moon/Thayer/Navas-Aden: Environmental Chemicals and
Type 2 Diabetes - An Updated Systematic Review of the Epidemiologic Evidenz, Curr Diab Rep 13(6), 831-849, 2013) und deren
beigefügtes englischsprachiges Abstract hinweist, die ebenfalls eine Kausalbeziehung zu Diabetes mellitus Typ II nachweise.
In der mündlichen Verhandlung vor dem erkennenden Senat hat er durch seinen Prozessbevollmächtigten eine in englischer Sprache
abgefasste wissenschaftliche Abhandlung mit dem Titel "Polychlorinated Biphenyls, Dioxins, and Diabetes in the Anniston Cohort"
übergeben lassen.
Nachdem er in der Berufungsschrift vom 7. September 2017 noch den Antrag formuliert hatte, unter Aufhebung des angefochtenen
Gerichtsbescheids des SG sowie des Ausgangs- und des Widerspruchsbescheids der Beklagten Letztere zu verurteilen, ihm "antragsgemäße unfallversicherungsrechtliche
Leistungen nach der
BKV Ziffern 1302, 1303 und 1310 zu gewähren", hat der Prozessbevollmächtigte des Klägers in der mündlichen Verhandlung ausdrücklich
nicht einen vom Senat unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) nahegelegten BK-Feststellungsantrag stellen wollen, sondern stellt
den "Antrag aus den Schriftsätzen vom 15. Januar 2018 und 21. Mai 2018 nebst den dort genannten Beweisanträgen".
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält die angefochtene Entscheidung des SG für richtig und nimmt angesichts ihres Erachtens fehlenden neuen Vortrags auf deren Gründe Bezug.
Der Senat hat über die Berufung am 23. Mai 2018 mündlich verhandelt. Zur Ergänzung des Tatbestands wird auf die Sitzungsniederschrift
sowie den weiteren Inhalt der Prozessakte und ausweislich der Sitzungsniederschrift beigezogenen Akten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Der Senat legt das Berufungsbegehren des Klägers dahingehend aus (§
123 Sozialgerichtsgesetz (
SGG)), dass er beantragt, den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Hamburg vom 8. August 2017 sowie den Bescheid der Beklagten
vom 8. Mai 2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13. Januar 2015 aufzuheben und festzustellen, dass er an einer
Berufskrankheit nach Nr. 1302, Nr. 1303 und/oder Nr. 1310 der Anlage 1 zur
Berufskrankheiten-Verordnung leidet. Hierzu sieht der Senat sich trotz der Ablehnung dieses bereits in der mündlichen Verhandlung unterbreiteten Vorschlags
durch den Prozessbevollmächtigten des Klägers gezwungen, weil die hinsichtlich des Antrags zu Protokoll in Bezug genommenen
Schriftsätze vom 15. Januar und 21. Mai 2018 keinen Berufungsantrag enthalten. Das in der bei der Auslegung des Begehrens
heranzuziehenden Berufungsschrift formulierte unspezifizierte Leistungsbegehren dem Grunde nach ist wiederum als Feststellungsbegehren
auszulegen (vgl. Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt,
SGG, 12. Aufl. 2017, §
55 Rn. 13b m.N.).
Die so verstandene Berufung ist statthaft (§§
143,
144 SGG) und auch im Übrigen zulässig, insbesondere form- und fristgerecht eingelegt worden (§
151 SGG).
Sie ist jedoch unbegründet Das SG hat die zulässige kombinierte Anfechtungs- und Feststellungsklage (§ 54 Abs. 1 Satz 1 Var. 1 i.V.m. §
55 Abs.
1 Nr.
1 und §
56 SGG, st. Rspr. des BSG, vgl. nur Urteil vom 4. Dezember 2014 - B 2 U 10/13 R, BSGE 118, 1) mit im Wesentlichen zutreffender Begründung zu Recht abgewiesen. Die angefochtenen Bescheide der Beklagten sind rechtmäßig
und verletzen den Kläger daher nicht in dessen Rechten. Der Kläger leidet hinsichtlich einer Störung der Sexualfunktion, der
Leberfunktion, des Fettstoffwechsels, der Nierenfunktion und hinsichtlich eines Diabetes mellitus an keiner BK 1302, 1303
und/oder 1310. Die noch im Klageverfahren begehrte Feststellung einer Wie-BK ist mangels diesbezüglicher Berufungseinlegung
nicht mehr Gegenstand des Verfahrens.
Ob sich die vom Versicherten verfolgten Ansprüche nach den bis zum 31. Dezember 1996 geltenden Vorschriften der
Reichsversicherungsordnung (
RVO) oder
SGB VII richten (§
212 i.V.m. §
9 Abs.
5 SGB VII), braucht im Ergebnis nicht entschieden zu werden, da zunächst nur der Antrag auf Feststellung einer BK Streitgegenstand
ist.
Nach § 551 Abs.1 Satz 2
RVO bzw. §
9 Abs.1 Satz 1
SGB VII sind BKen Krankheiten, die die Bundesregierung durch Rechtsverordnung mit der Zustimmung des Bundesrates als BKen bezeichnet
hat und die Versicherte infolge einer den Versicherungsschutz nach §§ 539, 540, 543, bis 545
RVO bzw. §§
2,
3 oder 6
SGB VII begründenden Tätigkeit erleiden. Dies setzt voraus, dass eine Krankheit vorliegt, die in der zum Zeitpunkt des Eintritts
des Versicherungsfalls geltenden
BKV aufgeführt ist. Rechtsgrundlage für die Anerkennung einer BK ist § 551
RVO bzw. §
9 Abs.
1 SGB VII i.V.m. §
1 BKV und dem entsprechenden BK-Tatbestand der Anlage 1 zur
BKV. BKen sind danach nur diejenigen Krankheiten, die durch die Bundesregierung durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrats
als solche bezeichnet sind (sog. Listen-BK) und die der Versicherte infolge einer den Versicherungsschutz nach den §§
2,
3 oder 6
SGB VII begründenden Tätigkeit erleiden. Nach ständiger Rechtsprechung des BSG, der sich der erkennende Senat in ebenso ständiger Rechtsprechung anschließt, ist für die Feststellung einer Listen-BK (Versicherungsfall)
erforderlich, dass die Verrichtung einer grundsätzlich versicherten Tätigkeit (sachlicher Zusammenhang) zu Einwirkungen von
Belastungen, Schadstoffen oder ähnlichem auf den Körper geführt hat (Einwirkungskausalität) und diese Einwirkungen eine Krankheit
verursacht haben (haftungsbegründende Kausalität). Dabei müssen die "versicherte Tätigkeit", die "Verrichtung", die "Einwirkungen"
und die "Krankheit" im Sinne des Vollbeweises - also mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit - vorliegen. Für die
nach der Theorie der wesentlichen Bedingung zu beurteilenden Ursachenzusammenhänge genügt indes die hinreichende Wahrscheinlichkeit,
allerdings nicht die bloße Möglichkeit. Der Beweisgrad der hinreichenden Wahrscheinlichkeit ist erfüllt, wenn mehr für als
gegen den Ursachenzusammenhang spricht und ernste Zweifel ausscheiden. Dass die berufsbedingte Erkrankung ggf. den Leistungsfall
auslösende Folgen nach sich zieht (haftungsausfüllende Kausalität), ist keine Voraussetzung einer Listen-BK, wohl aber für
eine Leistung (Leistungsfall) (s. nur BSG, Urteil vom 27. Juni 2017 - B 2 U 17/15 R, UV-Recht Aktuell 2017, 610, m.w.N.).
Für seine Entscheidung geht der Senat davon aus, dass der Versicherte während der versicherten Tätigkeit bei der Fa. B. -
anders als bei seinen früheren und späteren Tätigkeiten - einer Belastung durch HCH, Benzol und Dioxinen und damit Listenstoffen
der BKen 1302, 1303 und 1310 ausgesetzt war.
Es fehlt jedoch an der haftungsbegründenden Kausalität. Es lässt sich nicht feststellen, dass die von Mai 1975 bis Januar
1979 auf den Kläger einwirkende Schadstoffbelastung eine Krankheit im Sinne der streitgegenständlichen BK-Tatbestände verursacht
hat.
Die Beweisaufnahme durch das SG hat ergeben, dass es nach dem maßgeblichen aktuellen medizinischen-wissenschaftlichen Erkenntnisstand an Nachweisen dafür
fehlt, dass die beim Kläger vorliegenden Gesundheitsstörungen signifikant häufiger bei belasteten als bei unbelasteten Personen
auftreten. Die mit den beratungsärztlichen Stellungnahmen des Dr. P. übereinstimmenden Gutachten von Prof. Dr. U. und Dr.
S. nebst ergänzenden Stellungnahmen sind schlüssig und werden durch die Erwiderungen des Klägers mit Bezugnahme insbesondere
auf Stellungnahmen des Prof. Dr. F. nicht infrage gestellt.
Auch die im Berufungsverfahren vom Kläger angeführte aktuelle wissenschaftliche Abhandlung aus dem Jahr 2013 von Kuo et al.
weist mitnichten, wie Prof. Dr. F. allerdings behauptet, eine Kausalbeziehung zwischen der Belastung durch Umweltgifte und
einer Erkrankung an einem Diabetes mellitus Typ II nach. Schon aus dem von der Klägerseite selbst vorgelegten englischsprachigen
diesbezüglichen Abstract ergibt sich, dass es zwar Hinweise auf einen Zusammenhang zwischen der Exposition gegenüber Umweltgiften
mit Adipositas, Diabetes und Stoffwechselerkrankungen ("relationship of environmental chemicals with obesity, diabetes and
metabolic syndrome") gibt, dass es zur weiteren Abklärung jedoch zusätzlicher Studien und Evaluationen bedarf ("Although the
evidence was insufficient to establish causality, "; , we concluded that the evidence is suggestive but not sufficient for
an relationship between persistent organic pollutants; "Important research questions include the need of additional prospective
studies and the evaluation of the dose-response relationship, the role of joint exposures, and effect modification with other
comorbidities and genetic variants."). Damit ergibt sich kein neuer, im Vollbeweis festzustellender medizinisch-wissenschaftlicher
Erkenntnisstand.
Entsprechendes gilt für die erst in der mündlichen Verhandlung kommentarlos eingereichte Abhandlung von Pavuk et. al. Der
Senat geht davon aus, dass diese in einer anderen als der Gerichtssprache deutsch (§
61 Abs.
1 SGG i.V.m. §
184 Gerichtsverfassungsgesetz) verfasste Urkunde nicht verwertbar ist, weil eine Übersetzung fehlt und im Rahmen der mündlichen Verhandlung auch nicht
mehr eingeholt werden konnte. Letztlich kann dies dahingestellt bleiben, weil sich aus der Abhandlung kein neuer medizinisch-wissenschaftlicher
Erkenntnisstand ergibt. Es handelt sich um eine Folgeauswertung im Rahmen einer Langzeitbeobachtung, die in einer Reihe zu
sehen ist mit den von Kuo et al. zur weiteren Abklärung für erforderlich gehaltenen zusätzlichen Studien und Evaluationen.
Hinzu kommt, dass selbst bei der Annahme einer grundsätzlichen Eignung und signifikanten Risikoerhöhung, wie Prof. Dr. U.
es in Bezug auf den Diabetes nach HCH-Exposition getan hat, ohne dass der Senat ihm aus den vorgenannten Gründen hierin folgen
würde, ein Zusammenhang deshalb nicht wahrscheinlich zu machen wäre, weil mehr für eine Verursachung der Erkrankung durch
individuelle, beim Kläger bestehende Risikofaktoren spricht, deren berufliche Verursachung wiederum auch nicht festgestellt
werden kann. Die Annahme des Prof. Dr. F., dass das beim Kläger bereits seit Jahrzehnten bestehende Übergewicht mit zunehmender
Tendenz (nach den aktenkundigen Befundberichten 1987 in mäßiger Form, 1992 per magna) bereits eine Folge der Schadstoffexposition
sein soll, weil der Kläger bereits im jugendlichen Alter exponiert gewesen sei und die zitierte saudi-arabische Studie auf
einen solchen Zusammenhang hinweise, ist bereits deshalb nicht zu Grunde zu legen, weil der Kläger bei Beginn der Schadstoffexposition
mit Aufnahme der Tätigkeit für die Fa. B. mitnichten jugendlich, sondern bereits 38 Jahre alt war. Es erscheint vielmehr gut
nachvollziehbar, wenn insbesondere Dr. S. darauf hinweist, dass das bestehende Übergewicht neben dem metabolischen Syndrom
als wesentlicher Risikofaktor für den seit 2001 bekannten Diabetes mellitus in Betracht komme. Hinsichtlich der Störung der
Sexualfunktion ist unter anderem auf das bereits fortgeschrittene Alter des Klägers zum Zeitpunkt ihres Auftretens hinzuweisen
und hinsichtlich der Niereninsuffizienz auf deren diabetische Ursache (diabetische Nephropathie, vgl. nur ärztliches Attest
der Fachärztin für Allgemeinmedizin Marquardt vom 22. August 2011). Zur nicht gestörten Leberfunktion, der Adipositas als
konkurrierende Ursache für die leichte Gamma-GT-Erhöhung bei Leberzellverfettung und zur Studienlage, die keine signifikante
Risikoerhöhung für die Verursachung der vom Kläger geklagten Gesundheitsstörungen - mit Ausnahme der allerdings nicht ausreichenden
Hinweise auf einen Zusammenhang zwischen HCH-Exposition und Diabetes - wird auf die Dr. P. bestätigenden Ausführungen der
Sachverständigen Prof. Dr. U. und Dr. S. Bezug genommen. Letztlich weist die Angabe des Klägers gegenüber Dr. S. anlässlich
der Begutachtung, wonach er während der Tätigkeit bei der Fa. B. sich nicht krank gefühlt habe, sondern Symptome wie Kopfschmerzen
etc. erst später aufgetreten seien, darauf hin, dass die Exposition nicht außergewöhnlich hoch war und dass ein die Wahrscheinlichkeit
eines Ursachenzusammenhangs erhöhender zeitlicher Zusammenhang zwischen seinen Erkrankungen und der beruflichen Schadstoffexposition
nicht besteht.
Die Kostenentscheidung beruht auf §
193 SGG und folgt dem Ausgang des Rechtsstreits.
Gründe für die Zulassung der Revision nach §
160 Abs.
2 Nr.
1 oder 2
SGG liegen nicht vor.