Arbeitsunfall; Spätaussiedler; Beweiserleichterung; Glaubhaftmachung; Unfallfolge
Tatbestand
Die Beteiligten streiten um die Feststellung weiterer Gesundheitsstörungen als Arbeitsunfallfolgen und die Gewährung einer
Rente.
Der 1950 in Ostpreußen (Polen) geborene Kläger erlernte dort den Beruf eines Elektrikers. Vom 2. Oktober 1967 bis 31. März
1971 war er als Elektromonteur in den Betrieben für Holzspan- und Filzplatten in B-Stadt beschäftigt. Dort erlitt er seinen
Angaben zufolge am 24. Mai 1968 einen Arbeitsunfall. Laut einer Bescheinigung des Kreiskrankenhauses in Pisz vom 30. Juli
1968 befand sich der Kläger vom 24. Mai bis 30. Juli 1968 in der dortigen chirurgischen Abteilung in stationärer Behandlung.
Als Diagnosen werden genannt: "Haemorhagia subarachnoidalis, Haemathros et laesio ligamenti cruciatum, genus dez. Encephalopathia
post traumatica." Zu den Untersuchungsergebnissen wird mitgeteilt, es sei eine Röntgenuntersuchung des Schädels sowie des
Knies und des Unterschenkels durchgeführt worden. Es hätten sich keine Beschädigungen der Knochenstrukturen gezeigt. Bei einer
Punktion habe die Spinalhirnflüssigkeit konzentrierte rote Blutkörperchen und eine erhöhte Eiweißmenge aufgewiesen. Unter
"Hinweise für die Weiterbehandlung" wird eine Kontrolle in der psychischen Gesundheitsberatungsstelle in Olsztyn (Allenstein)
nach 30 Tagen empfohlen. Am 19. Dezember 1976 legte der Kläger in Polen die Prüfung zum Meister im Handwerk elektrische Installation
ab. Diese Prüfung wurde durch Bescheid der Handwerkskammer Kassel als gleichwertig mit der Meisterprüfung im Elektroinstallateur-Handwerk
anerkannt. Am 28. Juni 1978 schloss der Kläger im Bootsbauerhandwerk eine Ausbildung mit der Gesellenprüfung ab. Auch diese
Prüfung wurde von der Handwerkskammer Kassel als mit einer in der Bundesrepublik Deutschland gleichwertigen Prüfung anerkannt.
Im Oktober 1988 siedelte der Kläger in die Bundesrepublik Deutschland um. Er folgte seiner damaligen Lebensgefährtin und dem
gemeinsamen Sohn, die schon vorher in die Bundesrepublik Deutschland eingereist waren. Die Beziehung scheiterte jedoch, weil
sich seine Partnerin einem anderen Mann zugewandt hatte. In einem Bericht der Klinik für Psychiatrie des Ludwig-Noll-Krankenhauses
vom 14. September 1989 wird über einen stationären Aufenthalt des Klägers vom 2. Juni bis 20. Juni 1989 berichtet und mitgeteilt,
der Kläger habe sich erstmals in stationärer psychiatrischer Behandlung befunden. Ein ambulanter Behandlungsversuch in der
Tagesklinik sei gescheitert. Der Kläger kenne seine Lebensgefährtin seit fünf Jahren, sie hätten ein gemeinsames vierjähriges
Kind.
Der Lebensgefährtin sei vor zwei Jahren die Ausreise aus Polen gestattet worden, der Kläger sei vor sieben Monaten nach Deutschland
gekommen. Mittlerweile habe die Lebensgefährtin einen Freund und es sei zu heftigen Auseinandersetzungen gekommen, die eskaliert
seien. Mittlerweile bestehe die Beziehung nicht mehr. Im Rahmen dieser Schwierigkeiten hätten die Beschwerden des Klägers
begonnen, die seit zwei Monaten stärker und seit drei Wochen kaum mehr erträglich geworden seien. Mit dem Aufwachen begännen
die Beschwerden und sie bestünden ohne Tagesschwankungen. Er sei körperlich unruhig, die Unruhe erfasse den ganzen Körper
und es komme zu unkontrollierbaren Bewegungen. Es sei, als wolle er sein Verletztsein abschütteln, und er sei in Sorge aggressiv
tätlich zu werden. Seine Gedanken würden unablässlich darum kreisen, dass er mit seiner Lebensgefährtin alles falsch gemacht
habe und sein Kind für ihn verloren sei. Von Zeit zu Zeit bestünden Suizidgedanken. Über das Verhalten und den psychischen
Befund wird mitgeteilt: Der Patient wirke gepflegt. Der Kontakt sei distanziert und wechselweise abweisend bzw. freundlich.
Er sei im Kontakt sehr fordernd. Mimik und Gestik seien lebhaft. Auf Fragen antworte er bereitwillig und genau. Denkstörung
und Gedächtnisstörung seien nicht beobachtbar. Er sei bewusstseinsklar und orientiert. Die Wahrnehmung sei ohne pathologischen
Befund. Im Antrieb sei er gesteigert, er erscheine subdepressiv, ansprüchlich und leicht kränkbar. Es wurde eine akute Dekompensation
bei narzisstischer Persönlichkeit diagnostiziert und der Verdacht auf einen Tranqilizer-Abusus geäußert.
Im Juni 2006 meldete sich der Kläger bei der Beklagten und teilte mit, er erhalte ab 1. April 2006 eine Rente wegen voller
Erwerbsminderung. Er bitte um Anerkennung seines Unfalls vom 24. Mai 1968 und um Prüfung, ob ihm eine Unfallrente zustehe.
Die Beklagte zog von der Deutschen Rentenversicherung die medizinische Akte und die Schwerbehindertenakte des Hessischen Amtes
für Versorgung und Soziales in Kassel bei.
Den Unterlagen ist zu entnehmen, dass der Kläger erstmals im Oktober 1993 einen Antrag auf Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung
gestellt hatte wegen Ohrensausens, heftiger Lumboischialgien und wegen Leistenbruchoperationen. Im August und September 1994
befand sich der Kläger in der Ernst-Ludwig-Klinik in Breuberg. Im Reha-Entlassungsbericht vom 6. Dezember 1994 wird unter
Bezugnahme auf die Angaben des Klägers mitgeteilt, er habe seit dem Unfall des Jahres 1968 ständig Ohrensausen rechts, das
Gehör sei beidseits abgeschwächt, rechts mehr als links. Des Weiteren ist dem Bericht zu entnehmen, dass der Kläger seit 1989
sich mehreren Leistenbruchoperationen unterziehen musste und seit ca. 1990 wiederkehrende Schmerzen im Bereich der LWS bestanden.
In einem ärztlichen Gutachten vom 10. März 2000 kommt die Ärztin Dr. C. zu dem Ergebnis, der Kläger könne ganztags als Elektriker
arbeiten. Häufiges Bücken, Zwangshaltungen und sowie Heben und Tragen über 15 kg seien zu meiden. Gesundheitliche Einschränkungen
durch den Unfall aus 1968, der mit Bewusstlosigkeit einhergegangen sei, ergäben sich für die heutige Arbeitswelt nicht mehr.
Dr. D. gelangte in einem sozialmedizinischen Gutachten vom 29. Dezember 2003 zu der Beurteilung, der Kläger könne noch leichte
bis mittelschwere Arbeiten von sechs Stunden und mehr verrichten ohne häufige Wirbelsäulenzwangshaltungen, häufiges Heben,
Tragen, Bücken, Knien oder Hocken und ohne besondere Anforderungen an die nervliche Belastung. Zu den Krankheitserscheinungen
und Beschwerden wird mitgeteilt: Im Vordergrund stehe der ständige LWS-Schmerz, der Schulter-Nacken-Bereich sei verspannt,
die gesamte Wirbelsäule steif. Der Kläger habe leichte Schmerzen beidseits. Rechts betont bestünden Kniegelenksbeschwerden
im Sinne von Anlaufschmerzen nach längerem Sitzen oder Liegen. Des Weiteren werde ein Ohrensausen angegeben, das seit 1968
rechtsseitig bestehe, seit 1981 nun beidseits. Der Kläger beobachte eine Konzentrationsschwäche, die er auf die Wirbelsäulenbeschwerden
zurückführe, auch sei er depressiv. Die Ärztin führte aus, im Rahmen der Untersuchung hätten sich Hinweise auf eine seelische
Fehlhaltung mit organbezogenen Beschwerden im Sinne einer anhaltenden somatoformen Schmerzstörung ergeben. Der Arzt für Hals-Nasen-
Ohrenkrankheiten Dr. Dr. E. teilt in einem Bericht vom 8. November 2004 mit, der Kläger habe sich wegen rezidivierender Otalgien
und anhaltenden Tinnitus zur Untersuchung vorgestellt. Die Untersuchung habe entzündungsfreie Ohrbefunde ergeben, im Hörtest
sei eine seitengleiche Hochtonschwerhörigkeit ab 2000 Hz bis auf 70 dB abfallend angegeben worden. Therapiemöglichkeiten bestünden
nicht, von der Anpassung eines Tinnitusmaskers habe er abgeraten.
Der Neurologe und Psychiater F. diagnostizierte bei dem Kläger in einem Bericht vom 21. Dezember 2004 eine Dysthymie (ICD-10:
F34.1) und äußerte den Verdacht auf eine depressive Pseudodemenz (ICD-10: F 32.9). In der Anamnese führte er zu den Aussagen
des Klägers aus: "Während er in jungen Jahren ein sehr gutes Gedächtnis gehabt hätte, sei er nach Schmerzen aus einer fehlverheilten
Leisten-OP links reizbar, spreche nur noch auf Baldrian an. Bei Aufregung blieben ihm auch die Worte weg. Er sei geräuschempfindlich
geworden, habe Tinnitus beidseits. Er habe eine Ischialgie rechts, mehr als links, habe Mühe, seine Wutausbrüche unter Kontrolle
zu halten. Fürchte Tablettenabhängigkeit." Zum psychiatrischen Befund führte Dr. F. aus, der Kläger sei voll orientiert, nicht
verlangsamt, gedanklich etwas sprunghaft, neige zur Verstimmtheit, objektiv auch schmerzreflektorisch eingeengt, das Zeitgitter
sei erhalten, kein halluzinatives Erleben.
Der Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, psychotherapeutische Medizin und Psychoanalytiker Dr. G. erstellte im Auftrag
des Sozialgerichts Kassel in dem Rechtsstreit des Klägers gegen die Landesversicherungsanstalt Hessen am 6. Dezember 2005
ein psychiatrisch-psychosomatisches Fachgutachten. Er diagnostizierte auf psychiatrisch- psychosomatischem Fachgebiet eine
anankastische Persönlichkeitsstörung mit chronisch dysthymer Stimmung, Grübelzwängen, somatoformer Schmerzstörung und hypochondrischen
Befürchtungen, leichten Zwangssymptomen, Instabilität der Selbststeuerung und Selbstunsicherheit sowie eine Schmerzstörung
i.V.m. sowohl psychischen Faktoren (überwiegend hypochondrisch-depressive Darstellung) wie einem medizinischen Krankheitsfaktor.
Im psychiatrischen Status sei der Kläger ängstlichunsicher mit hypochondrisch klagsamer und dysthymer Darstellung der Symptomatik
aufgefallen. Psychovegetativ sei er unruhig. Eine fehlende Zufriedenheit im Leben sei deutlich. Im Bereich der Aufmerksamkeit
und des Gedächtnisses hätten sich keine Störungen in Konzentrations- und Merkfähigkeit und des Langzeitgedächtnisses ergeben.
Im Bereich des formalen Denkens würden sich eine Umständlichkeit aufgrund seiner perfektionistischen, verschobenen Einengung
und Fixierung auf die körperliche Symptomatik zeigen. Das Denken sei aber weder verlangsamt noch schleppend noch zähflüssig.
Bezüglich des Leistungsbildes, der geistig-psychischen Belastbarkeit und der hieraus erfolgenden Einschränkungen sei festzustellen,
dass die kognitiven Merkmale (Arbeitsplanung, Auffassung, Lernen, Problem lösen und Feinmotorik) bei dem Kläger ausreichend
vorhanden seien. Allerdings seien die sozialen Merkmale von Kontaktfähigkeit, Kritikfähigkeit und Kritisierbarkeit im Profilwert
schlecht. Auch Merkmale zur Arbeitsausführung, Ausdauer, kritischen Kontrolle und der hohe Perfektionismus führten sicherlich
zu einer übertriebenen Sorgfalt, Starre und zur Langsamkeit der Arbeit. In Antrieb und der Feinmotorik dürfe er noch ausreichende
Fähigkeiten mitbringen. Aufgrund der anankastischen Persönlichkeitsstörung habe er aber keine ausreichende soziale Kompetenz
am Arbeitsplatz und sei auch nicht fähig, Stresssituationen am Arbeitsplatz zu bewältigen. Zu der vom Versorgungsamt als Behinderung
anerkannten "Reststörungen nach Schädel-Hirn-Trauma mit Hirnblutung" ab dem Antragsmonat am 1. Oktober 1990 führte Dr. G.
aus, eine hirnorganische Störung sei nach seiner Exploration bei ausreichendem formalen Gedankengang nicht nachvollziehbar.
Seitens des Versorgungsamtes wurden bei dem Kläger durch Bescheid vom 21. Januar 2005 als Behinderungen "Reststörungen nach
Schädel-Hirn-Trauma mit Hirnblutungen" (Einzel-GdB 20) und eine "Schwerhörigkeit mit Ohrgeräuschen" (Einzel-GdB 10) aufgeführt.
Außerdem wurden ein Wirbelsäulen-Schulter-Arm-Syndrom, seelische bzw. psychische Störungen und ein Eingeweidebruchleiden als
Behinderungen und ein Grad der Behinderung von insgesamt 40 festgestellt.
Die Beklagte ließ den Kläger im Klinikum Kassel unfallchirurgisch, neurologisch und HNO-ärztlich untersuchen und begutachten.
Der Direktor der Klinik für Unfall-, Hand- und Wiederherstellungschirurgie Dr. H. gelangte in seinem Gutachten vom 8. Februar
2007 zu der Beurteilung, der Unfall des Klägers von 24. Mai 1968 habe bei dem Kläger eine vordere Kreuzbandruptur verursacht.
Passend dazu habe sich bei der klinischen Untersuchung ein zweitgradig positiver Lachmann-Test und eine vordere Schublade
von größer als 1 cm gefunden. Eine ausgeprägte Instabilität mit Zeichen eines Pivot-Shift- Phänomens bestehe nicht. Die degenerativen
Veränderungen des rechten Kniegelenks stellten sich im Röntgenbild diskret dar und seien als unfallunabhängig zu werten. Die
MdE auf unfallchirurgischem Gebiet schätzte der Sachverständige auf 10 v.H.
Der Direktor der neurologischen Klinik Prof. Dr. J. gelangte in seinem Gutachten vom 20. Januar 2007 zu dem Ergebnis, aus
neurologischer Sicht ergäben sich keine Unfallfolgen. Klinisch lasse sich kein fokal-neurologisches Defizit erkennen. Allerdings
sei der Kläger eine ängstlich-depressive und hypochondrische Persönlichkeit. Eine traumatische Subarachnoidalblutung könne
zu kognitiven oder psychischen Störungen führen. Insgesamt sei die Langzeitprognose positiv. Der Kläger schildere, dass er
bereits am Folgetag des Unfalls versucht habe, aus dem Bett aufzustehen. Eine längere Bewusstlosigkeit habe demzufolge nicht
vorgelegen. Es sei somit nicht von einem höhergradigen Schädel-Hirn-Trauma auszugehen. Weiterhin bleibe festzuhalten, dass
der Kläger seine Arbeit als Elektriker wieder aufgenommen habe und weitere psychiatrische Konsultationen nicht durchgeführt
worden seien. Erst nach der Umsiedlung in die Bundesrepublik und nach der Trennung von der Ehefrau habe der Kläger deutliche
psychiatrische Auffälligkeiten gezeigt, die einer stationären Behandlung bedurft hätten. Zusammenfassend sei davon auszugehen,
dass das Schädel-Hirn- Trauma aus dem Jahre 1968 folgenlos ausgeheilt sei. Die psychiatrischen Symptome seien als unfallunabhängig
zu bewerten.
Der Direktor der Klinik für Hals-Nasen-Ohren-Krankheiten Prof. Dr. K. hat in seinem Gutachten vom 6. Februar 2007 bei dem
Kläger eine symmetrische Innenohrhochtonschwerhörigkeit diagnostiziert und hierzu ausgeführt, die überschwelligen Messmethoden
deuteten darauf hin, dass es sich um eine cochleäre Störung handele, wie man sie bei längerer Lärmeinwirkung am Arbeitsplatz
erwarten könne. Da der Kläger während seiner Berufstätigkeit immer wieder Arbeitsplätze innegehabt habe, die höhere Lärmemission
mit sich gebracht hätten, sei dieser Befund mit hinreichender Wahrscheinlichkeit auf eine solche Lärmbelastung zurückzuführen.
Der Kläger selbst schildere, dass er durch diese Innenohrhochtonschwerhörigkeit in seinem Sprachverständnis nicht behindert
sei. Dies spiegele auch das Ergebnis des Sprach-Audiogramms wieder. Hier finde sich keinerlei Einschränkung des sozialen Sprachgehörs.
Hinsichtlich der Tinnitus-Symptomatik falle auf, dass auf dem rechten Ohr der Tinnitus in dem Hauptschädigungsbereich zu lokalisieren
sei. Auf der linken Seite finde man einen Tinnitus im tieffrequenten Bereich, der nicht die Frequenz der Innenohrschädigung
einnehme. Nach 39 Jahren sei es schwer, einen Zusammenhang zwischen dem Unfallereignis und dem rechtsseitigen Tinnitus herzustellen.
Brückensymptome in Form von entscheidenden Behandlungsmaßnahmen fehlten. Es seien während der gesamten Zeit nur zweimal Versuche
von Infusionen gelaufen. Der Kläger gebe an, dass er mit dem Ohrgeräusch gut umgehen könne, so dass er sich dadurch nur wenig
belastet fühle. Auffallend sei, dass auch auf dem linken Ohr ein Tinnitus angegeben werde, der sich jedoch in einem völlig
anderen Frequenzspektrum abspiele. Dieser Tinnitus der Gegenseite, der viel später nach dem Unfallereignis aufgetreten sei,
gebe doch Hinweise darauf, dass der Kläger gegenüber diesen Tinnituserscheinungen empfänglich sei. Da bei einem Tinnitusleiden
bekanntermaßen ein hoher Prozentsatz an psychischen Komponenten Einfluss nehme, trete die traumatische Genese häufig in den
Hintergrund. In Anbetracht der Tatsache, dass keine verwertbaren Brückensymptome vorlägen, spreche dies dafür, dass der rechtsseitige
Tinnitus eher nicht traumatisch verursacht worden sei, sondern einem schicksalhaften Leiden entspreche. Da der Kläger mit
dieser Tinnitusbelastung des rechten Ohres sehr gut umgehen könne, werde sich auch bei einer anderen Einschätzung dieses Krankheitsgeschehens
keine Minderung der Erwerbsfähigkeit ergeben. Es würde sich um eine MdE von weit unter 10 handeln.
Die Beklagte hat durch Bescheid vom 11. Juli 2007 das Ereignis vom 24. Mai 1968 als Arbeitsunfall anerkannt und als Folgen
des Arbeitsunfalls leichte Belastungsbeschwerden mit Instabilität des Kniegelenks sowie leichter Muskelminderung des Oberschenkels
nach Verletzung des Kniegelenks und ein folgenlos verheiltes Schädel-Hirn-Trauma mit Hirnblutung festgestellt. Die Ohrgeräusche
beidseits, Veränderungen der Schultergelenke und der Wirbelsäule, operativ versorgte Leistenbrüche beidseits, ein Verschleiß
der Kniescheibenrückseiten, eine psychische Instabilität und persönlichkeitsbedingte Veränderungen wurden als unfallunabhängig
bezeichnet. Mit seinem dagegen eingelegten Widerspruch machte der Kläger geltend, die Ohrgeräusche beidseits und die Hörminderung
sowie die psychische Instabilität und Veränderung in der Persönlichkeit seien Folge des Arbeitsunfalles vom 24. Mai 1968.
Die Beklagte wies den Widerspruch des Klägers durch Bescheid vom 25. September 2007 zurück.
Der Kläger hat hiergegen beim Sozialgericht Gießen am 17. Oktober 2007 Klage erhoben.
Das Sozialgericht hat von dem Arzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. L. ein Gutachten vom 21. Dezember 2009 eingeholt. Der
Sachverständige hat in seiner gutachtlichen Beurteilung ausgeführt, die durchgeführte Exploration und Untersuchung habe die
Verdachtsdiagnose eines sehr leicht ausgeprägten hirnorganischen Psychosyndroms ergeben. Bezogen auf eine geschätzt im Durchschnittsbereich
liegende Primärintelligenz seien klinisch keine eindeutigen sekundären, hirnorganisch begründeten Beeinträchtigungen von Auffassungs-
und Umstellungsfähigkeit, Merkfähigkeit oder Gedächtnis nachweisbar, aber der klinische Befund wäre auch vereinbar mit der
Annahme einer diskreten sekundären Beeinträchtigung der geistigen Fertigkeiten. Signifikante (spezifische) formale oder inhaltliche
Denkstörungen im Sinne einer psychotischen Störung lägen nicht vor. Ein signifikantes Schwanken oder Nachlassen der Konzentrationsfähigkeit
sei während der längeren Exploration und Untersuchung nicht zu beobachten, der Kläger bedürfe aber der leicht bis gelegentlich
deutlich verstärkten Gesprächsführung. Der Kläger sei in der Primärpersönlichkeit durchschnittlich differenziert und im Wesentlichen
hinreichend ausgewogen strukturiert wirkend, ohne Hinweis auf eine primär wesentlich (signifikant) erhöhte seelische Verletzbarkeit.
Eine relevante Akzentuierung der Primärpersönlichkeit im Sinne einer umschriebenen Psychopathie sei zumindest auf der Grundlage
der vorliegenden Informationen nicht nachweisbar. Auch eine eindeutige sekundäre Beeinträchtigung der Persönlichkeit sei klinisch
nicht nachweisbar, aber der klinische Befund wäre auch vereinbar mit der Annahme einer diskreten sekundären Entdifferenzierung/Verflachung/Vergröberung.
Eine leicht ausgeprägte Beeinträchtigung der geistig-seelischen und sozialen Fertigkeiten könne im Rahmen eines sekundären
(im Laufe des Lebens erworbenen) hirnorganischen Psychosyndroms und/oder einer reaktiven seelischen (neurotischen) Störung
vorhanden sein. Bei dem Begriff hirnorganisches Psychosyndrom (ICD-10 F.0) handele es sich um eine Sammelbezeichnung für psychische
Störungen, die organischen Hirnveränderungen ihre Entstehung verdankten. Ein hirnorganisches Psychosyndrom könne aufgrund
verschiedenster Ursachen entstehen. Im Falle des Klägers ergäben sich zur Ätiologie (Verursachung) eines hirnorganischen Psychosyndroms
als Risikofaktoren eine Fettstoffwechselstörung, ein Nikotinmissbrauch, mehrere operative Behandlungen in Vollnarkose und
das Schädel-Hirn-Trauma am 24. Mai 1968. Im Falle des Klägers bestehe lediglich die Verdachtsdiagnose eines ggf. sehr leicht
ausgeprägten hirnorganischen Psychosyndroms. Falls angenommen werde, dass eine leicht ausgeprägte Beeinträchtigung der geistig-seelischen
und sozialen Fertigkeiten teilweise hirnorganisch begründet sei, im Sinne eines sehr leicht ausgeprägten hirnorganischen Psychosyndroms,
könne auf der Grundlage der vorliegenden Informationen dem Unfall vom 24. Mai 1968 nicht mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit
die Bedeutung einer wesentlichen Bedingung zugerechnet werden für den hirnorganisch begründeten Anteil der Beeinträchtigung
der geistig-seelischen und sozialen Fertigkeiten.
Bei dem Kläger sei eine reaktive seelische Störung in Form einer somatoformen Störung (ICD-10 F45) bzw. einer somatoformen
Schmerzstörung (ICD-10 F45.4) zu diagnostizieren. Bei derartigen psychosomatischen Störungen handele es sich um sicher multifaktoriell
bedingte Gesundheitsstörungen, deren Ursachen im Einzelnen und insbesondere im Einzelfall oft nicht genau benannt werden könnten.
Sie entwickelten sich auf der Grundlage einer entsprechend disponierten Primärpersönlichkeit und mehr oder weniger ausgeprägter
körperlicher organmedizinisch begründeter Gesundheitsstörungen/Behinderungen meist allmählich, wobei besondere lebensgeschichtliche
Erfahrungen oder Belastungen zu einer Aktualisierung der Symptomatik führen könnten. Nach kritischer Würdigung der überlassenen
Akten, eigener Exploration sowie sorgfältigem Abwägen des Für und Wider sei er zu der Überzeugung gelangt, dass dem Unfall
vom 24. Mai 1968 bzw. der Schädigung am 24. Mai 1968 einschließlich des unfallbedingten Körperschadens nicht mit Wahrscheinlichkeit
die Bedeutung einer wesentlichen Bedingung für die heute nachweisbare somatoforme (Schmerz-)Störung zuzurechnen sei. Aus den
Angaben des Klägers und den überlassenen Akten ergebe sich eine vorübergehende Aktualisierung der reaktiven seelischen (psychosomatischen/neurotischen)
Störung 1988/1989 im zeitlichen Zusammenhang mit der Umsiedlung nach Deutschland und dem Scheitern der Beziehung mit der damaligen
Lebensgefährtin, mit der Folge einer stationären psychiatrischen Behandlung und im Weiteren eine allmähliche Entwicklung im
zeitlichen Zusammenhang mit dem Auftreten unfallunabhängiger, organmedizinisch begründeter Beschwerden sowie beruflicher Schwierigkeiten
einschließlich von wiederkehrenden Zeiten der Arbeitslosigkeit und schließlich der Berentung einschließlich der damit verbundenen
sozialen Konsequenzen. Es sei anzunehmen, dass der Kläger auf diese mehrdimensionalen "Stressoren" und die damit verbundenen
"Konflikte" nicht durchgehend vernünftig (rational) reagiert habe, sondern mit einer "konflikthaften seelischen Fehlentwicklung"
respektive reaktiven-neurotischen Störung mit einer (zumindest derzeit) vorrangig somatoformen Symptomatik.
Das Sozialgericht hat durch Urteil vom 4. Mai 2010 die Klage abgewiesen.
Gegen das seinem Prozessbevollmächtigten am 10. Mai 2010 zugestellte Urteil hat der Kläger am 2. Juni 2010 beim Sozialgericht
Kassel Berufung eingelegt und geltend gemacht, der Tinnitus und die Schwerhörigkeit hatten schon nach dem Unfall bestanden,
mit der Zeit hätten sich diese Beschwerden verstärkt. Es treffe auch nicht zu, dass er Arbeitsplätze mit hohen Lärmemissionen
gehabt habe. Nach dem Unfall sei er in eine ruhige Abteilung - Entwicklung von elektrischen Motoren - versetzt worden. Später
habe er dann als Hauselektriker und Bootsbauer gearbeitet, wo kein Lärm geherrscht habe. Es treffe auch nicht zu, dass ihn
der Tinnitus nicht belästige. Er vertrage keine Stille und keinen Lärm oder Vibrationen. Das Gutachten des Dr. L. sei nicht
überzeugend. Er bestätige psychische Störungen, auch ein hirnorganisches Psychosyndrom. Auch räume er ein, dass der Unfall
Ursache hierfür sein könne. Er halte es für hilfreich, wenn eine Kernspintomographie oder eine Computertomographie angefertigt
werden würde, um festzustellen, ob in seinem Falle eine unfallbedingte Hirnschädigung vorliege.
Der Kläger beantragt sinngemäß,
das Urteil des Sozialgerichts Kassel vom 4. Mai 2010 aufzuheben, als Folgen des Arbeitsunfalles vom 24. Mai 1968 eine Hörstörung
und Ohrgeräusche beidseits, ein hirnorganisches Psychosyndrom sowie eine reaktive seelische Störung in Form einer somatoformen
Störung festzustellen und die Beklagte unter Änderung des Bescheides vom 11. Juli 2007 in Gestalt des Widerspruchsbescheides
vom 25. September 2007 zu verurteilen, ihm wegen der Arbeitsunfallfolgen Rente nach einer MdE von mindestens 20 v.H. zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Hinsichtlich des Sach- und Streitstandes im Übrigen wird auf die Gerichtsakte und die zum Verfahren beigezogene Verwaltungsakte
der Beklagten, deren Inhalt Gegenstand der mündlichen Verhandlung war, Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Der Senat konnte auch in Abwesenheit des Klägers aufgrund mündlicher Verhandlung über die zulässige Berufung des Klägers entscheiden,
weil der Kläger ordnungsgemäß zum Termin geladen worden war (§
110 SGG). Die Berufung des Klägers ist unbegründet soweit er die Feststellung eines hirnorganischen Psychosyndroms sowie einer reaktiven
seelischen Störung in Form einer somatoformen Störung, die Feststellung einer Hörstörung und eines Ohrgeräusches links als
weitere Arbeitsunfallfolgen und die Gewährung einer Rente begehrt. Eine andere Beurteilung hatte hinsichtlich des rechtsseitigen
Tinnitus zu erfolgen, der nach den konstanten Angaben des Klägers seit dem Arbeitsunfall im Jahre 1968 besteht. Deshalb war
die erstinstanzliche Entscheidung insoweit zu ändern. Die darüberhinausgehende Berufung war zurückzuweisen.
Der Kläger hat keinen Anspruch auf Rente gemäß §§ 5 Abs. 1, 7 Fremdrentengesetz (FRG) i.V.m. §§ 547, 548 Abs. 1, 580, 581 Abs. 1 Nr. 2
Reichsversicherungsordnung (
RVO).
Der Kläger gehört als anerkannter Spätaussiedler gemäß § 1 a FRG zu dem nach dem FRG anspruchsberechtigten Personenkreis. Die Anwendbarkeit des FRG ergibt sich aus § 2 Satz 2 FRG i.V.m. Artikel 11 Abs. 3 des Abkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Polen über die soziale Sicherheit vom 8. Dezember
1990, welches insoweit auch nach dem Beitritt Polens zur Europäischen Union gemäß Artikel 7 der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71
i.V.m. Anlage III fortgilt. Nach § 5 Abs. 1 Nr. 2 a FRG wird nach den für die gesetzliche Unfallversicherung maßgebenden bundesrechtlichen Vorschriften ein Arbeitsunfall auch entschädigt,
wenn der Verletzte im Zeitpunkt des Unfalls bei einem nicht deutschen Träger der gesetzlichen Unfallversicherung versichert
war. Für Voraussetzungen, Art, Dauer und Höhe der Leistungen gelten die Vorschriften der gesetzlichen Unfallversicherung,
die anzuwenden wären, wenn sich der Unfall an dem Ort ereignet hätte, an dem der zuständige Träger der Unfallversicherung
(§ 9) am 1. Januar 1992 seinen Sitz hat. Da sich der Unfall des Klägers vor dem Inkrafttreten des
Siebten Buches des Sozialgesetzbuches gesetzliche Unfallversicherung (
SGB VII) am 1. Januar 1997 ereignet hat, gelten gemäß §
212 SGB VII hier noch die Regeln der
Reichsversicherungsordnung (
RVO). Nach § 547
RVO gewährt der Träger der Unfallversicherung nach Maßgabe der folgenden Vorschriften an Leistungen auch Verletztenrente. Der
Verletzte erhält eine Rente, wenn die zu entschädigende Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) über die 13. Woche nach dem Arbeitsunfall
hinaus andauert (§ 580 Abs. 1
RVO). Die Gewährung einer Verletztenrente setzt voraus, dass infolge des Arbeitsunfalls die Erwerbsfähigkeit des Verletzten um
wenigstens 1/5 gemindert ist (§ 581 Abs. 1 Nr. 2
RVO). Gemäß § 548 Abs. 1
RVO ist Arbeitsunfall ein Unfall, den ein Versicherter bei einer der in §§ 539, 540 und 543 bis 545 genannten Tätigkeit erleidet. Der Begriff des Unfalls ist in der
RVO nicht definiert. Rechtsprechung und Schrifttum haben den Unfall als ein von außen her auf den Menschen einwirkendes, körperlich
schädigendes, plötzliches, d.h. zeitlich begrenztes Ereignis definiert. Ähnlich auch die Definition in §
8 Abs.
1 Satz 2
SGB VII. Danach sind Unfälle zeitlich begrenzte, von außen auf den Körper einwirkende Ereignisse, die zu einem Gesundheitsschaden
oder zum Tod führen. In der gesetzlichen Unfallversicherung müssen die der Kausalitätsbeurteilung zu Grunde liegenden Tatsachen,
d.h. die versicherte Tätigkeit, das Unfallereignis, der primäre Gesundheitsschaden sowie geltend gemachte weitere Gesundheitsschäden
mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nachgewiesen sein, während für den Nachweis des Kausalzusammenhangs eine hinreichende
Wahrscheinlichkeit genügt. Das FRG trifft zum Zwecke der Beweiserleichterung eine Sonderreglung. Nach § 4 Abs. 1 FRG genügt es für die Feststellung der nach diesem Gesetz erheblichen Tatsachen, wenn sie glaubhaft gemacht sind. Eine Tatsche
ist glaubhaft gemacht, wenn ihr Vorliegen nach dem Ergebnis der Ermittlungen, die sich auf sämtliche erreichbaren Beweismittel
erstrecken sollen, überwiegend wahrscheinlich ist. Absatz 1 gilt auch für außerhalb der Bundesrepublik Deutschland eingetretene
Tatsachen, die nach den allgemeinen Vorschriften erheblich sind (§ 4 Abs. 2 FRG). Nach dem Sinn und Zweck des § 4 FRG kann diese Beweiserleichterung indes nicht für solche Unfallfolgen gelten, die als aktuell bestehend geltend gemacht werden.
Denn die im § 4 FRG unterstellten Beweisschwierigkeiten bestehen in diesem Fall nicht.
Der sogenannte Vollbeweis, d.h. die mit an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit, ist erfüllt, wenn eine Tatsache in so
hohem Grade wahrscheinlich ist, dass alle Umstände des Falles nach vernünftiger Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens
und nach der allgemeinen Lebenserfahrung geeignet sind, die volle richterliche Überzeugung, zu begründen (vgl. BSG, Urteil vom 29. März 1963 - 2 RU 75/61 = BSGE 19, 52; BSG, Urteil vom 22. September 1977 - 10 RV 15/77 = BSGE 45/1; BSG, Urteil vom 15. Dezember 1999; B 9 VS 2/98 R = Breithaupt 2000, 390 f.; BSG, Urteil vom 8. August 2001 - B 9 V 23/01 B = Breithaupt 2001, 967; BSG, Urteil vom 8. August 2001 - B 9 V 23/01 B 4; Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer
SGG, 11. Auflage, 2014, §
128 Rdnr. 3 b m.w.N.). Um eine hinreichende Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs zu bejahen, muss absolut mehr für
als gegen die jeweilige Tatsache sprechen (BSG, Urteil vom 8. August 2001 - B 9 U 23/01 R in juris). Es muss also unter Würdigung des Beweisergebnisses ein solcher Grad von Wahrscheinlichkeit sich ergeben, dass
ernste Zweifel hinsichtlich einer anderen Möglichkeit ausscheiden und nach der geltenden ärztlichen wissenschaftlichen Lehrmeinung
mehr für als gegen einen ursächlichen Zusammenhang spricht (BSG, Urteil vom 8. August 2001 - B 9 U 23/01 R in juris). Die Anforderungen an die hinreichende Wahrscheinlichkeit sind grundsätzlich höher als diejenigen an die Glaubhaftmachung
(BSG, Urteil vom 8. August 2001 a.a.O.). In Abgrenzung zu der hinreichenden Wahrscheinlichkeit wird unter überwiegender Wahrscheinlichkeit
die gute Möglichkeit, dass der Vorgang sich so zugetragen hat, verstanden, wobei gewisse Zweifel bestehen bleiben. Das Beweismaß
der überwiegenden Wahrscheinlichkeit ist durch seine Relativität gekennzeichnet (BSG, Urteil vom 8. August 2001 a.a.O.; BSG, Urteil vom 14. Dezember 2006 - B 4 R 29/06 R - BSGE 98, 48; Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer,
SGG, 10. Auflage 2012, §
86 b Rdnr. 16 b).
Der Kläger hat durch die Vorlage von Bescheinigungen über seine berufliche Tätigkeit vom 2. Oktober 1967 bis 31. März 1971
und durch die Bescheinigung des Kreiskrankenhauses in Pisz vom 30. Juli 1968 sowie aufgrund seiner im Laufe der Jahre mehrfach
gemachten Angaben glaubhaft gemacht, dass er am 24. Mai 1968 einen Arbeitsunfall erlitten hat. Die in der Krankenhausbescheinigung
genannten Diagnosen belegen glaubhaft, dass der Kläger als Gesundheitsprimärschäden bei dem Arbeitsunfall eine Subarachnoidalblutung
und am rechten Kniegelenk eine Kreuzbandläsion mit Bluterguss erlitten hat. Die Beklagte hat deshalb das Unfallereignis vom
24. Mai 1968 als Arbeitsunfall anerkannt und aufgrund des Gutachtens des Dr. H. als Arbeitsunfallfolgen "leichte Belastungsbeschwerden
mit Instabilität des Kniegelenkes sowie leichte Muskelminderung des Oberschenkels nach Verletzung des Kniegelenkes" festgestellt.
Streitig ist, ob die von dem Kläger bei dem Unfall erlittene Subarachnoidalblutung dauerhaft Gesundheitsstörungen hinterlassen
hat in Form einer Hörstörung und Ohrgeräuschen beidseits, eines hirnorganischen Psychosyndroms und einer somatoformen Störung.
Hinsichtlich des rechtsseitigen Tinnitus hat der Kläger im Lauf der Jahre immer wieder konstant angegeben, dass dieser nach
dem Arbeitsunfall am 24. Mai 1968 aufgetreten ist. Das Bestehen eines Tinnitusleidens rechts nach dem Unfall ist deshalb glaubhaft
gemacht. Der Sachverständige Prof. Dr. K. hat hinsichtlich des rechtsseitigen Tinnitus einen Kausalzusammenhang nicht für
wahrscheinlich erachtet, weil seines Erachtens verwertbare Brückensymptome nicht vorliegen. Dieser Beurteilung kann sich der
Senat jedoch nicht anschließen. Vielmehr ist aufgrund des engen zeitlichen Zusammenhangs zwischen dem Auftreten des Tinnitus
rechts und dem Arbeitsunfall des Klägers der Kausalzusammenhang mit hinreichender Wahrscheinlichkeit zu bejahen. In Bezug
auf den linksseitigen Tinnitus und die beidseits vorhandene Innenohrhochtonschwerhörigkeit ist es nicht glaubhaft gemacht,
dass diese Gesundheitsstörungen zeitnah nach dem Arbeitsunfall aufgetreten sind. Vielmehr steht hinsichtlich des linksseitigen
Tinnitus fest, dass dieser erst Anfang der 80er Jahre seitens des Klägers festgestellt wurde. So die konstanten Angaben des
Klägers selbst. Eine Hörstörung nach dem Arbeitsunfall wurde seitens des Klägers nicht berichtet. Auch diesbezüglich ist nicht
glaubhaft gemacht, dass eine Innenohrhochtonschwerhörigkeit nach dem Unfall bestanden hat. In den von dem Kläger aus dem Jahre
1982 vorgelegten, aus Polen stammenden ärztlichen Bescheinigungen (Blatt 30 und 31 der Verwaltungsakte) wird lediglich das
Vorliegen eines "Tinnitus aurium" bescheinigt. Eine Hörstörung wurde weder in der Bescheinigung vom 15. April 1982 noch in
der vom 25. November 1982 vermerkt. Schon wegen des fehlenden zeitlichen Zusammenhangs kann die bei dem Kläger vorliegende
Innenohrhochtonschwerhörigkeit ebenso wie der Tinnitus links nicht auf dem Arbeitsunfall des Klägers kausal zurückgeführt
werden.
Infolge eines gedeckten Schädel-Hirntraumas können kognitive und psychische Störungen auftreten. Dies gilt auch für eine traumatische
Subarachnoidalblutung (Gutachten des Prof. Dr. J., des Dr. L. und Leitlinie "Begutachtung nach gedecktem Schädel-Hirntrauma",
S 1 Leitlinie 07/2013, publiziert bei AWMF online).
Dr. L. hat in seinem Gutachten ausführlich dargelegt, dass sowohl hirnorganisch bedingte Beeinträchtigungen als auch reaktive
seelische Störungen als Folge eines Schädel-Hirntraumas möglich sind. Als Ursache für ein hirnorganisches Psychosyndrom kommt
jedoch nicht nur ein Schädel-Hirntrauma in Betracht. Auch andere im Laufe des Lebens eingetretene Umstände können ein hirnorganisches
Psychosyndrom verursachen. Gleiches gilt für die Entstehung einer reaktiven seelischen Störung.
Im Falle des Klägers kann weder ein hirnorganisches Psychosyndrom noch eine seelische Störung als Arbeitsunfallfolge anerkannt
werden.
Das Vorliegen eines hirnorganischen Psychosyndroms kann bei dem Kläger nicht sicher diagnostiziert werden. Dr. L. hat bei
dem Kläger eine leicht ausgeprägte Beeinträchtigung der geistig-seelischen und sozialen Fertigkeiten diagnostiziert. Im Gutachten
wird jedoch bei der Darstellung und Erörterung der Befunde deutlich gemacht, dass diese Diagnose schwierig zu stellen ist,
weil eindeutige Beeinträchtigungen, z.B. von Auffassungs- und Umstellungsfähigkeit, Merkfähigkeit oder Gedächtnisleistung,
des Antriebs oder der Konzentrationsfähigkeit, sich bei dem Kläger nicht feststellen lassen. Wird trotz der diagnostischen
Unsicherheiten von dem Bestehen einer leicht ausgeprägten Beeinträchtigung der geistig-seelischen und sozialen Fertigkeiten
ausgegangen, d.h. deren Vorliegen im Vollbeweis unterstellt, kommen nach Auskunft des Dr. L. als Ursache hierfür ein sekundäres
hirnorganisches Psychosyndrom (ICD-10 F0) oder eine reaktive seelische Störung in Betracht. Gegen die Annahme eines anhaltenden
unfallbedingten hirnorganischen Psychosyndroms sprechen im Falle des Klägers mehr Gründe als dafür: Für den Kausalzusammenhang
spricht der Umstand, dass der Kläger am 24. Mai 1968 ein Schädel-Hirn-Trauma mit subarachnoidaler Blutung erlitten hat. Dieser
Umstand legt nahe, dass es im Rahmen dessen auch zu einer traumatischen bzw. strukturellen Hirngewebe-Schädigung gekommen
ist. Dieser Umstand allein rechtfertigt jedoch nicht, ebenso wie ein eindeutig pathologischer neuroradiologischer Gehirnbefund,
die Annahme, dass eine hirnorganisch bedingte Beeinträchtigung der geistig-seelischen Fertigkeiten vorliegen muss (so die
Aussage des Dr. L.). Im Falle des Klägers liegen zeitnah nach dem Arbeitsunfall keine ärztlichen Berichte vor, die eine unfallbedingte
hirnorganische Schädigung belegen oder gar vermuten lassen. Die in den ärztlichen Befundberichten über die stationären Behandlungen
des Klägers vom 24. Mai bis 30. Juli 1968 sowie vom 26. Mai bis 15. April 1982 und vom 10. November bis 25. November 1982
als Diagnose genannte "Encephalopathia posttraumatica" ist sowohl nach Auskunft des Prof. Dr. J. als auch nach Auskunft des
Dr. L. ein unspezifischer Begriff. Er besagt lediglich, dass es nach einem Unfall zu einer Erkrankung des Gehirns gekommen
ist. Der Kläger selbst konnte keine Angaben machen, welche Befunde in der "psychischen Gesundheitsberatungsstelle" nach dem
Arbeitsunfall erhoben worden sind. Der Kläger hat andererseits auch nicht über Symptome und Beschwerden berichtet, die auf
das Bestehen eines hirnorganischen Psychosyndroms in der Zeit nach dem Arbeitsunfall hindeuten könnten. Als durch den Unfall
bedingte spätere Beschwerden hat der Kläger lediglich einen rechtsseitigen Tinnitus und Knieschmerzen genannt, so noch in
seiner Unfallanzeige vom 19. Juli 2006. Gegen anhaltende hirnorganisch bedingte Beeinträchtigungen infolge des Arbeitsunalles
spricht insbesondere der berufliche Werdegang des Klägers. Der Kläger hat gut acht Jahre nach dem Arbeitsunfall im Dezember
1976 seine Meisterprüfung im Elektroinstallateur-Handwerk abgelegt und circa zwei Jahre später die Gesellenprüfung im Bootsbauerhandwerk.
Dies spricht sowohl nach Auffassung des Prof. Dr. J. als auch nach Ansicht des Dr. L. gegen die Annahme eines funktionell
wesentlichen (messbaren) beeinträchtigenden hirnorganischen Psychosyndroms in dieser Zeit. Auch die in den Akten vorliegenden
ärztlichen Befundberichte sowie die sozialmedizinischen Beurteilungen geben keine Hinweise auf das Vorliegen eines hirnorganischen
Psychosyndroms. Dr. G. und Prof. Dr. J. haben das Vorliegen eines hirnorganischen Psychosyndroms ausdrücklich verneint.
Dr. L. hat bei dem Kläger eine somatoforme Störung (ICD-10 F45) bzw. eine somatoforme Schmerzstörung (ICD-10 F 45.4) diagnostiziert.
Dr. L. hat für den Senat überzeugend dargelegt, dass bei der Entstehung dieser somatoformen Störungen dem Arbeitsunfall des
Klägers nicht die Bedeutung einer wesentlichen Teilursache zukommt. Anamnestisch gibt es keine Hinweise auf das Bestehen somatoformer
Störungen in der Zeit nach dem Arbeitsunfall, auch nicht in den Jahrzehnten danach. Seelische Gesundheitsstörungen traten
erstmals im Zusammenhang mit der Umsiedlung nach Deutschland und dem Scheitern der Beziehung mit der damaligen Lebensgefährtin
und der damit verbundenen Trennung von dem leiblichen Sohn des Klägers auf. In den Jahren nach 1989 wurden zunächst bei dem
Kläger keine psychischen Gesundheitsstörungen festgestellt. Der Kläger litt jedoch ab 1989 immer wieder unter unfallunabhängigen,
organmedizinischen Beschwerden. So musste er sich mehrfach Leistenbruchoperationen unterziehen und es bestanden multiple Beschwerden
und Funktionseinschränkungen seitens des Bewegungsapparates. Wahrscheinlich ist, wie dies Dr. L. überzeugend darlegt, dass
die multiplen und zunehmenden organischen Beschwerden und die einhergehenden beruflichen Probleme sowie die wiederkehrenden
Zeiten der Arbeitslosigkeit als mehrdimensionale "Stressoren" dazu beigetragen haben, dass die reaktive somatoforme Symptomatik
bei dem Kläger entstanden ist. Es ist nicht erkennbar, dass der Arbeitsunfall oder die Arbeitsunfallfolgen (rechtsseitiger
Tinnitus und Beschwerden im Bereich des rechten Kniegelenkes) bei Entstehung dieser seelischen Gesundheitsstörung auch nur
annähernd eine wesentliche Rolle gespielt haben.
Als Arbeitsunfallfolgen bestehen bei dem Kläger leichte Belastungsbeschwerden mit Instabilität des Kniegelenkes sowie eine
leichte Muskelminderung des Oberschenkels und ein Tinnitus rechts. Wegen dieser Arbeitsunfallfolgen hat der Kläger keinen
Anspruch auf Rente, weil die durch die Arbeitsunfallfolgen bedingte MdE nicht mindestens 20 v.H. beträgt. Infolge der bei
dem Unfall erlittenen vorderen Kreuzbandruptur besteht bei dem Kläger eine mäßige Instabilität des rechten Kniegelenkes. Hinweise
auf eine ausgeprägte Instabilität mit Zeichen eines Pivot-Shift-Phänomens liegen nach Aussage des Dr. H. nicht vor. Dr. H.
hat die diesbezügliche MdE des Klägers mit 10 v.H. bewertet. Dies ist nicht zu beanstanden. Das Maß der MdE hängt von vorhandenem
Funktionsausfall ab. Besteht eine endgradige Behinderung der Beugung/Streckung mit muskulär kompensierbaren instabilen Bandverhältnissen
wird die MdE in der unfallmedizinischen Fachliteratur mit 10 v.H. bewertet (vgl. Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall
und Berufskrankheit, 8. Auflage, Seite 612). Der einseitige rechtsseitige Tinnitus bedingt keine MdE von 10 v.H. Einerseits
handelt es sich um ein einseitiges Ohrgeräusch, zudem werden die Ohrgeräusche insgesamt von dem Kläger nicht als sehr belastend
empfunden. Dies hat Prof. Dr. K. in seinem Gutachten durch die Vorlage des von dem Kläger anlässlich der Begutachtung ausgefüllten
"Tinnitus-Fragebogens" überzeugend belegt.
Die Kostenentscheidung folgt aus §
193 SGG. Da die Berufung des Klägers in nur sehr geringem Umfang erfolgreich war, sah der Senat sich nicht veranlasst, der Beklagten
einen Teil der Kosten aufzuerlegen.
Gründe für die Zulassung der Revision (§
160 SGG) liegen nicht vor.