Höhe der Minderung der Erwerbsfähigkeit aufgrund einer unfallbedingten Querschnittslähmung
Abhängigkeit von Lähmungsniveau und -ausmaß
Resultierende Funktionsstörungen
Tatbestand
Die Beteiligten streiten um die Höhe der Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) aufgrund einer unfallbedingten Querschnittslähmung
im Verfahren nach § 44 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch - Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz - (SGB X).
Der 1972 geborene Kläger erlitt am 26. September 2002 einen bei der Beklagten versicherten Arbeitsunfall, als er auf dem Weg
zur Arbeit mit seinem Fahrrad von einem Auto erfasst wurde. Hierdurch zog er sich eine LWK-1-Fraktur mit motorisch inkompletter
Querschnittslähmung mit Blasen- und Mastdarmlähmung zu. Im Verwaltungsverfahren holte die Beklagte im Jahr 2005 nach Durchführung
der Heilbehandlung Rentengutachten zur Bewertung der MdE ein: Der PD Dr. D., Marienhospital Herne, kam in seinem fachurologischen
Zusatzgutachten vom 31. Januar 2005 zu dem Ergebnis, allein auf seinem Fachgebiet bestehe unfallbedingt wegen einer neurogenen
Blasenfunktionsstörung mit der Notwendigkeit eines intermittierenden Selbstkatheterismus und rezidivierend auftretenden symptomatischen
Harnwegsinfekten eine MdE von 20 v.H. Die Neurotraumatologin Dr. E., Berufsgenossenschaftliche Klinik Bergmannsheil in Bochum,
diagnostizierte in ihrem Gutachten vom 20. Januar 2005 u. a. eine "als funktionell komplett zu bezeichnende, nach ASIA definitionsgemäß
ebenfalls komplette motorische Querschnittslähmung sub L 1, sensibel sub L 3 nach LWK 1 Fraktur" und eine "resultierende Blasen-
und Mastdarmlähmung mit rezidivierender Inkontinenz bzw. Motilitätsproblematik. Notwendigkeit des regelmäßigen Einmalkatheterismus
und des fremdunterstützten Abführens mittels rektaler Ausräumung". Allein auf ihrem Fachgebiet schätzte sie die MdE auf 80
v.H.; die Gesamt-MdE auf urologischem und neurotraumatologischem Fachgebiet bewertete sie mit 100 v.H. Diese Gutachten leitete
die Beklagte ihrem Beratungsarzt Dr. F. zur Stellungnahme zu. Dieser vertrat die Ansicht, dass die Feststellung einer Gesamt-MdE
von 80 v.H. gerechtfertigt sei. Mit Bescheid vom 28. April 2005 gewährte die Beklagte dem Kläger deshalb Rente nach einer
MdE von 80 v.H. mit einem Rentenbeginn am 25. März 2004; dieser Bescheid wurde bestandskräftig.
Unter dem 17. Oktober 2007 stellte der Kläger über seinen Prozessbevollmächtigten den Antrag, ihm wegen der Folgen des Unfalls
Rente auf unbestimmte Zeit nach einer MdE von 100 v.H. zu bewilligen. Die Beklagte holte daraufhin ein zweites Rentengutachten
vom 11. Februar 2008 bei dem Arzt für Orthopädie und Unfallchirurgie PD Dr. G., Chefarzt des Zentrums für Rückenmarkverletzte
der Werner-Wicker-Klinik in Bad Wildungen, mit einem neuro-urologischen Zusatzgutachten des Dr. H., Chefarzt der Klinik für
Neuro-Urologie der Werner-Wicker-Klinik in Bad Wildungen, vom 11. August 2008 ein. Dr. H. stellte auf seinem Fachgebiet folgende
Unfallfolgen fest: "kombinierte Schädigung des oberen und unteren motorischen Neurons mit überwiegender Schädigung des unteren
motorischen Neurons. Notwendigkeit der Blasenentleerung durch intermittierenden Katheterismus. Eingeschränkte Blasensensibilität.
Fehlende Mastdarmsensibilität. Unmöglichkeit der koordinierten und willkürlichen Darmentleerung. Erektile Dysfunktion. Ausbleibende
Ejakulation." Allein auf neuro-urologischem Fachgebiet sei eine MdE von 40 v. H. festzustellen. Dr. G. kam in seinem Gutachten
zu dem Ergebnis, ohne Berücksichtigung des urologischen Fachgebiets sei eine MdE von 80 v.H. festzustellen. Er stellte die
folgenden Unfallfolgen fest:
• Mittlerweile knöchern fest konsolidierte LWK 1-Fraktur mit einliegendem Osteosynthesematerial von BWK 12 bis LWK 2. Dadurch
Ausschaltung zweier Bewegungssegmente der Wirbelsäule. Narben am rechten Rippenbogen thorakolumbal und rechter dorsaler Beckenkamm
• Motorisch inkomplette spastische Paraplegie unterhalb L 1, funktionell motorisch komplett unterhalb L 2, sensibel inkomplett
unterhalb L 3. Der Verletzte ist zur Fortbewegung auf einen Rollstuhl angewiesen. Gehen mit Unterschenkelschienen ist nur
zu therapeutischen Zwecken möglich. Es besteht erhebliche Spastik der unteren Extremitäten.
• Blasen- und Mastdarmlähmung mit der Notwendigkeit des intermittierenden Selbstkatheterismus der Harnblase sowie dem Problem
stundenlanger Abführvorgänge trotz regelmäßiger Zuhilfenahme von Abführmitteln.
• Nicht dislozierte bekanntermaßen knöchern fest verheilte Sitzbeinfraktur links ohne verbleibende klinische Problematik.
• Nach Angaben des Verletzten nahezu vollständig erloschene Vita sexualis (lediglich unter Cialis besteht eine mäßige Erektion,
keine Ejakulation).
Außerdem bestünden als sekundäre Unfallfolgen:
• Heterotope Ossifikation am rechten lateralen Oberschenkelschaft, durch die es beim Gehen zu einem Schnappen de Sehne des
M. tensor fasciae latae kommt.
• Narbe rechter Innenknöchel nach trimalleoläre Sprunggelenksfraktur (Metall in situ). Die Fraktur entstand beim Übersetzen
Pkw/Rollstuhl.
• Narben am Gesäß nach mehreren Dekubitusoperationen.
• Letztlich ist auch die aktuelle Großzehengrundgelenkfraktur als sekundäre Unfallfolge anzusehen, da diese beim Rollstuhltransfer
erlitten wurde.
Auf ergänzende Nachfrage der Beklagten führte der Sachverständige Dr. G. unter dem 17. September 2009 aus, dass es durch die
Beurteilung mit einer MdE von 40 v.H. in dem neuro-urologischen Gutachten nicht zu einer Änderung der Gesamt-MdE von 80 v.H.
komme.
Daraufhin lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 28. Oktober 2008 einen Anspruch auf Rücknahme des Bescheids vom 28. April 2005
ab und stellte ausdrücklich fest, dass die Rente nicht zu erhöhen sei. Den hiergegen am 10. November 2008 eingelegten Widerspruch
wies sie mit Widerspruchsbescheid vom 6. Februar 2009 zurück.
Hiergegen hat der Kläger am 26. Februar 2009 beim Sozialgericht Gießen (Sozialgericht) Klage erhoben.
Zur Begründung hat er ein für das Landgericht Limburg erstattetes orthopädisch-unfallchirurgisches Gutachten des Prof. Dr.
J. vom 28. August 2007 vorgelegt. Hierin wird zusammenfassend ausgeführt, bei dem Kläger bestehe eine inkomplette Querschnittslähmung
unterhalb des ersten Lendenwirbels. Konsekutiv resultiere eine komplette Darm- und Blasenlähmung. Aufgrund des vollständigen
Kraftverlustes der Fußheber- und -senker sei der Kläger nur mit Schienen auf ganz kurzen Strecken gehfähig und für kurze Zeit
stehfähig. Er sei dauerhaft auf den Rollstuhl angewiesen. Die insgesamt resultierenden Einschränkungen seien mit einer vollständigen
Querschnittslähmung zu vergleichen.
Das Sozialgericht hat von Amts wegen ein unfallchirurgisches Gutachten des Dr. K. vom 9. Juni 2011 eingeholt, das zu dem Ergebnis
gelangt, die Unfallfolgen seien von der Beklagten unvollständig berücksichtigt worden. Frau Dr. E. habe schon in ihrem ursprünglichen
Gutachten zu Recht eingeschätzt, dass die MdE bereits ab Rentenbeginn mit 100 v.H. zu bemessen gewesen sei. Beim Kläger bestehe
eine motorisch und sensibel inkomplette Querschnittslähmung unterhalb L 1 mit zugehöriger Blasen- und Mastdarmlähmung und
dadurch bedingt der Verlust der Gehfähigkeit und das Angewiesensein auf einen Rollstuhl.
Das Sozialgericht hat die Beklagte mit Urteil vom 27. April 2012 unter Aufhebung des Bescheides vom 28. Oktober 2008 in Gestalt
des Widerspruchsbescheides vom 6. Februar 2009 verurteilt, den Bescheid vom 28. April 2005 zurückzunehmen und dem Kläger Rente
nach einer MdE von 100 v.H. zu gewähren. Zur Begründung hat es ausgeführt, zwar habe die Beklagte die MdE bei dem Kläger entsprechend
der in den Standardwerken niedergelegten Bewertungsrichtlinien festgesetzt, wonach eine unvollständige Brustmark-, Lendenmark-
oder Kaudaschädigung mit ausgeprägter Teillähmung beider Beine sowie Blasen- und Mastdarmentleerungsstörung mit einer MdE
von 60 bis 80 v.H. zu bemessen sei. Diese Standardwerke hätten jedoch weder Gesetzesrang noch seien sie Verordnungsrecht gleichgestellt.
Sie seien praktisch vorweg genommene gutachterliche Feststellungen und dienten der Gleichbehandlung aller Versicherten. Gerade
an letzterem Grundsatz sei aber die MdE im konkreten Fall zu bewerten. Sie verstoße zur Überzeugung eklatant gegen den hier
von der Rechtsprechung immer wieder herangezogenen Gleichheitsgrundsatz des Artikels 3
Grundgesetz (
GG). Es reiche nämlich nicht aus, dass jeder Fall mit derselben Verletzung gleichbehandelt werde. Vielmehr müsse das Gefüge
der MdE-Tabellen eine Gleichbehandlung aller Verletzten innerhalb des Systems garantieren. Dies sei an den Funktionseinschränkungen
auszurichten. Unstreitig sei beim Verlust beider Oberschenkel einer MdE von 100 v.H. festzustellen. Würde man die klägerischen
Unfallfolgen vergleichen mit den Unfallfolgen eines Doppeloberschenkelamputierten, der im ungünstigsten Fall keine prothetische
Versorgung erhalten könne, so wären beide auf den Rollstuhl angewiesen und insoweit gleichgestellt. Schon aus diesem Grund
allein sei die Bemessung einer Gesamt-MdE von 100 v.H. gerechtfertigt. Dabei bleibe noch völlig unberücksichtigt, dass bei
den inkomplett Querschnittsgelähmten noch die erheblichen Funktionsstörungen von Seiten der Blasen- und Mastdarmentleerung
hinzukämen.
Gegen dieses ihr am 5. Juli 2012 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 16. Juli 2012 Berufung bei dem Hessischen Landessozialgericht
in Darmstadt eingelegt.
Die Beklagte ist der Auffassung, das Sozialgericht habe nicht geprüft, ob die vorliegend heranzuziehenden MdE-Vergleichswerte
als nur einfache oder qualifizierte Erfahrungswerte heranzuziehen seien. Auch der behauptete Verstoß gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz
könne nicht nachvollzogen werden. Es liege auf der Hand, dass doppelseitig Oberschenkelamputierte und inkomplett Querschnittsgelähmte
mit Blasen- und Mastdarmlähmung im Erwerbsleben unabhängig von der in vielen Fällen als Gemeinsamkeit bestehenden Rollstuhlpflicht
ganz unterschiedlichen Einschränkungen unterlägen und deshalb nicht verglichen werden könnten. Korrekt wäre eine Plausibilitätsprüfung
der Systematik der Erfahrungswerte, die verschiedene veröffentlichte MdE-Tabellen zu demselben Verletzungsfolgezustand, also
dem vergleichbaren Gesamtbild der Einschränkungen im Erwerbsleben nach inkompletter oder auch kompletter Querschnittslähmung,
vergleiche. Solche Unterschiede der Tabellenwerte hätten sich aber nicht ergeben. Ferner wäre es richtig gewesen zu prüfen,
wie hoch die Akzeptanz der Erfahrungswerte durch Versicherungsträger und Rechtsprechung sei. Dem System der MdE-Erfahrungswerte
sei immanent, dass die schwerste Ausprägung der gesundheitlichen Beeinträchtigungen mit dem Höchstwert belegt werde. Geringergradige
Schädigungen seien nach der Schwere entsprechend abzustufen. Das Sozialgericht habe nicht geprüft, ob bei dem Kläger ein im
Rahmen der MdE-Erfahrungswerte für Rückenmarkschädigungen mit einer dort mit einer MdE von 100 v.H. zu bewertenden Schädigung
vergleichbar gravierendes Bild der Funktionseinschränkungen vorliege; auch habe es seine durch Vergleich mit den Amputationsverletzungen
gewonnene Bewertung nicht insoweit agitiert oder gewichtet und schließlich auch nicht geprüft, ob unter Umständen innerhalb
der Erfahrungswerte für die Wirbelsäulenmarkschädigungen eine unbegründete Inkonsistenz bestehe. Selbst wenn der vom Sozialgericht
herangezogene Vergleichsmaßstab schlüssig wäre, hätte es prüfen müssen, ob nicht die MdE von 100 v.H. für doppelseitig Oberschenkelamputierte
angesichts der vom Sozialgericht beschriebenen Fortschritte in Rehabilitation und Ausstattung mit orthopädischen Hilfsmitteln
noch zeitgemäß und richtig ist.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Gießen vom 27. April 2012 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er hält die erstinstanzliche Entscheidung für rechtmäßig. Mit der inkompletten Querschnittslähmung sei er im Vergleich zu
den Oberschenkelamputierten wegen der zusätzlichen Blasen- und Mastdarmlähmung funktional schlechter gestellt. Zudem könne
er wegen der bestehenden Dekubitusanfälligkeit nicht lange sitzen. Lediglich zur Entlastung der Wirbelsäule könne er sich
an einen Tisch hochziehen. Dies mache er immer dann, wenn er nicht mehr sitzen könne und kurzzeitig die Wirbelsäule entlasten
müsse. Zudem liege bei ihm wegen der extremen Neigung zum Dekubitus die Besorgnis eines künstlichen Darmausgangs vor. Insgesamt
liege eine Leistungseinschränkung von 100 % vor, sein Leistungsvermögen sei mit Null anzusetzen. Im Übrigen werde auf die
Begutachtungen durch Dr. K. und Frau Dr. E. Bezug genommen.
Wegen der weiteren Einzelheiten, auch im Vorbringen der Beteiligten und in den medizinischen Unterlagen, wird auf den Inhalt
der Gerichtsakte sowie der beigezogenen Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung
gewesen ist.
Gründe
Die Berufung ist zulässig, jedoch nicht begründet. Das angefochtene erstinstanzliche Urteil ist rechtmäßig. Der bei der Beklagten
versicherte Kläger hat unter Aufhebung des Bescheides vom 28. Oktober 2008 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 6. Februar
2009 Anspruch auf Rücknahme des Bescheides vom 28. April 2005 und Gewährung einer Rente wegen der Folgen des Arbeitsunfalls
vom 26. September 2002 nach einer MdE von 100 v.H. ab 25. März 2004.
In der Sache hat die Berufung keinen Erfolg, weil die Voraussetzungen des § 44 Abs. 1 SGB X vorliegen. Nach dieser Vorschrift ist ein Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die
Vergangenheit zurückzunehmen, soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei Erlass des Verwaltungsaktes das Recht unrichtig angewandt
oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb Sozialleistungen zu
Unrecht nicht erbracht oder Beiträge zu Unrecht erhoben worden sind. Bei dem Kläger liegen entgegen der in dem Bescheid vom
28. April 2005 durch die Beklagte getroffenen Feststellungen auch bereits seit Rentenbeginn am 25. März 2004 Folgen des anerkannten
Arbeitsunfalls vom 26. September 2002 vor, die eine MdE von 100 v.H. bedingen.
Nach §
56 Abs.
2 Satz 1
SGB VII richtet sich die MdE danach, in welchem Umfang die Unfallfolgen das körperliche und geistige Leistungsvermögen des Versicherten
beeinträchtigen und seine Arbeitsmöglichkeiten auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens vermindern. Steht die unfallbedingte
Leistungseinbuße fest, so ist zu bewerten, wie sie sich im allgemeinen Erwerbsleben auswirkt (BSG, Urteile vom 29. November 1956, Az.: 2 RU 121/56, BSGE 4, 147, 149, vom 27. Juni 2000, Az.: B 2 U 14/99 R, SozR 3-2200 § 581 Nr. 7 und vom 2. Mai 2001, Az.: B 2 U 24/00 R, SozR 3-2200 § 581 Nr. 8). Dabei stellt die Bewertung der durch die Arbeitsunfallfolgen bedingten MdE eine tatsächliche Feststellung
gemäß §
128 Abs.
2 SGG dar, die das Berufungsgericht nach freier, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnener Überzeugung zu treffen und zu
begründen hat (BSGE 37, 177, 179; 41, 99, 100; ständige Rechtsprechung des Senats: bspw. Urteile vom 15. November 2000 - Az.: L 3 U 104/99, 28. September 2005, Az.: L 3 U 165/04 und vom 14. Juli 2009, Az.: L 3 U 191/07). Sie erfolgt in Anlehnung an §
287 Zivilprozessordnung (
ZPO) im Wege einer annäherungsweisen Schätzung. Ärztliche Sachverständigengutachten sind bei der Beantwortung dieser Frage meist
unverzichtbar. Wie weit die Unfallfolgen die körperlichen und geistigen Fähigkeiten des Versicherten beeinträchtigen, beurteilt
sich in erster Linie auf ärztlich-wissenschaftlichem Gebiet. Um die MdE einzuschätzen sind die Erfahrungssätze zu beachten,
die die Rechtsprechung und das versicherungsrechtliche sowie versicherungsmedizinische Schrifttum herausgearbeitet haben.
Auch wenn diese Erfahrungssätze das Gericht im Einzelfall nicht binden, so bilden sie doch die Grundlage für eine gleiche
und gerechte Bewertung der MdE in zahlreichen Parallelfällen der täglichen Praxis (BSG, Urteile vom 26. Juni 1985, Az.: 2 RU 60/84, SozR 2200 § 581 Nr. 23, vom 26. November 1987, Az.: 2 RU 22/87, SozR 2200 § 581 Nr. 27 und vom 30. Juni 1998, Az.: B 2 U 41/97 R, SozR 3-2200 § 581 Nr. 5). Sie sind in Rententabellen oder Empfehlungen zusammengefasst und bilden die Basis für einen Vorschlag,
den der medizinische Sachverständige zur Höhe der MdE unterbreitet. Hierdurch wird gewährleistet, dass alle Betroffenen nach
einheitlichen Kriterien begutachtet und beurteilt werden. Insoweit bilden sie ein geeignetes Hilfsmittel zur Einschätzung
der MdE (vgl. BSG, Urteil vom 19. Dezember 2000, Az.: B 2 U 49/99 R, HVBG-INFO 2001, 499, 500 ff.).
Die vom Sozialgericht in dem von der Beklagten angefochtenen Urteil vorgenommene Feststellung einer MdE von 100 v.H. ist in
Anwendung dieser Grundsätze im Ergebnis nicht zu beanstanden.
Die Einschätzung der MdE erfolgt bei Querschnittslähmungen in Abhängigkeit von Lähmungsniveau und -ausmaß sowie den hieraus
resultierenden Funktionsstörungen. Besonderen Einfluss auf die MdE hat dabei der Umfang der Blasen- und Mastdarmentleerungsstörung
(Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 8. Auflage 2010, Ziff. 8.3.5.7, S. 474). Eine unvollständige
Brustmark-, Lendenmark- oder Kaudaschädigung mit vollständigen Lähmungen von Körperstamm und Beinen sowie Blasen- und Mastdarmentleerungsstörung
bedingt nach Schönberger u.a., S. 475, eine MdE von 100 v. H., mit ausgeprägter Teillähmung beider Beine sowie Blasen- und
Mastdarmstörung eine MdE von 60 bis 80 v.H. Nach Mehrhoff, Ekkernkamp, Wich, Unfallbegutachtung, 13. Auflage 2012 ist eine
inkomplette Paraplegie bei nicht funktioneller Muskulatur mit Blasen- und Mastdarmstörung mit einer MdE von 80 bis 100 v.H.,
bei funktioneller Muskulatur mit Blasen- und Mastdarmstörung mit einer MdE von 60 bis 80 v.H. zu beurteilen (S. 162). Alleinige
Blasen- und Mastdarmstörungen nach Wirbelbruch oder Bluterguss ins Rückenmark sind hiernach mit einer MdE vom 30 bis 100 v.H.,
Lähmungen beider Beine, der Blase und des Mastdarms nach einem Wirbelkörperbruch mit einer MdE von 100 v.H. zu bewerten.
Aus den Gutachten von Dr. E., Dr. G. und Dr. K. ist übereinstimmend zu entnehmen, dass bei dem Kläger diagnostisch eine inkomplette
spastische Paraplegie unterhalb L1 vorliegt, die aber als funktionell motorisch komplett unterhalb L2 zu bezeichnen ist. Die
insoweit beschriebene Gehfähigkeit resultiert nur aus künstlichen, gelenkübergreifenden Stützschalen unter Zuhilfenahme von
zwei Gehstützen und ist nach übereinstimmenden Aussagen der Sachverständigen ausschließlich zu therapeutischen Zwecken nutzbar.
Dies zeigt sich zusätzlich auch darin, dass es alleine beim Umsetzen aus oder in den Rollstuhl bereits mehrfach zu Stürzen
mit Frakturverletzungen gekommen ist. Hinzu kommt, dass alle Sachverständigen - insbesondere im Bereich des linken Beines
- bei Bewegungen oder Anschlagen der Beine eine massive einschießende Spastik festgestellt haben, außerdem im Bereich der
Wadenmuskulatur einen sehr hohen Tonus, der dazu führt, dass beide Füße ohne äußere Manipulation etwa eine Senkung von 25
Grad einnehmen. Zur Fortbewegung ist der Kläger letztlich ausschließlich auf den Rollstuhl angewiesen. Zu der damit beim Kläger
vorliegenden nicht funktionellen Muskulatur in beiden Beinen kommen nicht nur "Blasen- und Mastdarmstörungen", sondern tritt
eine vollständige Blasen- und Mastdarmlähmung hinzu. Dies führt im Hinblick auf die aufgehobene Blasenfunktion zur Notwendigkeit
der Blasenentleerung im Wege einer ca. sechsmal pro Tag durchzuführenden Selbstkatheterisierung; zudem kommt es zu rezidivierenden
Harnwegsinfekten, im Rahmen derer auch Inkontinenz auftritt. Daneben besteht die vollständige Lähmung des Mastdarms. Zur Stuhlentleerung
nimmt der Kläger jeden zweiten Tag Abführmittel ein, trotzdem gestaltet sich das Abführen problematisch und nicht regelmäßig.
Es sind alle zwei Tage aufwendige Darmentleerungssitzungen von bis zu sechs Stunden Dauer erforderlich; ein- bis zweimal monatlich
kommt es außerdem zu unkontrollierten Darmentleerungen.
Ausgehend von diesen Beeinträchtigungen ist bei dem Kläger eine Paraplegie nicht nur mit einer ausgeprägten Teillähmung der
Beine, sondern mit nicht funktioneller Muskulatur und damit funktionell vollständiger Lähmung der Beine festzustellen. Hierzu
treten Blasen- und Mastdarmstörungen im Ausmaß der vollständigen Lähmung beider Organe mit den beschriebenen ganz erheblichen
Beeinträchtigungen. In Anwendung der obengenannten Erfahrungswerte sowohl nach Schönberger/Mehrtens/Valentin als auch nach
Mehrhoff/Ekkernkamp/Wich erfüllt der Kläger mit funktionell vollständiger Lähmung der Beine sowie vollständiger Blasen- und
Mastdarmlähmung die Voraussetzungen für die Feststellung einer MdE von 100 v.H. Dabei ist außerdem das Vorliegen einer erheblichen
Beeinträchtigung der Sexualfunktion mit Wegfall der Zeugungsfähigkeit noch unberücksichtigt.
Das entsprechende Ausmaß an Funktionsstörungen liegt ausweislich der aktenkundigen Sachverständigengutachten, beginnend mit
dem Gutachten der Neurotraumatologin Dr. E. vom 20. Januar 2005, auch bereits seit Rentenbeginn am 25. März 2004 vor, sodass
der insoweit abweichende bestandskräftige Bescheid 28. April 2005 zurückzunehmen ist. Da die Rücknahme auf den Antrag des
Klägers vom 17. Oktober 2007 erfolgt, ist auch die höhere Rentenzahlung ab Rentenbeginn am 25. März 2004 zu leisten (§ 44 Abs. S. 1 und 3 SGB X).
Nach alledem konnte die Berufung der Beklagten keinen Erfolg haben.
Die Kostenentscheidung beruht auf §
193 SGG, diejenige über die Nichtzulassung der Revision auf §
160 Abs.
2 SGG.