Anspruch auf Arbeitslosengeld
Rechtmäßigkeit der fiktiven Bemessung und der Einordnung in die Qualifikationsgruppe
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über die Höhe des Arbeitslosengeldanspruchs der Klägerin in der Zeit vom 5. Mai 2017 bis 3. Mai 2018.
Die 1964 geborene Klägerin war zuletzt bis August 2014 als Personalleiterin versicherungspflichtig beschäftigt. Mit Bewilligungsbescheid
der Beklagten vom 29. August 2014 und Änderungsbescheid vom 16. September 2014 wurde ihr auf der Grundlage eines Bemessungsentgelts
von 193,33 Euro ein Anspruch auf Arbeitslosengeld in Höhe von 58,67 Euro täglich für die Dauer von 286 Tagen ab dem 18. August
2014 zuerkannt. Nach der Teilnahme an einer Maßnahme zur beruflichen Weiterbildung erging der Änderungsbescheid vom 10. November
2014, mit dem die Restanspruchsdauer für die Zeit ab 24. Dezember 2014 auf 204 Tage festgelegt wurde. Unter dem 30. Dezember
2014 zeigte die Klägerin der Beklagten an, sie werde ab 16. Februar 2015 eine hauptberufliche selbständige Tätigkeit aufnehmen.
Daraufhin erging der Aufhebungsbescheid vom 16. Februar 2015, mit dem die Bewilligung von Arbeitslosengeld mit Wirkung vom
selben Tag an aufgehoben wurde. In den folgenden 15 Monaten wurde die Klägerin von der Beklagten mit einem Gründungszuschuss
gefördert.
Nach Aufgabe ihrer selbständigen Tätigkeit meldete sich die Klägerin am 5. Mai 2017 persönlich bei der Beklagten arbeitslos
und beantragte die Gewährung von Arbeitslosengeld. Daraufhin teilte die Beklagte ihr mit, dass ihr Arbeitslosengeld fiktiv
bemessen werden müsse, weil sie in den letzten zwei Jahren weniger als 150 Tage Anspruch auf Arbeitsentgelt gehabt habe. Die
Vermittlungsbemühungen der Arbeitsverwaltung seien auf eine Beschäftigung im zuletzt ausgeübten Beruf als Leiterin Personal
zu konzentrieren. Für diese Tätigkeit sei eine abgeschlossene Ausbildung erforderlich, so dass sie zur Qualifikationsgruppe
3 zähle. Mit Bewilligungsbescheid der Beklagten vom 28. Juni 2017 wurde der Klägerin auf dieser Grundlage (Bemessungsentgelt:
79,33 Euro) ein Anspruch auf Arbeitslosengeld in Höhe von 26,21 Euro täglich für die Dauer von 360 Tagen ab dem 5. Mai 2017
zuerkannt. Den dagegen erhobenen Widerspruch der Klägerin wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 6. Juli 2017 als
unbegründet zurück. Die festgesetzte Höhe des Arbeitslosengelds sei korrekt ermittelt worden. Maßgebend sei die Zeit vom 5.
Mai 2015 bis 4. Mai 2017 als Bemessungsrahmen. In diesem Zeitraum habe die Klägerin weder Arbeitslosengeld bezogen noch beitragspflichtiges
Arbeitsentgelt erzielt. Daher sei ein fiktives Bemessungsentgelt zugrundezulegen. Die Klägerin habe weder ein Hochschulstudium
abgeschlossen noch eine Fachwirt- oder Meisterprüfung absolviert. Sie könne daher nur in Beschäftigungen vermittelt werden,
die lediglich eine abgeschlossene Ausbildung in einem Ausbildungsberuf erfordern. Dabei handele es sich um die Qualifikationsgruppe
3, für die pauschal ein Arbeitsentgelt in Höhe eines Vierhundertfünfzigstels der Bezugsgröße anzusetzen sei.
Am 7. August 2017 (Eingangsdatum) hat die Klägerin, vertreten durch ihre Prozessbevollmächtigte, Klage zum Sozialgericht Darmstadt
erhoben. Die Höhe ihres Arbeitslosengelds sei auf der Grundlage des Bemessungsentgelts aus dem Vorbezug zu bestimmen; zumindest
sei sie aber bei einer fiktiven Bemessung der Qualifikationsgruppe 1 zuzuordnen. Zur Begründung hat sie ausgeführt, das Stammrecht
auf Arbeitslosengeld aus dem Bewilligungsbescheid der Beklagten vom 29. August 2014 habe in dem maßgebenden Zwei-Jahres-Zeitraum
noch bestanden. Dass der Klägerin die Leistung wegen des Aufhebungsbescheids vom 16. Februar 2015 von diesem Tag an tatsächlich
nicht mehr ausgezahlt worden sei, stehe dem Rückgriff auf das frühere Bemessungsentgelt nicht entgegen. Ginge man von einer
fiktiven Bemessung aus, sei zu berücksichtigen, dass sich die Vermittlungsbemühungen der Beklagten auf eine Einstellung der
Klägerin als Personalleiterin beschränkt hätten. Die einschlägigen Stellenangebote seien durchweg an Hochschulabsolventen
gerichtet. Dies sei sachgerecht, weil die Klägerin über eine fast zwanzigjährige Berufserfahrung in verantwortlicher Position
im Personalwesen verfüge. Dagegen könne sie ihren ursprünglichen Ausbildungsberuf als Krankenschwester gar nicht mehr ohne
weiteres ausüben. Dies zeige schon, dass für die Einordnung in die Qualifikationsgruppen nicht der formale Berufsabschluss
entscheidend sein könne.
Die Beklagte hat im Klageverfahren unter dem 13. September 2017 einen Änderungsbescheid erlassen und den täglichen Leistungsbetrag
auf 31,30 Euro angehoben. Für die Beschäftigung als Leiterin Personal sei ein Fachschulabschluss, Meisterbrief oder ein vergleichbarer
Abschluss erforderlich. Daher sei die Klägerin der Qualifikationsgruppe 2 zuzuordnen. Bei der Berechnung des Arbeitslosengelds
sei damit ein fiktives Arbeitsentgelt in Höhe von einem Dreihundertsechzigstel der Bezugsgröße zugrundezulegen, so dass das
Bemessungsentgelt 99,17 Euro betrage. Im Übrigen ist die Beklagte der Klage entgegengetreten. Die Klägerin hat erst im Oktober
2018 eine neue Arbeitsstelle angetreten.
Mit Urteil vom 18. April 2019 hat das Sozialgericht die Klage als unbegründet abgewiesen. Die angefochtenen Bescheide seien
rechtmäßig, denn die Beklagte habe zu Recht eine fiktive Bemessung vorgenommen und die Klägerin dabei der Qualifikationsgruppe
2 zugeordnet.
Der einjährige Bemessungsrahmen umfasse im Fall der Klägerin die Zeit vom 5. Mai 2016 bis 4. Mai 2017. In diesem Zeitraum
habe die Klägerin kein Arbeitsentgelt aus einer versicherungspflichtigen Beschäftigung erzielt. Das treffe auch für den auf
zwei Jahre erweiterten Bemessungsrahmen zu, so dass ein fiktives Arbeitsentgelt zugrundezulegen sei. Die Beklagte sei auch
zu Recht davon ausgegangen, dass die Klägerin nicht innerhalb der letzten zwei Jahre vor der Entstehung des Anspruchs Arbeitslosengeld
bezogen habe. Die Entscheidung über die Bewilligung von Arbeitslosengeld sei mit Wirkung ab 16. Februar 2015 im Hinblick auf
die Aufnahme einer selbständigen Tätigkeit aufgehoben worden. Damit habe der letzte Tag des Bezugs nicht innerhalb des Zwei-Jahres-Zeitraums
gelegen, weshalb das Bemessungsentgelt aus dem Vorbezug nicht herangezogen werden könne. Der in der Folgezeit liegende Bezug
des Gründungszuschusses könne dem Bezug von Arbeitslosengeld nicht gleichgestellt werden, wie es das BSG zum Unterhaltsgeld angenommen habe (BSG, Urteil vom 13. September 2006 - B 11 a AL 33/05 R).
Auch die mit dem Hilfsantrag begehrte Zuordnung der Klägerin in die Qualifikationsgruppe 1 komme nicht in Betracht. Dafür
komme es in erster Linie darauf an, ob der Arbeitslose tatsächlich über den für die angestrebte Beschäftigung erforderlichen
Berufsabschluss verfüge. Das BSG habe offengelassen, ob bei der Zuordnung außer dem ursprünglichen Berufsabschluss - einschließlich erfolgreich absolvierter
Weiterbildungsmaßnahmen - eine tatsächlich ausgeübte höherwertige Tätigkeit dann entscheidend sein könne, wenn eine Vermittlung
in eine entsprechende Beschäftigung aufgrund der bisherigen Tätigkeit realistisch erscheine (BSG, Urteil vom 4. Juli 2012 - B 11 AL 21/11 R). Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze sei die nunmehr von der Beklagten vorgenommene Einordnung der Klägerin in die
Qualifikationsgruppe 2 sachgerecht. Die Klägerin verfüge über einen vor vielen Jahren erworbenen Berufsabschluss als examinierte
Krankenschwester. Diesen Beruf habe sie nur kurzzeitig ausgeübt, sich dann anders orientiert und über viele Jahre im Bereich
Personalwesen gearbeitet, wobei sie dort auch in Leitungsfunktionen tätig gewesen sei. Diesem Umstand habe die Beklagte hinreichend
Rechnung getragen und berücksichtigt, dass die Klägerin insbesondere durch entsprechende Weiterbildungsmaßnahmen - wenn auch
ohne förmlichen Abschluss -höherwertige Qualifikationen erworben habe. Dies rechtfertige in Verbindung mit der langjährigen
qualifizierten Tätigkeit eine Eingruppierung in die Qualifikationsgruppe 2. Eine Gleichstellung mit einer Person, die über
einen Hochschul- oder Fachhochschulabschluss verfügt, könne aber wegen des fehlenden formalen Abschlusses nicht erfolgen.
Die Beklagte habe der Klägerin auch nicht ausschließlich Arbeitsangebote unterbreitet, die eine Hochschul- oder Fachhochschulausbildung
erfordert hätten.
Gegen das ihrer Prozessbevollmächtigten am 26. Juni 2019 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 24. Juli 2019 (Eingangsdatum)
Berufung zum Hessischen Landessozialgericht in Darmstadt erhoben.
Sie weist auf die enge rechtliche Verbindung zwischen Arbeitslosengeld und Gründungszuschuss hin, die es rechtfertige, den
Vorbezug beider Leistungen gleichzustellen. Auch könne es keinen Unterschied machen, ob die Arbeitslosigkeit durch Aufnahme
einer abhängigen Beschäftigung oder einer selbständigen Tätigkeit beendet worden sei. Zu Unrecht habe das Sozialgericht im
Rahmen der fiktiven Bemessung entscheidend auf das Fehlen des formalen Hochschulabschlusses abgestellt. Die Klägerin sei auch
seit Oktober 2018 wiederum als Personalleiterin tätig. In derartigen Leitungspositionen würden überwiegend Hochschulabsolventen
beschäftigt.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Darmstadt vom 18. April 2019 aufzuheben und die Beklagte unter Abänderung ihres Bescheids vom
28. Juni 2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 6. Juli 2017 und des Änderungsbescheids vom 13. September 2017
zu verurteilen, ihr für die Zeit vom 5. Mai 2017 bis 3. Mai 2018 höheres Arbeitslosengeld nach einem Bemessungsentgelt in
Höhe von 193,33 Euro, hilfsweise in Höhe von 119,00 Euro zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält das angegriffene Urteil für zutreffend. Ein anderes Ergebnis folge auch nicht aus dem Urteil des BSG vom 7. Mai 2019 - B 11 AL 18/18 R. Dieses betreffe ausschließlich Fälle, in denen das Stammrecht entstanden sei, weil alle Voraussetzungen für den Anspruch
auf Arbeitslosengeld, nämlich Arbeitslosigkeit, Arbeitslosmeldung und Erfüllung der Anwartschaftszeit, erfüllt seien, es jedoch
trotzdem nicht zu einer Auszahlung des Arbeitslosengelds komme, weil der Anspruch z.B. wegen des Eintritts einer Sperrzeit,
der Zahlung einer Abfindung oder der Zahlung einer Urlaubsabgeltung ruhe. Entscheidend sei, dass es aufgrund des früheren
Stammrechts gar nicht zur Auszahlung von Arbeitslosengeld gekommen sei. Diesem Fall könne das Bestehen eines Stammrechts wegen
einer noch nicht verbrauchten Restanspruchsdauer nicht gleichgestellt werden.
Wegen weiterer Einzelheiten und des Vorbringens der Beteiligten im Übrigen wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der beigezogenen
Verwaltungsvorgänge der Beklagten, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind, ergänzend Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die Berufung der Klägerin ist zulässig und begründet.
Das Urteil des Sozialgerichts vom 18. April 2019 ist aufzuheben, weil die zulässige und begründete Klage zu Unrecht abgewiesen
worden ist. Die Klägerin hat - ihrem Hauptantrag entsprechend - Anspruch auf Arbeitslosengeld nach einem Bemessungsentgelt
in Höhe von 193,33 Euro. Daher ist der angefochtene Bewilligungsbescheid der Beklagten vom 28. Juni 2017 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheids vom 6. Juli 2017 (§
95 Sozialgerichtsgesetz -
SGG) und des Änderungsbescheids vom 13. September 2017 (§
96 SGG) insoweit rechtswidrig, als darin die Höhe des Arbeitslosengeldanspruchs auf 31,30 Euro täglich (ausgehend von einem Bemessungsentgelt
in Höhe von 99,17 Euro) begrenzt worden ist. Insoweit ist die Verwaltungsentscheidung abzuändern und die Beklagte zu höheren
Leistungen für die Zeit vom 5. Mai 2017 bis 3. Mai 2018 zu verurteilen.
Zutreffend gehen die Beteiligten übereinstimmend davon aus, dass die Klägerin gem. §
137 Abs.
1 SGB III ab 5. Mai 2017 Anspruch auf Arbeitslosengeld für die Dauer von 360 Tagen hat. Nach ständiger höchstrichterlicher Rechtsprechung,
der der Senat folgt, sind die tatsächlichen Voraussetzungen für den Anspruch dem Grunde nach auch im sog. Höhenstreit festzustellen
(siehe nur BSG, Urteil vom 7. Mai 2019 - B 11 AL 18/18 R, SozR 4-4300 § 151 Nr. 2 Rn. 10 m.w.N.). Der Senat ist aufgrund der übereinstimmenden Angaben der Beteiligten und der Aktenlage
davon überzeugt, dass sich die Klägerin am 5. Mai 2017 persönlich bei der Agentur für Arbeit arbeitslos gemeldet hat (§
141 Abs.
1 SGB III), dass sie in der damals zweijährigen Rahmenfrist des §
143 SGB III a.F. mehr als zwölf Monate in einem Versicherungspflichtverhältnis gestanden hat (§
142 Abs.
1 SGB III) und dass sie während der Bezugsdauer von 360 Tagen arbeitslos gewesen ist (§
138 Abs.
1 SGB III). Denn sie stand während des streitgegenständlichen Zeitraums nicht in einem Beschäftigungsverhältnis, war bemüht, die Beschäftigungslosigkeit
zu beenden und stand den Vermittlungsbemühungen der Agentur für Arbeit zur Verfügung. Zudem hatte sie auch die Altersgrenze
des §
136 Abs.
2 SGB III noch nicht erreicht. Die Anspruchsdauer beruht auf §
147 Abs.
2 SGB III a.F., wonach ein Anspruch von zwölf Monaten Versicherungspflichtverhältnisse mit einer Dauer von insgesamt mindestens 24
Monaten in der um drei Jahre erweiterten Rahmenfrist voraussetzt. Diese Vorversicherungszeit erfüllt die Klägerin durch ihre
Antragspflichtversicherung nach §
28a SGB III in der Zeit vom 16. Februar 2015 bis 4. Mai 2017. Eine solche freiwillige Weiterversicherung hat die Klägerin zeitgleich
mit der Aufnahme ihrer hauptberuflichen selbständigen Tätigkeit begründet. Das steht zur Überzeugung des Senats aufgrund der
Bescheide der Beklagten vom 6. März 2015 („Versicherungsschein“) und vom 26. Juni 2017 („Aufhebungsbescheid“) sowie der aktenkundigen
Beitragsnachweise fest. Nach Befragung der Klägerin im Termin zur mündlichen Verhandlung ist der Senat ferner zu der Überzeugung
gelangt, dass das Versicherungspflichtverhältnis zumindest nicht vor dem 16. Februar 2017 gemäß §
28a Abs.
5 Nr.
2 SGB III geendet hat, weil die Klägerin keine selbständige Tätigkeit im Mindestumfang von 15 Wochenstunden mehr ausgeübt hätte. Vielmehr
hat die Klägerin nachvollziehbar dargelegt, dass sie sich auch im Januar und Februar 2017 noch um Aufträge bemüht hat (wenn
auch vergeblich) und ihr für diese Akquise ein Zeitaufwand von etwa 30 Stunden in der Woche entstanden ist.
Da bei der Klägerin in der Zeit vom 5. Mai 2017 bis 3. Mai 2018 kein Kind mehr zu berücksichtigen war, hatte sie gem. §
149 SGB III Anspruch auf Arbeitslosengeld nach dem allgemeinen Leistungssatz in Höhe von 60 % des pauschalierten Nettoentgelts (Leistungsentgelt),
das sich aus dem im Bemessungszeitraum erzielten Bruttoentgelt ergibt (Bemessungsentgelt). Dabei ist nach §
151 Abs.
1 Satz 1
SGB III grundsätzlich das durchschnittlich auf den Tag entfallende beitragspflichtige Arbeitsentgelt anzusetzen, das die oder der
Arbeitslose im Bemessungszeitraum erzielt hat. Im vorliegenden Fall ergibt sich der mit dem Hauptantrag verfolgte Anspruch
auf Berücksichtigung eines Bemessungsentgelts in Höhe von 193,33 Euro allerdings aus der Bestandsschutzregelung des §
151 Abs.
4 SGB III. Danach entspricht das Bemessungsentgelt mindestens dem Entgelt, nach dem das Arbeitslosengeld zuletzt bemessen worden ist,
wenn der Arbeitslose schon innerhalb der letzten zwei Jahre vor der Entstehung des Anspruchs Arbeitslosengeld bezogen hat.
Damit wird nach höchstrichterlicher Rechtsprechung nicht zwingend die tatsächliche Auszahlung dieser Versicherungsleistung
vorausgesetzt. Vielmehr genügt es danach, wenn innerhalb des Zwei-Jahres-Zeitraums ein Stammrecht auf Arbeitslosengeld bestanden
hat (BSG, Urteil vom 7. Mai 2019 - B 11 AL 18/18 R, SozR 4-4300 § 151 Nr. 2 Rn. 17). Der erkennende Senat schließt sich dieser aktuellen Entscheidung, der auch im Schrifttum
durchweg gefolgt wird (vgl. Gagel/Rolfs
SGB III §
151 Rn. 35a; Giesen, NZS 2019, 796; Schäfer-Kuczynski, FD-SozVR 2019, 421105; ebenso zuvor schon Brackelmann in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-
SGB III, 2. Aufl. 2019, §
151 Rn. 30.1), nach eigener Prüfung an.
Ein solches Stammrecht zeichnet sich dadurch aus, dass es zwar noch nicht dazu berechtigt, eine Auszahlung der Leistung zu
verlangen, aber bereits einen zu einem subjektiven Recht verfestigten Besitzstand begründet, der dem Schutz des Art.
14 Grundgesetz unterliegt. Es entsteht, wenn alle gesetzlichen Anspruchsvoraussetzungen für einen Anspruch auf Arbeitslosengeld vorliegen.
Wegen dieser materiell-rechtlichen Konstruktion wird das Stammrecht nicht durch einen Bewilligungsbescheid begründet oder
auch nur festgestellt, der nur Art, Dauer (Beginn und Ende) und Höhe der Zahlungsansprüche betrifft. Ebenso wenig wird das
Stammrecht durch einen Aufhebungsbescheid in seinem Fortbestand tangiert. Denn die materielle Anspruchsberechtigung besteht
unabhängig von diesen Verwaltungsakten. Daher geht das Stammrecht erst durch vollständigen Verbrauch des Zahlungsanspruchs
gem. §
148 SGB III oder bei einem Erlöschen des Anspruchs nach Maßgabe des §
161 SGB III oder §
136 Abs.
2 SGB III unter. Bis dahin besteht es als Sozialrechtsverhältnis zwischen dem Leistungsberechtigten und dem Leistungsträger fort und
begründet wechselseitige Rechte und Pflichten auch in Zeiten, in denen die Hauptleistung nicht erfüllt wird (siehe zum Ganzen
schon BSG, Urteil vom 8. Dezember 1994 - 11 RAr 41/94, BSGE 75, 235 ff. = NZS 1995, 418 ff.; BVerfG, Beschluss vom 22. Juli 2009 - 1 BvL 10/07, NZS 2010, 152 f.; Gagel/Baldschun
SGB III §
136 Rn. 10 ff.; Bienert, SGb 2009, 576 ff.; Sauer,
SGB III, §
137 Rn. 4; Valgolio in: Hauck/Noftz, §
137 SGB III Rn. 9 ff.; Voelzke in: Kasseler Handbuch des Arbeitsförderungsrechts, §
12 Rn. 446 f.).
Im Fall der Klägerin bestand das (alte) Stammrecht auf Arbeitslosengeld bis zur Erschöpfung der Restanspruchsdauer am 17.
Juli 2015 und damit noch innerhalb des maßgebenden Zwei-Jahres-Zeitraums vor der Entstehung des streitgegenständlichen Anspruchs
am 5. Mai 2017. Aufgrund des bestandskräftigen Änderungsbescheids vom 10. November 2014 steht zwischen den Beteiligten gemäß
§
77 SGG bindend fest, dass der Klägerin für die Zeit ab 24. Dezember 2014 noch 204 Tage Arbeitslosengeld in Höhe von 58,67 Euro täglich
zustanden. Dieser Anspruch wurde von der Beklagten bis zum 15. Februar 2015, also für weitere 52 Tage erfüllt (vgl. Aufhebungsbescheid
vom 16. Februar 2015). Gemäß §
148 Abs.
1 Nr.
1 SGB III mindert sich die Dauer des Anspruchs auf Arbeitslosengeld um die Anzahl von Tagen, für die der Anspruch auf Arbeitslosengeld
bei Arbeitslosigkeit erfüllt worden ist. Das Arbeitslosengeld wird für Kalendertage berechnet und geleistet; ist es für einen
vollen Kalendermonat zu zahlen, ist dieser mit 30 Tagen anzusetzen (§
154 SGB III). Die danach verbliebene Restanspruchsdauer von 152 Tagen wurde nahtlos in der Folgezeit verbraucht, weil die Beklagte der
Klägerin aufgrund ihres Bewilligungsbescheids vom 24. April 2015 Gründungszuschuss in Höhe von 2.060,10 Euro monatlich für
die Zeit ab 16. Februar 2015 gezahlt hat. Denn die Dauer des Anspruchs auf Arbeitslosengeld mindert sich gem. §
148 Abs.
1 Nr.
8 SGB III auch um die Anzahl von Tagen, für die ein Gründungszuschuss in der Höhe des zuletzt bezogenen Arbeitslosengelds geleistet
worden ist. Schon diese Rechtsfolge, die ihre Rechtfertigung in der Vorschrift des §
94 Abs.
1 SGB III findet, wonach als Gründungszuschuss für die Dauer von sechs Monaten der Betrag geleistet wird, den die Arbeitnehmerin oder
der Arbeitnehmer als Arbeitslosengeld zuletzt bezogen hat, zuzüglich monatlich 300 Euro, spricht im Kontext des §
151 Abs.
4 SGB III dafür, dem Bezug von Arbeitslosengeld den Bezug von Gründungszuschuss in der Höhe des zuletzt bezogenen Arbeitslosengelds
gleichzustellen.
Entgegen der Ansicht der Beklagten beschränkt sich die Entscheidung des BSG (Urteil vom 7. Mai 2019 - B 11 AL 18/18 R, SozR 4-4300 § 151 Nr. 2) nicht auf den Fall des Ruhens des Arbeitslosengeldanspruchs. Das zeigt schon der allgemein gehaltene
amtliche Leitsatz:
„Hat innerhalb der letzten zwei Jahre vor der Entstehung des Anspruchs auf Arbeitslosengeld ein Stammrecht auf Arbeitslosengeld
bestanden, ist Bemessungsentgelt mindestens das der Berechnung des Arbeitslosengelds aus diesem Stammrecht zugrundeliegende
Entgelt.“
Auch in der Begründung des Urteils ist eine solche Differenzierung nicht angelegt. Die Argumentation des BSG trifft vielmehr in gleicher Weise auf den vorliegenden Sachverhalt zu.
Im Wesentlichen stützt das BSG sein Ergebnis auf eine teleologische Auslegung des §
151 Abs.
4 SGB III (BSG, Urteil vom 7. Mai 2019 - B 11 AL 18/18 R, SozR 4-4300 § 151 Nr. 2 Rn. 20 ff.). Insofern lässt die Gesetzesbegründung zur Einführung der Vorgängervorschrift des §
133 Abs.
1 SGB III a.F. erkennen, dass die Bestandsschutz-regelung dazu dient, Arbeitslose, die ihre Arbeitslosigkeit durch die Aufnahme einer
Beschäftigung beenden, in der sie ein geringeres Entgelt erzielen, als es der Bemessung des Arbeitslosengelds zugrunde lag,
vor Nachteilen bei erneutem Beschäftigungsverlust zu schützen; zudem sollten Hemmnisse, die einer Rückkehr in das Erwerbsleben
entgegenstehen könnten, beseitigt werden (vgl. BT-Drucks. 13/4941, S. 178). Ein solcher Anreiz zur möglichst frühzeitigen
Beendigung der Arbeitslosigkeit erscheint auch bei einer Existenzgründung sachgerecht. Die Aufnahme einer selbständigen Tätigkeit
ist mindestens mit ebenso großen Unsicherheiten verbunden wie die Aufnahme einer abhängigen Beschäftigung. Erweist sie sich
auf Dauer als nicht tragfähig und tritt erneut Arbeitslosigkeit ein, führt sie - wenn ein neues Stammrecht auf Arbeitslosengeld
entstanden ist - unweigerlich zu einer fiktiven Bemessung nach §
152 SGB III. Daher kann es für Arbeitslose, die eine Existenzgründung erwägen, eine Bestärkung ihres Entschlusses sein, wenn sie auf
die Besitzstandswahrung gem. §
151 Abs.
4 SGB III vertrauen dürfen. Die dadurch ermöglichte Verkürzung der Arbeitslosigkeit entspricht Sinn und Zweck der Norm.
In systematischer Hinsicht weist das BSG zutreffend auf die Parallele zum Bestandsschutz bezüglich der Anspruchsdauer nach §
147 Abs.
4 SGB III hin. Danach verlängert sich der neu erworbene Arbeitslosengeldanspruch u.U. um die Restdauer des wegen der Entstehung eines
neuen Anspruchs erloschenen früheren Anspruchs auf Arbeitslosengeld. Auch dabei kommt es nicht auf einen in der Vergangenheit
bestehenden Zahlungsanspruch an; die bloße Existenz eines „alten“ Stammrechts genügt. In Anbetracht des übereinstimmenden
Ziels beider Regelungen wäre es unstimmig und inkonsequent, wenn es für den Bestandsschutz der Anspruchsdauer allein auf das
Stammrecht ankommen würde, der Bestandsschutz des Bemessungsentgelts aber von der zusätzlichen Voraussetzung des tatsächlichen
Leistungsbezugs abhängen sollte (BSG, Urteil vom 7. Mai 2019 - B 11 AL 18/18 R, SozR 4-4300 § 151 Nr. 2 Rn. 23).
Die Kostenentscheidung beruht auf §
193 SGG.
Der Senat hat die Revision zugelassen, weil er der Frage grundsätzliche Bedeutung beimisst, ob das bloße Stammrecht auf Arbeitslosengeld
auch dann als Leistungsbezug im Sinne des §
151 Abs.
4 SGB III anzusehen ist, wenn der Berechtigte in dem maßgebenden Zwei-Jahres-Zeitraum nicht arbeitslos war.