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LSG Niedersachsen, Urteil vom 23.02.2000 - 4 KR 56/98
Krankenversicherungsrecht: Erstattungsanspruch gegen die Krankenkasse bei selbst beschafften nach dem AMG nicht zugelassenen Arzneimitteln, Deoxyspergualin [DSG]
»Solange ein nach dem Arzneimittelgesetz zulassungspflichtiges Arzneimittel nicht zugelassen ist, darf es in der gesetzlichen Krankenversicherung nicht gewährt werden (Anschluss an die ständige Rechtsprechung des BSG, Urteil vom 23.7.1998 - B 1 KR 19/96 R in BSGE 82, 232 ff.)«
Normenkette:
SGB V § 13 Abs. 3 § 27 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 § 31 Abs. 1 S. 1
Vorinstanzen: SG Lüneburg 19.01.1998 S 9 KR 44/96
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten um die Kostenerstattung für das Arzneimittel Deoxyspergualin (nachfolgend: DSG).
Der bei der Beklagten pflichtversicherte Kläger leidet seit Ende 1993 unter Multipler Sklerose (MS). Deretwegen befand er sich zwei Mal in stationärer Krankenhausbehandlung und wurde ambulant von dem Neurologen Dr XXX ua mit den Arzneimitteln Cortison bzw. Imurek behandelt.
Mit dem am 7. Juni 1995 bei der Beklagten eingegangenen Schreiben beantragte der Kläger Kostenübernahme für die Behandlung mit DSG bei dem Münchener Arzt Prof Dr ... Prof Dr XXX ist der Auffassung, dass eine Therapie mit 15+/- DSG ein neuer Therapieansatz sei, der nach den bisherigen Ergebnissen eine realistische Möglichkeit biete, signifikante Befundverbesserungen bei Auto-Immunerkrankungen zu erreichen. Der Antrag wurde von der Beklagten mit Schreiben vom 14. Juni 1995 abgelehnt. DSG sei in der gesetzlichen Krankenversicherung mangels arzneimittelrechtlicher Zulassung nicht verordnungsfähig. Der Kläger begab sich sodann ab 19. Juni 1995 in Behandlung bei Prof Dr XXX Die von ihm selbstbezifferten Gesamtaufwendungen für die Beschaffung von DSG beliefen sich auf insgesamt rd 30.000,-- DM.
Der Kläger legte gegen das vorgenannte Schreiben vom 14. Juni 1995 Widerspruch ein. Darauf reagierte die Beklagte mit weiterem Schreiben vom 9. November 1995 sowie Bescheid vom 15. Januar 1996 mit Rechtsbehelfsbelehrung. Der Widerspruch wurde schließlich mit Widerspruchsbescheid vom 10. April 1996 zurückgewiesen.
Dagegen hat der Kläger am 13. Mai 1996 Klage vor dem Sozialgericht (SG) Lüneburg erhoben, die mit Urteil vom 19. Januar 1998 abgewiesen wurde. Zur Begründung hat das SG Lüneburg im wesentlichen ausgeführt: Der Kostenerstattungsanspruch scheitere daran, dass die Behandlung mit DSG keine erstattungsfähige Leistung sei. Vor dem Hintergrund des Wirtschaftlichkeitsgebots hätten sozialversicherte Patienten keinen Anspruch auf Versorgung mit arzneimittelrechtlich nicht zugelassenen Arzneimitteln.
Gegen das ihm am 11. Februar 1998 zugestellte Urteil hat der Kläger am 5. März 1998 Berufung vor dem Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen eingelegt. Er trägt vor, dass das Mittel geholfen habe. Neue Schübe seien nicht aufgetreten, weshalb der Beklagten erhebliche Aufwendungen erspart geblieben seien. Anerkannte schulmedizinische Behandlungsmethoden seien mit erheblichen Gefahren und Schäden für die Gesundheit verbunden. Aufgrund der von der Beklagten im Ergebnis vertretenen Rechtsauffassung würden sinnvolle Therapieansätze von vornherein bei Versicherten der gesetzlichen Krankenversicherung ausgeschlossen. Zur weiteren Begründung beruft sich der Kläger auf das vorgelegte Attest des Facharztes für Allgemeinmedizin Dr XXX vom 14. April 1998.
Der Kläger beantragt sinngemäß,
1. das Urteil des Sozialgerichts Lüneburg vom 19. Januar 1998 und die Bescheide der Beklagten vom 14. Juni 1995, 9. November 1995 und 15. Januar 1996 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides- vom 10. April 1996 aufzuheben,
2. die Beklagte zu verurteilen, die Kosten der Behandlung mit DSG bei dem Arzt Prof Dr XXX zu erstatten.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie bezieht sich auf die Entscheidungsgründe des angefochtenen Urteils des SG Lüneburg. Die Verknüpfung des Wirtschaftlichkeitsgebotes mit den Anforderungen des Arzneimittelrechts sei von Verfassungs wegen nicht zu beanstanden. Zur weiteren Begründung beruft sich die Beklagte auf die vorgelegten Beschlüsse des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 5. März 1997 - l BvR 1068/96 (Jomol, nicht veröffentlich) und 1 BvR 1071/95 - (NZS 1995, 225 f) .
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Prozessakte des ersten und zweiten Rechtszuges sowie auf die beigezogene Verwaltungsakte der Beklagten, die Gegenstand der Entscheidungsfindung ohne mündliche Verhandlung gewesen sind, Bezug genommen.
Entscheidunqsgründe:
Der Senat hat mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung gern § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) entschieden.
Die gem. § 151 Abs. l SGG form- und fristgerecht eingelegte und gern § 143 f statthafte Berufung ist zulässig.
Gegenstand der Anfechtungsklage sind auch die als Schreiben bezeichneten Bescheide der Beklagten vom 14. Juni 1995 und 9. November 1995. Die vorgenannten Schreiben sind Verwaltungsakte im Sinne des § 31 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X), weil in ihnen inhaltliche Regelungen über den Anspruch auf Versorgung mit Arzneimitteln gegenüber dem Kläger getroffen wurden.
Das Rechtsmittel ist nicht begründet.
Die von dem Kläger angefochtenen Bescheide sind rechtmäßig. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Kostenerstattung für die Versorgung mit DSG. Solange DSG nicht über eine arzneimittelrechtliche Zulassung verfügt, darf das Medikament in der gesetzlichen Krankenversicherung nicht verordnet oder als Sachleistung zur Verfügung gestellt werden.
Anspruchsgrundlage des klägerischen Begehrens ist § 13 Abs. 3 SGB V idF des Gesundheitsstrukturgesetzes (GSG) vom 21. Dezember 1992 (BGBl I, 2266) . Danach hat die Krankenkasse, die eine Leistung zu Unrecht abgelehnt hat, dem Versicherten die für die Beschaffung der Leistung aufgewendeten Kosten zu erstatten. Der Kostenerstattungsanspruch tritt an die Stelle eines an sich gegebenen Sachleistungsanspruchs, den die Kasse infolge eines Versagens des Beschaffungssystems nicht erfüllt hat. Er kann deshalb nur bestehen, soweit die selbstbeschaffte Leistung ihrer Art nach zu den Leistungen gehört, welche die gesetzlichen Krankenkassen als Sachoder Dienstleistung zu erbringen haben (BSGE 81, 73, 75; BSGE 81, 240, 242).
DSG darf nicht als Arzneimittel im Rahmen des Sachleistungsverschaffungsanspruchs zur Verfügung gestellt werden. Die Beklagte ist zwar gern § 27 Abs. l Satz 2 Nr 3 iVm § 31 Abs. l Satz l SGB V idF des GSG zur Versorgung des Versicherten mit den für die Krankenbehandlung notwendigen Arzneimitteln verpflichtet. Diese Verpflichtung unterliegt aber den Einschränkungen gern § 2 Abs. l iVm § 12 Abs. l SGB V. Die Versorgung mit Arzneimitteln umfasst nur solche Leistungen, die für die Behandlung zweckmäßig und wirtschaftlich sind und deren Qualität und Wirksamkeit dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse entsprechen. An der Zweckmäßigkeit und Wirtschaftlichkeit einer Arzneimitteltherapie fehlt es, wenn das verwendete Medikament nach den Vorschriften des Arzneimittelrechts der Zulassung bedarf und die Zulassung nicht erteilt worden ist (BSGE 82, 233, 234 sowie die von der Beklagten in Bezug genommenen Beschlüsse des BVerfG, aaO).
Die arzneimittelrechtliche Zulassung entspricht den Mindestanforderungen, die im Rahmen der vertragsärztlichen Versorgung an eine wirtschaftliche und zweckmäßige Verordnungsweise zu stellen ist (BSGE 72, 253, 258 f). Für das bei dem Kläger eingesetzte Präparat DSG ist eine arzneimittelrechtliche Zulassung erforderlich, weil es sich um ein Fertigarzneimittel handelt, welches im Voraus hergestellt und in einer zur Abgabe an den Verbraucher bestimmten Packung in den Verkehr gebracht wird (§ 4 Abs. l des Arzneimittelgesetzes). Eine derartige Zulassung ist von dem früheren Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte versagt worden. Auf die von der Beklagten beigezogene Auskunft des Bundesinstitutes vom 16. Januar 1998 (Bl 87 VA) wird verwiesen.
Die geltend gemachten Behandlungskosten sind von der Beklagten auch nicht unter dem Gesichtspunkt der Erprobung einer neuen Behandlungsmethode zu erstatten. Solange Fertigarzneimittel arzneimittelrechtlich nicht zugelassen sind, scheidet die Einbeziehung neuer Arzneitherapien in den Anwendungsbereich des § 135 Abs. l Satz l SGB V aus (BSGE 82, 233, 237 f).
Der Kläger hat auch keinen Anspruch gegen die Beklagte aus dem Gedanken der Erstattung ersparter Kosten für die Versorgung mit zugelassenen Arzneimitteln (etwa Beta-Interferon). Es gibt in der gesetzlichen Krankenversicherung keine Rechtsgrundlage für die Erstattung ersparter Aufwendungen durch den Versicherten. Die soziale Krankenversicherung beruht auf dem Gedanken des Solidarausgleichs zwischen den Versicherten und kennt keinen Finanzausgleich zwischen Versicherten- und Kassenvermögen .
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Gründe für die Zulassung der Revision gem. § 160 Abs. 1 Nrn. 1 und 2 SGG bestehen nicht.