Anspruch auf Sozialhilfe; Leistungsverpflichtung des Sozialhilfeträgers in Abgrenzung zum Grundsicherungsträger aufgrund einer
nachträglichen Neueinschätzung; Ausschluss eines gespaltenen Leistungsanspruchs; Antragstellung bei unzuständigem Leistungsträger
Tatbestand:
Der Kläger begehrt die Gewährung von Leistungen wegen Mehrbedarfs aufgrund der Zuerkennung eines Grades der Behinderung (GdB)
von 70 und des Merkzeichens "G" für den Zeitraum vom 1. November 2008 bis zum 30. April 2009. Besonderheit des Falles ist,
dass seine Erwerbsunfähigkeit für diesen Zeitraum erst nachträglich festgestellt worden ist.
Der aus Kasachstan stammende, 1969 geborene Kläger, der bereits seit Januar 2005 in Bedarfsgemeinschaft mit seiner Ehefrau
und seinen 1997 und 2003 geborenen Töchtern im Leistungsbezug nach dem Sozialgesetzbuch (SGB), Zweites Buch (II) - Grundsicherung
für Arbeitssuchende - gestanden hatte, stellte am 10. September 2008 einen Folgeantrag auf Weiterbewilligung von Leistungen
ab dem 1. November 2008. Bereits zuvor, nämlich mit Bescheid vom 23. Juli 2007, hatte das Niedersächsische Landesamt für Soziales,
Jugend und Familie - Außenstelle L. - den GdB des Klägers mit 70 sowie das Merkzeichen "G" festgestellt, beides mit Wirkung
ab dem 28. Februar 2007. Am 24. Oktober 2007 hatte der Kläger einen Antrag auf Rente wegen voller Erwerbsminderung bei der
Deutschen Rentenversicherung M. gestellt, der durch Bescheid vom 21. Januar 2008 abgelehnt worden war, weil die Wartezeit
nicht erfüllt sei; am 11. August 2008 stellte er erneut einen Antrag auf Rente wegen voller Erwerbsminderung. Die Rentenansprüche
des Klägers wurden anschließend Gegenstand eines vor dem Sozialgericht (SG) Oldenburg - S 8 R 298/09 - geführten Rechtsstreits.
Mit Bescheid vom 18. September 2008 - und alsdann nochmals mit inhaltsgleichem Bescheid vom 9. Oktober 2008 - bewilligte die
Rechtsvorgängerin des Beklagten dem Kläger und seiner Bedarfsgemeinschaft Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach
dem SGB II für den Zeitraum vom 1. November 2008 bis zum 30. April 2009 in Höhe von insgesamt monatlich 1.326,10 EUR nach näherer Maßgabe
der genannten Bescheide nebst den diesen beigefügten Berechnungsbögen. Auf der Bedarfsseite wurden hierbei für den Kläger
der Regelbedarf sowie die Kosten für Unterkunft und Heizung berücksichtigt, ein Mehrbedarf wurde nicht in Ansatz gebracht.
Der Kläger und die weiteren Mitglieder seiner Bedarfsgemeinschaft legten am 28. Oktober 2008 Widerspruch ein, den sie einerseits
mit der ihrer Ansicht nach in verfassungswidriger Weise zu geringen Höhe der Regelleistung begründeten; aus vorherigen, vorausgegangene
Zeiträume betreffenden Rechtsbehelfsverfahren war andererseits bereits die Auffassung des Klägers bekannt, er habe Anspruch
auf einen Mehrbedarf wegen Behinderung, und hierauf nahmen die Verfahrensbevollmächtigten der Bedarfsgemeinschaft des Klägers
ausdrücklich Bezug.
Die Rechtsvorgängerin des Beklagten wies mit Widerspruchsbescheid vom 4. November 2008 den Widerspruch zurück, machte Ausführungen
zur Höhe der Regelleistungen und verwies im Hinblick auf den Mehrbedarf für Schwerbehinderte pauschal auf den Inhalt des Widerspruchsbescheides
zum Az. K 534/08 vom gleichen Tage. Jener Widerspruchsbescheid betrifft einen Überprüfungsantrag nach § 44 Sozialgesetzbuch (SGB), Zehntes
Buch (X) - Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz - für dem hier streitgegenständlichen Zeitraum vorausgegangene
Leistungszeiträume. Dort führte die Rechtsvorgängerin des Beklagten aus, gemäß § 28 Abs. 1 Nr. 4 SGB II sei nicht erwerbsfähigen Personen ein Mehrbedarf von 17 vom Hundert der nach § 20 SGB II maßgebenden Regelleistung zu gewähren, wenn sie Inhaber eines Ausweises nach § 69 Abs. 5 des Neuntes Buches mit dem Merkzeichen "G" seien. Die Erteilung eines entsprechenden Ausweises sei durch den Kläger
nachgewiesen worden. Allerdings sei dieser nicht als erwerbsunfähig anerkannt worden. Ein Antrag auf Rente wegen Erwerbsminderung
sei abgelehnt worden.
Der Kläger und die übrigen Mitglieder seiner Bedarfsgemeinschaft haben am 13. November 2008 Klage erhoben. Zur Klagebegründung
haben sie ausgeführt, sie begehrten höhere Leistungen nach dem SGB II unter jedem rechtlichen oder tatsächlichen Gesichtspunkt. Die weitere Klagebegründung hat sich zunächst mit der von ihnen
weiterhin vertretenen Auffassung, die Regelsätze des SGB II seien in verfassungswidriger Weise zu gering, befasst. Mit Schriftsatz vom 10. März 2009 haben die Kläger auf entsprechende
Nachfrage des Sozialgerichts mitgeteilt, an der Geltendmachung eines Mehrbedarfs nach § 21 Abs. 4 SGB II werde nicht festgehalten. Jedoch bestehe die Auffassung, dass dem Kläger ein Freibetrag in entsprechender Anwendung des §
30 Abs. 1 Nr. 2 Sozialgesetzbuch (SGB), Zwölftes Buch (XII) - Sozialhilfe - zustehe, und bezogen sich insoweit auf ein Urteil
des Landessozialgerichts (LSG) Niedersachsen-Bremen vom 11. März 2008 - L 7 AS 482/05 - sowie auf eine Antragstellung auf Rente wegen voller Erwerbsminderung. Die Rechtsvorgängerin des Beklagten ist der Klage
entgegen getreten, unter anderem unter Hinweis auf ein Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 28. Mai 2009 - L 7 AS 4/09 -, wonach erwerbsfähigen, schwerbehinderten Leistungsbeziehern mit Merkzeichen "G" auf der Grundlage des SGB II kein Anspruch auf Gewährung eines pauschalen Mehrbedarfs zustehe.
In dem bereits genannten vor dem SG Oldenburg geführten Rechtsstreit - S 8 R 298/09 - gegen die Deutsche Rentenversicherung M. hat die dortige Beklagte mit Schriftsatz vom 13. Juli 2010 anerkannt, dass für
den Kläger seit Juli 2007 ein aufgehobenes Leistungsvermögen bestehe. Daher würde ab dem Datum der entsprechenden Antragstellung
auf Gewährung einer Rente, dem 24. Oktober 2007, ein Anspruch des Klägers auf eine zeitlich unbefristete Rente wegen voller
Erwerbsminderung anerkannt.
Die Rechtsvorgängerin des Beklagten hat hierzu dargelegt, ein Anspruch nach § 21 Abs. 4 SGB II scheide wegen fehlender Erwerbsfähigkeit demzufolge aus. Demgegenüber hat der Kläger auf die Bestimmung des § 28 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 SGB II verwiesen, ferner auf § 30 Abs. 1 Nr. 2 SGB XII, der entweder direkt oder analog anzuwenden sei. Damit dürfe feststehen, dass der Kläger entweder gegen den Beklagten oder
aber gegen Stadt Delmenhorst, welche mit Beschluss des SG vom 17. März 2011 zum Rechtsstreit beigeladen worden ist, einen Anspruch auf Mehrbedarf geltend machen könne.
Die Beigeladene hat insoweit Stellung bezogen, dass Leistungen der Grundsicherung nach dem Vierten Kapitel des SGB XII im Falle der Erstbewilligung gemäß § 44 Abs. 1 Satz 2 SGB XII erst vom ersten Tag des Monats bewilligt würden, in dem der Antrag gestellt worden sei. Auch habe der Beigeladene erst mit
dem Eingang des Antrags des Klägers von der Bedarfssituation Kenntnis erlangt, was Voraussetzung für das Einsetzen von Sozialhilfe
sei; die etwaige Kenntnis des Beklagten sei der Beigeladenen nicht zuzurechnen. Seit dem 1. Oktober 2010 gewähre die Beigeladene
dem Kläger antragsgemäß Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung, einschließlich des Mehrbedarfs nach
§ 30 Abs. 1 Nr. 2 SGB XII.
Das SG Oldenburg hat am 1. April 2011 einen Termin zur Erörterung der Sach- und Rechtslage mit den Beteiligten abgehalten
und hat alsdann in einem schriftlichen Hinweis vom 4. April 2011 den Beteiligten mitgeteilt, die gesetzlichen Voraussetzungen
des § 30 Abs. 1 Nr. 2 SGB XII lägen wohl unstreitig vor, aber die Antragstellung bei der Rechtsvorgängerin des Beklagten nach der Fiktion des §
16 Abs.
2 Sozialgesetzbuch Erstes Buch (
SGB I), gegebenenfalls auch der Beigeladenen zugerechnet werden könne. Entsprechendes habe das BSG mit Urteil vom 28. August 2008 - B 8/9b SO 18/07 R - ebenso wie bereits zuvor das Bundesverwaltungsgericht - BVerwGE 98,
248 - entschieden, in der vom BSG entschiedenen Konstellation sei der SGB II-Träger allerdings von Anfang an unzuständig gewesen. Auch einen Anspruch gemäß § 28 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 SGB II halte das Gericht in der vorliegenden Konstellation für möglich, und zwar gemäß dem Sinn und Zweck des § 44a SGB II, wobei allerdings fraglich sei, ob auch ein Mehrbedarf unter diese Bestimmung falle.
Alsdann hat das SG Oldenburg mit Urteil vom 27. Juli 2011 - ebenso wie in weiteren, im gleichen Termin verhandelten Parallelverfahren
der Bedarfsgemeinschaft des Klägers - die Klage mit nachfolgender Begründung abgewiesen: Ein Anspruch auf einen Mehrbedarf
gemäß § 21 Abs. 4 SGB II scheitere bereits daran, dass der Kläger keine Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben oder ähnliches erhalten habe. Ein
Anspruch gemäß § 28 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 SGB II scheitere an der fehlenden Leistungsberechtigung des Klägers nach dem SGB II, denn er habe - wenn man von einer vollen Erwerbsminderung bereits ab dem 1. August 2007 ausgehe - bereits zu diesem Zeitpunkt
einen Anspruch auf Leistungen nach dem Vierten Kapitel des SGB XII gehabt, die er seit Oktober 2010 auch erhalte. Ein sozialrechtlicher Herstellungsanspruch als Anspruchsgrundlage scheitere
schließlich an einer fehlenden Pflichtverletzung. Auch habe der Kläger keinen Anspruch gegen die Beigeladene, insbesondere
nicht nach § 30 Abs. 1 Nr. 2 SGB XII, denn ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal als Voraussetzung für diesen Anspruch sei eine Antragstellung bei dem zuständigen
Leistungsträger. Ein solcher Antrag sei unstreitig erst am 8. Oktober 2010 gestellt worden, und auch der Gedanke des §
16 Abs.
2 SGB I greife nicht ein, weil die Rechtsvorgängerin des Beklagten als SGB II-Trägerin nach dem Rechtsgedanken des § 44 a Abs. 1 Satz 3 SGB II für die Leistungsgewährung an den Kläger nicht unzuständig, sondern vielmehr die zuständige Behörde gewesen sei. Hiernach
erbrächten bei Zweifeln über die Erwerbsfähigkeit eines Antragstellers die Agentur für Arbeit und der kommunale Träger Leistungen
der Grundsicherung für Arbeitssuchende nach dem SGB II bis zu einer Entscheidung der Einigungsstelle. Eine analoge Anwendung des §
16 Abs.
2 Satz 2
SGB I scheitere demgegenüber an einer ungewollten Regelungslücke, denn Sozialhilfeleistungen für die Vergangenheit seien nach dem
gesetzgeberischen Konzept nur in seltenen Ausnahmefällen vorgesehen. Das SG hat die Berufung im Urteil nicht zugelassen.
Gegen das seinen Prozessbevollmächtigten am 27. September 2011 zugestellte Urteil hat der Kläger am 4. Oktober 2011 Nichtzulassungsbeschwerde
eingelegt. Zur Begründung hat er geltend gemacht, dass es ihm nicht angelastet werden könne, einen Antrag auf Leistungen nach
dem SGB XII bei der Beigeladenen nicht gestellt zu haben. Die angefochtene Entscheidung weiche sowohl vom Urteil des 15. Senats des LSG
Niedersachsen-Bremen vom 17. Juni 2011 - L 15 AS 568/09 - ab, und es bestehe eine grundsätzliche Bedeutung der Sache.
Auf Anregung des Berichterstatters des Senats sind zunächst inhaltlich gleich gelagerte, vorausgegangene Leistungszeiträume
betreffende, parallele Nichtzulassungsbeschwerden mit Zustimmung der Beteiligten zum Ruhen gebracht worden; anschließend hat
der Senat mit Beschluss vom 19. Juli 2012 im vorliegenden Rechtsstreit die Berufung des Klägers zugelassen.
In dem als Berufungsverfahren fortgeführten Rechtsstreit beantragt der Kläger,
das Urteil des SG Oldenburg vom 27. Juli 2011 aufzuheben,
und
den Bescheid der Rechtsvorgängerin des Beklagten vom 9. Oktober 2008 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 4. November
2008 abzuändern,
und
den Beklagten zu verpflichten, dem Kläger höhere Leistungen nach dem SGB II für die Zeit vom 1. November 2008 bis zum 30. April 2009 zu gewähren,
hilfsweise,
die Beigeladene zu verpflichten, dem Kläger Leistungen nach dem SGB XII für die Zeit vom 1. November 2008 bis zum 30. April 2009 zu gewähren.
Der Beklagte und die Beigeladene haben im Berufungsverfahren keine Anträge gestellt, vertreten aber aus dem Gesamtzusammenhang
ihres schriftsätzlichen Vorbringens ersichtlich die Auffassung, die Berufung sei zurückzuweisen.
Sämtliche Beteiligten haben im Sinne des §
124 Abs.
2 Sozialgerichtsgesetz (
SGG) ihr Einverständnis mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung erklärt; auf die entsprechenden Schriftsätze
der Beigeladenen vom 13. November 2012 sowie der Prozessbevollmächtigten des Klägers und der Beklagten jeweils vom 19. November
2012 wird verwiesen.
Hinsichtlich des weiteren Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte und die beigezogenen Verwaltungsakten der Beklagten
verwiesen, die dem Gericht vorgelegen haben und Gegenstand der Entscheidungsfindung gewesen sind.
Entscheidungsgründe:
Die form- und fristgerecht (§
151 Abs.
1 SGG) eingelegte Berufung ist zulässig (§
143 SGG) und im Hilfsantrag begründet. Der Bescheid der Rechtsvorgängerin des Beklagten vom 9. Oktober 2008 in Gestalt des Widerspruchsbescheides
vom 4. November 2008 ist zwar rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten, soweit ihm höhere Leistungen nach
dem SGB II für die Zeit vom 1. November 2008 bis zum 30. April 2009 in Bezug auf einen Mehrbedarf in entsprechender Anwendung des §
28 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 SGB II in der zur Zeit des streitgegenständlichen Leistungsfalles geltenden Gesetzesfassung (i. d. F. des Gesetzes vom 20. Juli
2006 - BGBl. 2006 Bd. I, S. 1706; geändert mit Wirkung zum 1. Januar 2009 durch Gesetz vom 21. Dezember 2008, BGBl. 2008 Bd.
I, S. 2917 = a. F.) versagt worden sind; indes ist die Beigeladene insoweit leistungsverpflichtet.
1) Auf Beklagtenseite ist das Jobcenter als gemeinsame Einrichtung i. S. des § 44 b Abs. 1 Satz 1 SGB II, die mit Wirkung vom 1. Januar 2011 kraft Gesetzes entstanden ist, als Rechtsnachfolger kraft Gesetzes an die Stelle der
bisher beklagten Arbeitsgemeinschaft getreten; das Passivrubrum war dementsprechend von Amts wegen zu berichtigen (vgl. Bundessozialgericht
-BSG-, Urteile vom 24. Februar 2011 - B 14 AS 45/09 R - juris Rdn. 12, sowie vom 18. Januar 2011 - B 4 AS 99/10 R - SozR 4-4200 § 37 Nr. 5 - juris Rdn. 11).
Der Kläger, der nicht unter die Ausschlusskriterien des § 7 Abs. 1 Satz 2, 3 SGB II fällt, erfüllte im streitgegenständlichen Zeitraum die Leistungsvoraussetzungen des § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 - 4 SGB II nicht vollständig; zwar war er hilfebedürftig i. S. des § 9 Abs. 1 SGB II, aber er war gemäß § 7 Abs. 1 Nr. 2 i. V. mit § 8 Abs. 1 SGB II nicht erwerbsfähig. Indes erhielt er aufgrund der nicht erfolgten abschließenden Klärung dieses Umstands gleichwohl Leistungen
von der Rechtsvorgängerin des Beklagten nach den Bestimmungen des SGB II, was - trotz bestehenden Anspruchs des Klägers auf Leistungen nach dem Vierten Kapitel des SGB XII, vgl. § 28 Abs. 1 Satz 1 SGB II a. F. - vor dem Hintergrund der Regelung des § 44a Abs. 1 SGB II und dem dieser Bestimmung zugrunde liegenden Rechtsgedanken auch rechtmäßig war. Damit der Hilfebedürftige nicht "zwischen
zwei Stühlen sitzt", muss er nach § 44a SGB II nicht nur bei einem schon bestehenden Streit zwischen den Leistungsträgern bis zu einer Entscheidung der Einigungsstelle
nach deren Anrufung, sondern bereits im Vorfeld und unabhängig von Streitigkeiten zwischen den Trägern auf einen leistungszuständigen
Sozialleistungsträger zugreifen können, weswegen er in Bezug auf seine grundsätzliche Leistungsberechtigung so gestellt werden
muss, als wäre er erwerbsfähig (vgl. LSG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 29. September 2009 - L 3 AS 24/08 - juris Rdn. 44).
Ein Anspruch auf einen Mehrbedarf gemäß § 21 Abs. 4 SGB II kommt vorliegend nicht in Betracht, da der Kläger weder erwerbsfähig war noch Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben erhielt.
Wenn ein Antragsteller nicht erwerbsfähig i. S. des § 8 SGB II ist, kann er einen Anspruch auf Sozialgeld nach § 28 Abs. 1 Satz 1 SGB II a. F. besitzen, soweit er nicht einen Anspruch auf Leistungen nach §§ 41 ff. SGB XII hat. Insoweit hat das BSG zwar festgestellt - und der Senat schließt sich dieser Rechtsprechung an - dass ein Leistungsanspruch nach § 28 Abs. 1 Satz 1 SGB II nicht schon deshalb ausscheidet, weil ein Hilfesuchender, wenn er bedürftig wäre, einen Anspruch nach § 41 SGB XII hätte, sondern erst dann, wenn die Anspruchsvoraussetzungen des § 41 SGB XII im Einzelfall sämtlich vorliegen, denn Sinn des Leistungsausschlusses für Leistungsberechtigte des § 41 SGB XII ist es, den Berechtigten möglichst nicht zwei Systemen zur Sicherung des Existenzminimums zu unterstellen (BSG, Urteil vom 7. November 2006 - B 7b AS 10/06 R - BSGE 97, 231 = SozR 4-4200 § 22 Nr. 2, juris Rdn. 18). Der Kläger aber hatte einen Anspruch auf Leistungen nach §§ 41 ff. SGB XII, da er alle diesbezüglichen Leistungsvoraussetzungen erfüllte.
Nach §§ 41 ff. SGB XII erhalten Personen mit gewöhnlichem Aufenthalt im Inland, die das 18. Lebensjahr vollendet haben, unabhängig von der jeweiligen
Arbeitsmarktlage voll erwerbsgemindert i. S. des §
43 Abs.
2 SGB VI sind und bei denen unwahrscheinlich ist, dass die volle Erwerbsminderung behoben werden kann, bei entsprechendem Hilfebedarf
zur Sicherung des Lebensunterhalts im Alter und bei dauerhafter Erwerbsminderung auf Antrag Leistungen der Grundsicherung.
Da der Kläger sämtliche dort genannten Leistungsvoraussetzungen erfüllte, war er nach § 28 Abs. 1 Satz 1 SGB II von Ansprüchen auf Sozialgeld ausgeschlossen. Sein Anspruch auf Bewilligung eines Mehrbedarfs richtet sich dementsprechend
nach § 30 Abs. 1 SGB XII.
Der nach diesen Bestimmungen des SGB XII leistungsberechtigte Kläger erhielt derartige Leistungen nach §§ 41 ff., 30 Abs. 1 SGB XII im streitgegenständlichen Zeitraum zwar aufgrund einer Fiktion seiner - tatsächlich nicht bestehenden - Erwerbsfähigkeit
in (entsprechender) Anwendung des § 44a Abs. 1 SGB II zunächst nicht. Gleichwohl hat er Anspruch auf die Bewilligung entsprechender Leistungen einschließlich eines Mehrbedarfs
nach § 30 Abs. 1 SGB XII.
Nach dem Sinn des Regelungszusammenhangs, den Berechtigten nicht zwei Systemen zur Sicherung des Existenzminimums zu unterstellen,
kommt zwar eine Auslegung nicht ernstlich in Betracht, den Kläger im Hinblick auf seinen Mehrbedarf allein und ausschließlich
auf einen Leistungsanspruch gegen den Beigeladenen zu verweisen, während der Beklagte leistungszuständig für die sonstigen
Grundsicherungsleistungen wäre. Ein solcher "gespaltener" Leistungsanspruch, der für verschiedene Aspekte der Hilfebedürftigkeit
für den gleichen Zeitraum einerseits gegen den Leistungsträger nach dem SGB II und andererseits gegen den Leistungsträger nach dem SGB XII besteht, wäre systemwidrig und ist in der Vergangenheit auch nur in Bezug auf Hilfe in sonstigen Lebenslagen nach § 73 SGB XII als Auffangregelung angenommen worden, bevor in Umsetzung des Urteils des BVerfG vom 9. Februar 2010 (1 BvL 1/09 u. a., juris Rdn. 220) eine Härtefallregelung - nunmehr in § 21 Abs. 6 SGB II enthalten - in das die Grundsicherung für Arbeitsuchende regelnde Gesetz aufgenommen worden ist. Dies gilt jedoch nicht in
gleicher Weise für Leistungszeiträume, über die noch nicht abschließend und bestandskräftig seitens der Verwaltung entschieden
worden ist. Steht in Fällen einer bloßen Änderung der Beurteilung der tatsächlichen Verhältnisse - wie hier - aufgrund späterer
Neueinschätzung fest, dass der Sozialhilfeträger und mithin die Beigeladene trotz zunächst erfolgter Leistungserbringung durch
den Beklagten für die Leistungen an den Kläger vollumfänglich zuständig gewesen wäre, so ist sie die eigentlich Leistungsverpflichtete
und damit auch die zuständige Verpflichtete eines etwaigen höheren als des bereits gewährten Anspruchs. Eine Aufspaltung eines
einheitlichen Sozialleistungsanspruchs findet in diesen Fällen nicht statt. Über Erstattungsansprüche im Innenverhältnis der
Leistungsträger hat der Senat in der vorliegenden Konstellation bei alledem nicht zu befinden.
Ein Anspruch gegen den Beklagten scheidet daher aus.
2) In Bezug auf den Anspruch des Klägers gegen den Beigeladenen im Rahmen des vom Kläger gestellten Hilfsantrags greift nach
Auffassung des Senats die Vorschrift des §
16 Abs.
2 Satz 2
SGB I auch dann ein, wenn ein Antrag eines hilfebedürftigen Antragstellers nicht bei einer unzuständigen Stelle, sondern bei einem
Träger der Grundsicherung nach dem SGB II eingegangen ist, der entweder für die Bewilligung der Leistung auf der Grundlage des § 44a Abs. 1 Satz 7 SGB II - bzw. § 44a Abs. 1 Satz 3 in der bis zum 31. Dezember 2010 geltenden Fassung - zuständig ist oder der sich jedenfalls nach dem zum Antrags-
und Entscheidungszeitpunkt bestehenden Erkenntnisstand ohne Vorliegen eines Sorgfaltspflichtverstoßes für leistungszuständig
gehalten hat, der aber aufgrund des Umstandes, dass sich später die Erwerbsunfähigkeit des Antragstellers herausstellt, materiell
für den Antragsteller tatsächlich nicht leistungszuständig war. Denn nach §
16 Abs.
2 Satz 2
SGB I gilt der Antrag auf eine Sozialleistung, die von einem Antrag abhängig ist, als zu dem Zeitpunkt gestellt, in dem er bei
einer der in §
16 Abs.
2 Satz 1
SGB I genannten - für die Bearbeitung des Antrags aber unzuständigen - Stelle eingegangen ist. Diese Vorschrift gilt auch für die
Sozialhilfe, wobei diese nicht im eigentlichen Sinn antragsabhängig ist (Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 18. Mai 1995
- 5 C 1/93 - BVerwGE 98, 248 ff., juris Rdn. 22). In einem bei dem Grundsicherungsträger nach dem SGB II gestellten Antrag liegt bei sachgerechter Auslegung des Begehrens auch ein Antrag auf entsprechende Leistungen der Sozialhilfe.
Insofern ist unter Berücksichtigung des "Meistbegünstigungsgrundsatzes" im Zweifel davon auszugehen, dass ein Kläger ohne
Rücksicht auf den Wortlaut des Antrags all die Leistungen begehrt, die ihm den größten Nutzen bringen können (BSG, Urteil vom 26. August 2008 - 8/9b SO 18/07 R - juris Rdn. 22, m. w. Nachw.). Die Vorschrift des §
16 Abs.
2 Satz 2
SGB I erfasst den Eingang bei jeder der dort genannten Stellen, also im konkreten Fall auch bei der Rechtsvorgängerin des Beklagten,
und bewirkt, dass jede andere der dort erfassten Stellen, so auch die Beigeladene, sich diesen Antragseingang entgegen halten
lassen muss.
Das entspricht auch dem Sinn und Zweck des §
16 SGB I, wonach der Bürger mit seinem Begehren nach Sozialleistungen gerade nicht an Zuständigkeitsabgrenzungen innerhalb der gegliederten
Sozialverwaltung scheitern soll (BSG, aaO., m. w. Nachw.). Im Zweifel ist davon auszugehen, dass ein Antrag auf Leistungen nach dem einen Gesetz wegen der gleichen
Ausgangslage auch als Antrag nach dem anderen Gesetz zu werten ist. Dem Hilfebedürftigen kommt es regelmäßig nur darauf an,
die als notwendig empfundene Hilfe vom zuständigen Sozialleistungsträger zu erhalten, und zwar unabhängig von den für einen
Laien kaum oder nur schwer durchschaubaren Abgrenzungsregelungen für Leistungen nach dem SGB II und SGB XII (hierzu auch Senat, Beschluss vom 19. Juli 2012 - L 13 AS 278/11 NZB).
Die Vorschrift des §
16 Abs.
2 Satz 1
SGB I hätte hiernach - wenn der Beklagte für die Leistung insgesamt unzuständig war und Leistungen nach dem SGB XII zu erbringen gewesen waren - eine Verpflichtung des Beklagten zur Weiterleitung des Antrags an den Beigeladenen begründet,
was allein dem Sinn und Zweck des §
16 SGB I entspricht, wonach der Einzelne mit seinem Begehren nach Sozialleistungen gerade nicht an Zuständigkeitsabgrenzungen innerhalb
der gegliederten Sozialverwaltung scheitern soll. Bei richtigem Verständnis dieser Vorschrift hat der Kläger mit seinem Leistungsantrag
nach dem SGB II zugleich auch einen Antrag auf Leistungen nach dem SGB XII gestellt.
Dass ein Anspruch nach § 30 Abs. 1 SGB XII an einem unterlassenen Leistungsantrag scheitere, wie das SG gemeint hat, lässt sich nach alledem nicht bestätigen (zur Zurechnung der Kenntnis eines Grundsicherungsträgers nach dem
SGB II in Bezug auf Leistungsansprüche gegen den Sozialhilfeträger auch LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 30. Oktober 2008 - L
7 AS 34/08 - juris Rdn. 58 ff., m. w. Nachw.).
Die bei ungeklärter Erwerbsfähigkeit zunächst zu Zwecken der Abgrenzung der Leistungszuständigkeit vorgenommene Fiktion der
Erwerbsfähigkeit, in entsprechender Anwendung des Rechtsgedankens des § 44a SGB II, rechtfertigt es schließlich auch nicht, den tatsächlich nicht erwerbsfähigen Kläger allein aufgrund dieser für Zuständigkeitsabgrenzungen
geschaffenen Regelung auch im Hinblick auf den materiellen Regelungsgehalt des § 28 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 SGB II a. F. zu seinem Nachteil so zu behandeln, als wäre er erwerbsfähig, was zur Konsequenz haben könnte, dass er von einem entsprechenden
Anspruch auf einen Mehrbedarf ausgeschlossen wäre (BSG, Urteil vom 18. Februar 2010 - B 4 AS 29/09 R - juris Rdn. 14 ff.; Urteil vom 15. Dezember 2010 - B 14 AS 44/09 R - juris Rdn. 16, m. w. Nachw.). Denn es handelt sich bei der "Feststellung" der Erwerbsfähigkeit nach § 44a Abs. 1 Satz 1 SGB II nur um die Festlegung zu einer Vorfrage zur Gewährung von Leistungen (Korte, in: LPK- SGB II, 4. Aufl. 2011, § 44a Rdn. 10), und Gleiches muss gelten, wenn die Leistungserbringung ohne Durchführung eines Feststellungsverfahrens wegen nicht
erkannter Erwerbsunfähigkeit durch den SGB-II-Träger erfolgt, während tatsächlich der Sozialhilfeträger leistungszuständig gewesen wäre. Die Personengruppe nicht erwerbsfähiger
Sozialgeldbezieher nach dem SGB II steht den vom Dritten und Vierten Kapitel des SGB XII erfassten Personengruppen näher als der Gruppe der erwerbsfähigen Hilfebedürftigen (BSG, Urteil vom 24. November 2011 - B 14 AS 201/10 R - juris Rdn. 19).
Berechnungsfehler hinsichtlich der gewährten Leistungen der Rechtsvorgängerin des Beklagten sind nicht ersichtlich und von
dem Kläger nach Erlass des Urteils des Bundesverfassungsgerichts vom 9. Februar 2010 - 1 BvL 1/09 u. a. - auch nicht geltend gemacht worden, so dass der Senat aus materiell-rechtlichen Gründen - unter Berücksichtigung des
Umstands, dass eine Begrenzung des Streitgegenstandes nach der ständigen Rechtsprechung des BSG hier, wie auch sonst regelmäßig, nicht gegeben ist - die Betrachtung auf den geltend gemachten Mehrbedarf beschränkt hat.
Die Kostenentscheidung beruht auf §
193 SGG. Es hat sich vor Abschluss des Verwaltungsverfahrens nachträglich eine Änderung der Sachlage ergeben, auf die die Beigeladene
hätte durch ein Anerkenntnis reagieren können.
Gründe für die Zulassung der Revision gemäß §
160 Abs.
1 und Abs.
2 SGG liegen nicht vor.