Anspruch auf Arbeitslosengeld II, Kostenübernahme für eine Monatsfahrkarte zum Schulbesuch eines Gymnasiums durch die Sozialhilfe
Gründe:
I. Zwischen den Beteiligten ist die Übernahme der Kosten für eine Schülermonatsfahrkarte streitig, um mit dem Bus die 11.
Gymnasialklasse besuchen zu können.
Die am 12.06.1991 geborene Antragstellerin ist Mitglied einer Bedarfsgemeinschaft, bestehend aus ihren Eltern und vier weiteren
Geschwistern und wohnt in G., H ... Sie steht im laufenden Bezug von Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB
II) und erhält von der Beigeladenen die Regelleistung zur Sicherung des Lebensunterhaltes in Höhe von 278,- Euro monatlich
sowie vom Beklagten anteilige Kosten für Unterkunft und Heizung in Höhe von 106,60 Euro monatlich. Sie besucht im Schuljahr
2007/2008 die 11. Klasse des I. in F., welches 22 km von ihrem Wohnort entfernt liegt. Bis einschließlich der 10. Schulklasse
wurden die Kosten für die Anschaffung einer Monatskarte vom Schulamt bezahlt. Ab 30. August 2007 muss die Antragstellerin
selbst für die Schülermonatskarte 89,25 Euro aufwenden. Bis zu einer endgültigen Entscheidung über die Kostentragungspflicht
erhält sie vom Diakonischen Werk eine einmalige Beihilfe für Schulwegkosten aus einem Bildungsfond.
Am 11.01.2007 beantragte die Antragstellerin beim Antragsgegner die Übernahme der Kosten für die Anschaffung einer Monatsfahrkarte
ab dem 11. Schuljahr. Der Antragsgegner lehnte den Antrag mit Bescheid vom 01.02.2007 und Widerspruchsbescheid vom 29.03.2007
ab. Über dieses Begehren ist vor dem Sozialgericht Lüneburg ein Klageverfahren anhängig (Az.: S 41 AS 662/07).
Am 3. August 2007 hat die Klägerin beim Sozialgericht Lüneburg den Erlass einer einstweiligen Anordnung beantragt mit dem
Ziel, den Antragsgegner zu verpflichten, ihre Fahrtkosten zur Schule mit dem Bus zu erstatten. Sie befinde sich in einer besonderen
Notlage; ohne die Übernahme der Schülerbeförderungskosten sei es ihr nicht möglich, das Gymnasium in F. zu besuchen. Das Niedersächsische
Schulgesetz gehe offensichtlich davon aus, dass Personen ab dem 11. Schuljahr ihren Schulweg mit dem Fahrrad zurücklegen könnten.
Dies könne für kurze Strecken sinnvoll sein. Bei einer Entfernung von 22 km sei jedoch die Benutzung des Fahrrades unzumutbar.
Demgegenüber hat der Antragsgegner die Auffassung vertreten, dass der Schulbesuch eines Kindes aus der Schulpflicht folge
und keinesfalls eine besondere Lebenslage darstelle. Weite Schulwege und daraus resultierende hohe Beförderungskosten seien
insbesondere im ländlichen Raum keine Besonderheit. Für die Antragstellerin komme allenfalls eine ergänzende Leistungsgewährung
durch die Beigeladene gemäß § 23 SGB II in Betracht.
Das Sozialgericht Lüneburg hat mit Beschluss vom 22. August 2007 den Antrag auf die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes abgelehnt.
Eine Erhöhung der Regelsätze in Form eines Darlehens scheide aus, weil die Fahrtkosten nicht als unabweisbarer Bedarf anzusehen
seien. Bei einem Mehrbedarf von ca. 62,- Euro müsse die Antragstellerin darauf verwiesen werden, bei anderen Anschaffungen,
die ebenfalls aus der Regelleistung zu bestreiten seien, zu sparen, um diesen Mehrbedarf zu decken. Gleiches gelte für Ansprüche
gemäß § 73 Zwölftes Buch Sozialgesetzbuch - Sozialhilfe - (SGB XII), weil Fahrten zur Schule keinen sonstigen Bedarf darstellen.
Gegen den am 24. August 2007 eingegangenen Beschluss richtet sich die Beschwerde der Antragstellerin vom 24. September 2007.
Sie wiederholt ihr erstinstanzliches Vorbringen und weist darauf hin, dass die Entscheidung des Sozialgerichts dazu führe,
dass Personen, die von SGB II-Leistungen leben müssten und in der gleichen Situation wie die Antragstellerin lebten, also
eine ebenso weite Entfernung zum nächst erreichbaren Gymnasium zurückzulegen hätten, faktisch vom Besuch einer gymnasialen
Oberstufe abgehalten würden.
Der Antragsgegner teilt ebenfalls nicht die Auffassung des Sozialgerichts, dass die Antragstellerin die erheblichen Mehrkosten
für die Schülerbeförderung ab der 11. Klasse aus ihrem Regelsatz bestreiten könne. Gleichwohl sehe er sich rechtlich nicht
in der Lage, der Antragstellerin zu helfen. Der Besuch von allgemeinbildenden Schulen stelle keine atypische oder besondere
Bedarfslage dar, weil hiervon alle Schüler und Schülerinnen in der Bundesrepublik Deutschland gleichermaßen betroffen seien.
Die Schülerbeförderung sei grundsätzlich in landesrechtlichen Vorschriften geregelt. Diese dürften nicht durch einen Sozialleistungsträger
oder durch ein Sozialgericht außer Kraft gesetzt werden.
Die Beigeladene hat sich nicht geäußert.
Das Sozialgericht hat der Beschwerde nicht abgeholfen, sondern diese dem Landessozialgericht zur Entscheidung vorgelegt.
II. Die zulässige Beschwerde der Antragstellerin ist begründet und führt zur Aufhebung des sozialgerichtlichen Beschlusses.
Der Antragsgegner ist im Wege des vorläufigen Rechtsschutzes zu verpflichten, der Antragstellerin für die Zeit ab Beginn des
Schuljahres 2007/2008 die Kosten für eine Busmonatsfahrkarte von ihrem Wohnort in J. zum I. in F. zu erstatten. Bei der Nachzahlung
sind die an die Antragstellerin bereits durch Dritte gezahlten Beihilfen für Schulwegkosten in Abzug zu bringen.
1) Gemäß §
86b Abs.
2 Satz 2
Sozialgerichtsgesetz (
SGG) kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag einstweilige Anordnungen zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf
ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Voraussetzung
hierfür ist stets, dass ein Anordnungsanspruch (hinreichende Wahrscheinlichkeit eines in der Sache gegebenen materiell-rechtlichen
Anspruchs) und ein Anordnungsgrund (besondere Eilbedürftigkeit) glaubhaft gemacht werden. Dabei darf die einstweilige Anordnung
wegen des summarischen Charakters dieses Verfahrens grundsätzlich nicht die endgültige Entscheidung in der Hauptsache vorweg
nehmen. Daher ist vorläufiger Rechtsschutz nur dann zu gewähren, wenn ohne ihn schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare
Nachteile entstünden, zu deren nachträglicher Beseitigung die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre (Bundesverfassungsgericht,
BVerfGE 79, 69, 74 m.w.N.).
Von diesen Grundsätzen ausgehend spricht vieles dafür, dass die Ablehnungsbescheide des Beklagten rechtswidrig sein könnten.
Der Antragstellerin steht gegenwärtig wie in absehbarer Zukunft voraussichtlich ein Anspruch auf Erstattung der Kosten für
die Anschaffung einer Monatskarte (89,25 Euro) für die Fahrten zum Besuch der 11. Klasse in F. zu. Der Senat vertritt die
Auffassung, dass sich ein solcher Anspruch auf Übernahme der streitigen Schülerbeförderungskosten aus § 73 SGB XII ergibt.
Die Antragstellerin ist zur Sicherung ihrer Rechtsposition auf Eilrechtsschutz angewiesen.
2) Entgegen dem Vorbringen des Antragsgegners scheidet eine alternative Verpflichtung der Beigeladenen in ihrer Funktion als
Träger für Grundsicherungsleistungen gemäß § 23 SGB II aus (LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 10.05.2005 - L 7 AS 24/05 ER -). § 23 Abs. 1 Satz 1 SGB II sieht vor, dass, wenn im Einzelfall ein von den Regelleistungen umfasster und nach den Umständen
unabweisbarer Bedarf zur Sicherung des Lebensunterhaltes weder durch das Vermögen nach § 12 Abs. 2 Nr. 4 SGB II noch auf andere
Weise gedeckt werden kann, die Agentur für Arbeit bei entsprechendem Nachweis den Bedarf als Sachleistung oder als Geldleistung
erbringt und dem Hilfebedürftigen ein entsprechendes Darlehen gewährt. Zwar sind Kosten für die Monatsfahrkarte eines Schülers
von der Regelleistung umfasst (vgl. O'Sullivan, SGb 2005, 369; Sozialgericht Aurich 16.06.2005 - S 13 SO 18/05 -). Allerdings kommt diese Regelung bei Sonderbedarfen, die zwar von der
Regelleistung umfasst sind, aber keine einmalige Bedarfsspitze darstellen, sondern dauernd und zumindest so regelmäßig wiederkehrend
auftreten, dass die in § 23 Abs. 1 Satz 3 SGB II angeordnete Aufrechnung faktisch eine unerträgliche Schuldenspirale zur Folge
hätte, nicht in Betracht (BSG SozR 4-4200 § 20 Nr. 1 Rz 20). Der Senat pflichtet dieser Rechtsprechung bei, weil die Leistungsgewährung
gemäß § 23 Abs. 1 SGB II nicht dem Wesen der Darlehensgewährung widersprechen darf.
3) Als Anspruchsgrundlage für das Begehren der Antragstellerin ist § 73 SGB XII heranzuziehen. Nach dieser Vorschrift können
Leistungen auch in sonstigen Lebenslagen erbracht werden, wenn sie den Einsatz öffentlicher Mittel rechtfertigen, wobei Geldleistungen
als Beihilfe oder als Darlehen erbracht werden können. Es handelt sich um eine generalklauselartig formulierte subsidiäre
Auffangvorschrift, die atypische Bedarfe in sonstigen Lebenslagen erfassen soll, für die eine speziell gesetzliche Regelung
fehlt. Die Vorschrift beinhaltet für eine atypische Bedarfssituation, die Hilfen in sonstigen Lebenslagen erfordert, unbestimmte
Rechtsbegriffe, deren Auslegung und Anwendung vollständig der sozialgerichtlichen Kontrolle unterliegen. Schon deshalb teilt
der Senat nicht die Auffassung, dass die praktische Bedeutung dieser Vorschrift gering sei (so aber Berlit in LPK-SGB XII,
§ 73 Rz 1); zu kurz greift auch die Charakterisierung, dass mit dieser Vorschrift einem die Menschenwürde widersprechenden
Zustand begegnet werden soll (Grube/Warendorff, SGB XII-Kommentar, § 73 Rz 2); wenig nützlich ist ferner die in Kommentaren
oft anzutreffende Bezugnahme auf 30 - 35 Jahre alte, restriktive Rechtsprechung von Oberverwaltungsgerichten zu § 27 Abs. 2 Bundessozialhilfegesetz (BSHG). Denn mit der Zusammenlegung der Leistungen auf Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe ab 01.01.2005 kann auch eine wörtlich
ins SGB II oder SGB XII übertragene Vorschrift aus dem BSHG im Kontext der Gesamtregelung eine andere Bedeutung erhalten.
Nicht zuletzt in Folge der bereits zitierten Entscheidung des Bundessozialgerichts vom 07.11.2006 wird § 73 SGB XII in der
Rechtsanwendung eine zunehmende Bedeutung erfahren, und zwar unterhalb der Schwelle einer Verletzung der Menschenwürde. Da
im SGB XII systematisch die Unterscheidung zwischen Hilfe zum Lebensunterhalt und Hilfe in besonderen Lebenslagen aufgegeben
worden ist, besteht kein Grund mehr, den Anwendungsbereich von § 73 SGB XII auf Hilfesituationen zu beschränken, die dem Grunde
nach nicht zum Lebensunterhalt gehören. Das SGB II und das SGB XII sind nämlich durch eine starke Pauschalierung von Leistungen
geprägt. Insofern scheidet jede Auslegungsvariante aus, die als unzureichend erachtete Regelsätze bloß aufstocken will. Im
Sozialhilferecht dient aber § 73 SGB XII im Sinne einer Individualisierung dazu, den sonstigen Bedarfen in atypischen Lebenssituationen,
die nicht den in § 8 SGB XII aufgezählten Leistungen zuzuordnen sind, Rechnung zu tragen (Knickrehm, Sozialrecht aktuell 2006,
159, 162). Das gebietet die gesetzgeberische Entscheidung in §
2 Abs.
2 Erstes Buch Sozialgesetzbuch (
SGB I), dass bei der Auslegung von Vorschriften des Sozialgesetzbuches sicherzustellen ist, dass die sozialen Rechte weitgehend
verwertlicht werden. Da die Sozialhilfe die Funktion hat, bedürftigen Menschen in allen Lebenslagen zu helfen, steigt die
Bedeutung des § 73 SGB XII auch für Empfänger von SGB II-Leistungen in dem Maße, in dem das Leistungssystem Lücken hinterlässt,
weil die sonstige Lebenslage weder vom pauschalierten Regelbedarf noch von einem Mehr- oder Sonderbedarfstatbestand des SGB
II erfasst wird (zum Umgangsrecht vgl.: BSG aaO. Rz. 22).
Nicht Ziel führend ist in diesem Zusammenhang der Einwand des Antragsgegners, der Schulbesuch eines Kindes folge aus der Schulpflicht,
so dass die Kosten durch die Regelleistung zu bestreiten seien. Der Antragsgegner verkennt nämlich, dass es bei der Anwendung
des § 73 SGB XII rechtssystematisch nicht auf die Höhe der Leistungssätze (Bedarfe) ankommt, weil dies bereits in § 28 Abs.
1 Satz 2 SGB XII geregelt ist, sondern ausschließlich auf die "sonstige Lebenslage". Der Gesetzgeber hat nur die Typizität
der Bedarfslage gesehen. Daraus kann allenfalls der Grundsatz abgeleitet werden, dass für eine erkannte typische Notlage keine
typisierende Hilfe vorgesehen ist. Die Hilfebedürftigkeit in § 73 SGB XII geht aber weiter und erfasst sonstige Lebenslagen.
Daraus ist zu folgern, dass der Regelbedarf nach § 20 SGB II Aufwendungen zum typischen Schulbesuch und in einem bestimmten
Umfang auch Aufwendungen für öffentliche Verkehrsmittel umfasst (vgl. zur Regelsatzverordnung, insbesondere Abteilung 07: Falterbaum in Hauck-Noftz, SGB XII, K § 40 Rz. 13), nicht jedoch die atypische Lebenssituation, dass im besonderen Einzelfall sonst der Besuch einer zur Hochschulreife
führenden Schule nicht möglich wäre. Mit diesem Normverständnis enthält § 73 SGB XII eine Ermächtigung an die Verwaltung,
vom Gesetzgeber übersehene oder noch nicht erkannte und somit vom Sozialleistungssystem nicht erfasste aber gleichwohl regelungsbedürftige
Hilfetatbestände im Ermessenswege aufzufangen.
4) Die Subsidiarität des § 73 SGB XII setzt zunächst die Prüfung voraus, dass eine unbenannte Bedarfssituation vorliegen muss,
die auch in anderen Bereichen des Sozialrechts nicht abschließend geregelt ist. In einem weiteren Schritt ist dann zu klären,
ob diese Situation den ausdrücklich im SGB XII geregelten leistungsbegründenden Lebenslagen vergleichbar ist, so dass ein
Einsatz öffentlicher Mittel gerechtfertigt ist (instruktiv und ausführlich: Schlette in Hauck-Noftz, SGB XII, K § 73 Rz. 4
ff). Diese Voraussetzungen sind im Falle der Antragstellerin erfüllt.
Die von der Antragstellerin begehrten Kosten für die Monatsfahrkarte zwecks Besuches des Gymnasiums sind nicht den in den
Kapiteln 3 bis 9 liegenden Tatbeständen des SGB XII zuzuordnen. Es handelt sich nämlich nicht um Aufwendungen für den allgemeinen
Lebensunterhalt, d.h. Ernährung, Unterkunft, Kleidung, Körperpflege, Hausrat, Heizung und persönliche Bedürfnisse des täglichen
Lebens (§ 27 SGB XII), oder Grundsicherung (§§ 41, 42 SGB XII), oder um krankheits-/behinderungsbedingten, durch besondere
soziale Schwierigkeiten bedingten Bedarf oder um Pflegebedarf (§§ 47 ff., 53 ff., 61 ff., 67 ff. SGB XII) oder um Haushalts-,
Alten-, Blindenhilfe oder Bestattungskosten (§§ 70-72, 74 SGB XII). Die Möglichkeit einer Hilfegewährung durch andere sozialrechtliche
Vorschriften ist nicht gegeben. Soweit die Antragstellerin vom Diakonischen Werk eine einmalige Beihilfe für Schulwegkosten
erhalten hat, ist dieser karitative Einsatz auf die ablehnende Haltung des Antragsgegners zurückzuführen und schon deshalb
gegenüber dem Anspruch aus § 73 SGB XII nachrangig. Der Senat unterstellt insoweit, dass für die Zukunft durch die Verpflichtung
des Antragsgegners zur Leistungsgewährung die einmalige Beihilfe des Diakonischen Werkes entfällt.
Die sonstige Lebenslage im Falle der Antragstellerin ist darin zu sehen, dass sie ohne die Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel
nicht in der Lage ist, die 11. Klasse eines Gymnasiums zu besuchen. Der niedersächsische Schulgesetzgeber ist in § 114 Abs.
1 Ziffer 1 Niedersächsisches Schulgesetz mit der Beschränkung der Kostenübernahme bis zum 10. Schuljahrgang davon ausgegangen,
dass ab einer gewissen Altersstufe die Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel nicht mehr erforderlich ist. Von diesem typischen
Regelfall weicht jedoch die individuelle Lebenssituation der Antragstellerin ab. Sie hat glaubhaft gemacht, dass die von ihr
besuchte Schuleinrichtung 22 km von ihrem Wohnort entfernt liegt und dass sie diese Strecke nicht täglich mit dem Fahrrad
bewältigen kann. Sie muss fast 1/3 ihrer Regelleistung für die Fahrt zur Schule aufwenden, ohne dass ihre Eltern sie finanziell
unterstützen können. Dass es ihr möglich und zumutbar sein soll, ein näher gelegenes Gymnasium zu besuchen, wird vom Antragsgegner
nicht behauptet. Es liegt also eine atypische Bedarfslage vor, und nicht nur ein erhöhter Bedarf, der allein für die Anwendung
des § 73 SGB XII nicht ausreichen würde.
5) Als weiteres Erfordernis für die Hilfeleistung gemäß § 73 SGB XII kommt hinzu, dass die sonstige Bedarfslage den Einsatz
öffentlicher Mittel rechtfertigen muss. Geboten ist eine wertende Entscheidung mit anderen Bedarfslagen, wobei Ausmaß und
Schwere der atypischen Lebenssituation in den Vergleich einzubeziehen sind. Zu berücksichtigen ist auch, ob durch die erforderliche
Hilfestellung etwaige spätere und unter Umständen höhere Kosten vermieden werden können (Berlit in LPK-SGB XII § 73 Rz. 9).
Entscheidend ist insoweit, ob Art und Dringlichkeit der sonstigen Lebenslage eine Hilfestellung erfordern, ohne dass die Vorschrift
des § 73 SGB XII zu einem allgemeinen Auffangbecken für sämtliche Notlagen wird. Das ist vorliegend zu bejahen.
Der Einsatz öffentlicher Mittel zur Übernahme der Schülerbeförderungskosten in der atypischen Situation der Antragstellerin
ist deshalb geboten, um ihre Teilhabechancen für Jugendliche aus Haushalten von SGB II-Leistungsbeziehern zu fördern. Es ist
durch viele Studien der letzten Jahre belegt, dass in der Bundesrepublik Deutschland Kinder und Jugendliche aus armen Haushalten
nicht dieselben Chancen haben, am Bildungserfolg zu partizipieren wie Kinder und Jugendliche von besser situierten Eltern.
So haben z.B. Kinder aus der oberen Einkommensschicht bei gleichen kognitiven Fähigkeiten eine sechs Mal höhere Chance, ein
Gymnasium zu besuchen, als jene aus unteren bis mittleren Einkommensschichten (BT-Drucksache 16/5253). Der Zugang zu Bildung
ist eine zentrale Aufgabe des Einsatzes öffentlicher Mittel, weil dadurch die Zukunftsperspektiven des Landes maßgeblich beeinflusst
werden. Dabei ist sicher zu stellen, dass der Zugang zu Bildung nicht nur formal gleichberechtigt allen Kindern und Jugendlichen
offen steht, sondern dass auch die materiellen Voraussetzungen geschaffen werden, um die Angebote tatsächlich beanspruchen
zu können (BT-Drucksache 16/4486). Dem Einsatz öffentlicher Mittel in Form der Übernahme von Schülerbeförderungskosten für
den Fall der Antragstellerin stehen folglich keine fiskalischen Gesichtspunkte entgegen.
Eine andere Beurteilung ergibt sich nicht aus dem Einwand des Antragsgegners, die Schülerbeförderung sei grundsätzlich in
landesrechtlichen Vorschriften geregelt, die nicht durch Sozialgerichtsbeschlüsse quasi außer Kraft gesetzt werden dürften,
indem ein Sozialleistungsträger ungeachtet der bestehenden landesrechtlichen Gesetze zu einer Kostentragung verpflichtet werde.
Es ist nämlich zu beachten, dass es sich bei dem SGB II und SGB XII um Bundesgesetze handelt, die entgegenstehende landesgesetzliche
Regelungen über die Kosten der Schülerbeförderung als Sozialhilfeleistung brechen würden. Die Normsetzungsbefugnis über die
Grundsicherung für Arbeitsuchende und über die Sozialhilfe obliegen nicht den einzelnen Bundesländern. Wenn der Bundesgesetzgeber
eine entsprechende Regelungskompetenz an die Länder delegieren wollte, ist dies im Rahmen einer Öffnungsklausel geschehen
(vgl. § 70 SGB II). Das ist jedoch für die Übernahme von Schülerbeförderungskosten als Hilfestellung in außergewöhnlichen
Lebenssituationen nicht feststellbar.
6) Die Gewährung von Hilfen in sonstigen Lebenslagen wird gemäß § 73 Satz 1 SGB XII in das Ermessen des Leistungsträgers gestellt.
Der Ermessensspielraum ist umfassend und bezieht sich sowohl auf das Ob als auch auf die Art der zu gewährenden Leistungen
(Schlette in Hauck-Noftz, SGB XII, K § 73 Rz. 9). Geldleistungen können als Beihilfe oder als Darlehen erbracht werden (§
73 Satz 2 SGB XII).
Für die Belange des einstweiligen Rechtsschutzverfahrens ist hier im Ergebnis davon auszugehen, dass der Antragsgegner das
Ermessen nur mit dem Ergebnis einer Leistungsgewährung an die Antragstellerin ausüben kann. Die tatbestandlichen Voraussetzungen
des § 73 SGB II geben gleichzeitig vor, in welche Richtung die Abwägung zu erfolgen hat. Das Erfordernis einer Rechtfertigung
des Einsatzes öffentlicher Mittel schließt es in der Regel aus, dass im Rahmen der Ermessensausübung Kostenüberlegungen ein
Übergewicht erhalten. Zwar muss die Hilfestellung so lange zurücktreten, bis der Einsatz eigener Mittel möglich und zumutbar
ist. Der Antragsgegner hat jedoch eingeräumt, dass von der Antragstellerin nicht verlangt werden kann, durch Ansparung oder
Verzicht in anderen Ausgabenbereichen eine Umschichtung zu Gunsten der Fahrtkosten vorzunehmen. Weitere Ermessensgesichtspunkte,
die gegen das Begehren der Antragstellerin berücksichtigt werden könnten, hat der Antragsgegner nicht vorgetragen und sind
auch sonst aus den Aktenvorgängen nicht ersichtlich. Die Entscheidung darüber, ob die Kostenübernahme als Geldleistung in
Form einer Beihilfe oder als Darlehen zu erfolgen hat, kann in diesem Verfahrensstadium unterbleiben, weil im Eilverfahren
Leistungen nur und immer vorläufig bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache zugesprochen werden.
III. Die Kostenentscheidung beruht auf der Anwendung des §
193 Abs.
1 SGG. Da der Antragsgegner unterliegt, muss er für die außergerichtlichen Kosten der Antragstellerin in beiden Rechtszügen aufkommen.
Die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen sind nicht erstattungsfähig (§
193 Abs.
4 SGG).
Dieser Beschluss ist nicht anfechtbar, §
177 SGG.