Bluthochdruck
Weitere Unfallfolge nach Querschnittslähmung
Kausalität bei Arbeitsunfall
Tatbestand:
Im Streit steht die Frage, ob die Bluthochdruckerkrankung des Klägers Folge eines Arbeitsunfalls ist.
Der 1959 geborene Kläger erlitt am E. 1990 bei seiner Tätigkeit als Bürokaufmann und Fahrer einen Unfall, bei dem er von einem
Gabelstapler gegen eine LKW-Ladewand gepresst wurde. Dabei zog er sich eine traumatische Querschnittlähmung unterhalb des
1. Lendenwirbelkörpers (L 1) zu. Er ist seitdem gehunfähig und auf einen Rollstuhl angewiesen. Die frühere Großhandels- und
Lagerei-Berufsgenossenschaft als Rechtsvorgängerin der Beklagten (im Folgenden: BG) gewährt ihm seit Januar 1991 eine Verletztenrente
in Höhe der Vollrente. Nach dem entsprechenden Rentenbescheid vom 27. Juni 1991 sind als Folgen des Arbeitsunfalls eine komplette
Querschnittlähmung unterhalb L 1, eine Bewegungseinschränkung der unteren Brust- sowie der Lendenwirbelsäule, aufgehobene
Beweglichkeit und Sensibilität der unteren Extremitäten sowie eine Blasen- und Mastdarmlähmung anerkannt.
Bei einer stationären Nachuntersuchung im Querschnittgelähmten-Zentrum des Berufsgenossenschaftlichen Unfallkrankenhauses
F. im Dezember 2003 wurde beim Kläger ein Bluthochdruck von 180/100 mm/Hg festgestellt und eine entsprechende medikamentöse
Therapie eingeleitet. Nachdem der Kläger im Mai 2004 die Anerkennung des Bluthochdrucks als Unfallfolge beantragt hatte, holte
die BG ein Zusammenhangsgutachten des Internisten Dr. G. (vom 5. September 2005) ein, der zum Ergebnis kam, eine lähmungsbedingte
bzw mittelbar unfallbedingte Genese des Bluthochdrucks liege nicht vor. Dieser sei vielmehr Folge des seit 1990 allmählich
ansteigenden Körpergewichts mit einer jetzt vorliegenden erheblichen abdominellen Adipositas und weiteren Stoffwechselstörungen;
diese würden durch die Immobilität des Querschnittgelähmten zwar gefördert, eine Verursachung iS einer mittelbaren Unfallfolge
lasse sich hieraus jedoch nicht ableiten.
Unter Hinweis hierauf lehnte es die BG mit Bescheid vom 28. Oktober 2005 ab, die Bluthochdruckerkrankung als Unfallfolge anzuerkennen.
Der hiergegen eingelegte Widerspruch blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 25. Januar 2006, zur Post gegeben am 26. Januar
2006).
Hiergegen hat der Kläger am 27. Februar 2006 Klage vor dem Sozialgericht (SG) Lüneburg erhoben. Er hat weiterhin die Auffassung vertreten, seine Bluthochdruckerkrankung sei unmittelbar Folge des Unfallereignisses
vom 26. Juli 1990. Zur Begründung hat er sich gegen die im Gutachten von Dr. G. enthaltene Empfehlung gewandt, er könne durch
verstärkte körperliche Aktivität und verminderte Kalorienzufuhr sein Körpergewicht normalisieren. Dies sei abwegig, weil er
stets bemüht sei, mit entsprechenden körperlichen Aktivitäten sein Gewicht zu halten, was ihm aufgrund seiner Behinderung
aus naheliegenden Gründen nur eingeschränkt möglich sei; ihm sei auch nicht zuzumuten, ständig Diät zu halten, da er ohnehin
in seiner Lebensqualität stark eingeschränkt sei.
Das SG hat ein Gutachten des Internisten Dr. H. (vom 4. Januar 2008) eingeholt, der die Auffassung vertreten hat, die Rollstuhlpflichtigkeit
des Klägers und die damit verbundene Bewegungsarmut habe in überwiegendem Umfang die Entwicklung der Adipositas verursacht;
die beim Kläger vorliegende Adipositas habe wiederum zumindest zu 70 - 80 % einen Bluthochdruck bewirkt.
Mit Gerichtsbescheid vom 23. April 2009 hat das SG den Bescheid vom 28. Oktober 2005 und den Widerspruchsbescheid vom 25. Januar 2006 aufgehoben und festgestellt, dass die
Bluthochdruckerkrankung des Klägers eine Folge des Arbeitsunfalls vom 26. Juli 1990 sei. Zur Begründung hat das SG darauf hingewiesen, dass sowohl Dr. H. als auch Dr. G. das Übergewicht des Klägers als wesentliche Ursache des Bluthochdrucks
ansähen. Nach der überzeugenden Darstellung von Dr. H. sei die Adipositas ihrerseits durch die Einschränkung des Parameters
"Bewegung" verursacht worden. Anzeichen für eine anlagebedingte Adipositas oder für konkurrierende Ursachen für die Entwicklung
der Fettleibigkeit des Klägers seien nicht erkennbar.
Gegen den ihr am 8. Mai 2009 zugestellten Gerichtsbescheid hat die Beklagte mit Schreiben vom 27. Mai 2009 Berufung eingelegt,
die am 28. Mai 2009 bei dem Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen-Bremen eingegangen ist. Unter Hinweis auf das Gutachten
von Dr. G. hält sie an ihrer Auffassung fest, dass weder der Bluthochdruck noch die zunehmende Fettleibigkeit des Klägers
Folgen seiner Querschnittlähmung seien. Die Fettleibigkeit sei vielmehr Ausdruck einer vermehrten Kalorienzufuhr, zumal die
Höhe der Querschnittlähmung eine gewisse Mobilität und die Bewegungsmöglichkeiten zB mit einem Rolli-Bike zulasse. Im Übrigen
sei zu berücksichtigen, dass zB am Querschnittgelähmten-Zentrum des Unfallkrankenhauses kein gehäuftes Auftreten von Adipositas
oder arteriellem Bluthochdruck feststellbar sei.
Die Beklagte beantragt nach ihrem schriftlichen Vorbringen,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Lüneburg vom 23. April 2009 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt schriftsätzlich,
die Berufung zurückzuweisen.
Er hält die angefochtene erstinstanzliche Entscheidung und namentlich das Gutachten von Dr. H. weiterhin für zutreffend.
Der Senat hat ein Gutachten des Internisten Prof. Dr. I. (vom 14. Juli 2011) eingeholt und den Sachverständigen durch seinen
Berichterstatter ergänzend befragt (vgl Sitzungsniederschrift vom 8. August 2012). Prof. Dr. I. ist zum Ergebnis gekommen,
dass der Kläger unter einer genuinen Hypertonie leide, deren Ursachen unbekannt seien.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der beigezogenen Verwaltungsakten
Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Berufung, über die der Senat gem §
124 Abs
2 Sozialgerichtsgesetz (
SGG) ohne mündliche Verhandlung entscheiden konnte, ist begründet. Das SG Lüneburg hat der Klage zu Unrecht stattgegeben.
Diese ist als Anfechtungs- und Feststellungsklage (§
54 Abs
1 iVm §
55 Abs
1 Nr
3 SGG) statthaft und auch im Übrigen zulässig. Sie ist jedoch unbegründet. Der Bescheid vom 28. Oktober 2005 in Gestalt des Widerspruchsbescheids
vom 25. Januar 2006 ist nicht zu beanstanden. Die BG hat es zu Recht abgelehnt, die Bluthochdruckerkrankung (Hypertonie) des
Klägers als Folge seines Arbeitsunfalls vom 26. Juli 1990 anzuerkennen.
Gesundheitsstörungen können nur dann als Folge eines Arbeitsunfalls (§
8 Abs
1 Sozialgesetzbuch Siebtes Buch (
SGB VII)) festgestellt werden, wenn der Ursachenzusammenhang zwischen Unfallereignis und Gesundheitsstörung nachgewiesen ist. Insoweit
gilt im Recht der Gesetzlichen Unfallversicherung der erleichterte Beweismaßstab der hinreichenden Wahrscheinlichkeit, die
zu bejahen ist, wenn mehr für als gegen die Annahme des Ursachenzusammenhangs spricht und ernste Zweifel hinsichtlich einer
anderen Verursachung ausscheiden müssen (Bundessozialgericht (BSG) SozR 3-1300 § 48 Nr 67 mwN). Die Kausalität ist dabei in zwei Stufen zu untersuchen (zum Folgenden vgl beispielhaft BSG SozR 4-2700 § 8 Nr 17). Zunächst ist nach der sog Bedingungstheorie zu untersuchen, ob das Unfallereignis für den Schaden ursächlich im naturwissenschaftlich-philosophischen
Sinne war, was für jedes Ereignis zu bejahen ist, das nicht hinweggedacht werden kann, ohne dass der Erfolg entfiele (conditio
sine qua non). Ist dies zu bejahen, liegen aber neben dem Unfallereignis andere Mitursachen für den Eintritt des Schadens
vor - insbesondere: Vorerkrankungen oder schicksalhafte Schadensanlagen -, muss in einem zweiten Schritt wertend entschieden
werden, ob das Unfallereignis die wesentliche Ursache für den Schadenseintritt gewesen ist (Theorie der wesentlichen Bedingung),
was zu bejahen ist, wenn es wegen seiner besonderen Beziehung zum Erfolg zu dessen Eintritt wesentlich mitgewirkt hat.
Die Kausalitätsbeurteilung hat auf der Basis des aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstands zu erfolgen (BSG aaO.). Maßgeblich sind demnach die durch Forschung und praktische Erfahrung gewonnenen Erkenntnisse, die von der großen Mehrheit
der auf den betreffenden Gebieten tätigen Fachwissenschaftler anerkannt werden, über die mithin, von vereinzelten, nicht ins
Gewicht fallenden Gegenstimmen abgesehen, Konsens besteht (BSG SozR 4-2700 § 9 Nr 9).
Unter Berücksichtigung dieser Vorgaben kann nicht als erwiesen angesehen werden, dass die beim Kläger vorliegende Hypertonie
wesentlich durch den Arbeitsunfall vom 26. Juli 1990 verursacht worden ist.
Dies ergibt sich aus den schlüssigen Ausführungen des im Berufungsverfahren gehörten Sachverständigen Prof. Dr. I ... Dieser
hat dargelegt, dass bei der Bluthochdruckerkrankung zwischen einer genuinen bzw essentiellen und einer sekundären Hypertonie
zu unterscheiden ist. Eine sekundäre Hypertonie, die auf organische Schädigungen zurückgeführt werden kann, ist beim Kläger
nicht festzustellen gewesen. Die Ursachen der genuinen oder essentiellen Hypertonie, die mithin beim Kläger vorliegt, sind
im Einzelfall aber unbekannt. Der Sachverständige konnte lediglich Faktoren nennen, die als mögliche Ursachen dieser Form
des Bluthochdrucks in Betracht kommen, nämlich Alter, Übergewicht, hormonelle Ursachen, Bewegungsarmut, genetische Veranlagung,
Diabetes und Fettstoffwechselstörungen. Anhaltspunkte dafür, dass gerade die vom Kläger angeführte Fettleibigkeit bzw Bewegungsarmut
mit hinreichender Wahrscheinlichkeit Ursachen seiner Hochdruckerkrankung sind, ergeben sich jedoch nicht.
Dieses Ergebnis steht auch in Übereinstimmung mit aktuellem (unfall-)medizinischem Schrifttum, wonach ursächlich für eine
essentielle bzw primäre Hypertonie die konstitutionelle körperliche Disposition mit ihrer vegetativen Reaktionsform und die
Persönlichkeitsstruktur oder Störungen des natürlichen Lebensrhythmus in beruflicher und privater Sphäre sind (Schönberger/Mehrtens/Valentin,
Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 8. Aufl 2010, S 821). Insgesamt wird die Ursache der essentiellen oder primären Hypertonie
als unbekannt angesehen, wobei die Entstehung dieses Krankheitsbilds auf multifaktorielle und polygenetische Umstände zurückgeführt
wird (Pschyrembel, Klinisches Wörterbuch, 264. Aufl 2013, Stw: Hypertonie, arterielle).
Nach alledem kann noch nicht einmal auf der ersten Stufe der Kausalitätsprüfung - Ursächlichkeit im naturwissenschaftlich-philosophischen
Sinn - wahrscheinlich gemacht werden, dass die Ursache der Bluthochdruckerkrankung des Klägers im Arbeitsunfall vom 26. Juli
1990 zu sehen ist.
Das erstinstanzliche Gutachten von Dr. H., der meint, die Hypertonie des Klägers sei durch dessen Adipositas und diese wiederum
durch die unfallbedingte Bewegungsarmut des Klägers verursacht worden, kann demgegenüber nicht nachvollzogen werden. Es fehlt
dort - ebenso wie im Gutachten von Dr. G. - bereits jegliche Diskussion der Einteilung der Hypertonie-Formen und der daran
geknüpften aktuellen Erkenntnisse über deren Ursachen. Vielmehr begnügt sich der Sachverständige mit der Behauptung, ein langsam
ansteigendes Körpergewicht beim Kläger könne mit einer nach mehreren Jahren auftretenden Bluthochdruckerhöhung "assoziiert
sein".
Selbst wenn man aber die Fettleibigkeit des Klägers als Ursache der Hochdruckerkrankung ansehen würde, ist nicht nachvollziehbar
dargelegt worden, dass die Adipositas wiederum wesentlich auf die unfallbedingte Immobilität zurückzuführen ist. Dr. H. stützt
seine diesbezügliche Annahme auf die - von ihm nicht weiter hinterfragten - Angaben des Klägers über dessen angebliche Ernährungsgewohnheiten,
die einer täglichen Kalorienzufuhr von durchschnittlich 1.100 bis maximal 1.300 kcal entsprächen. Vor dem Hintergrund eines
vom Sachverständigen (auf S 13 des Gutachtens) als normal angenommenen Kalorienbedarfs von mindestens 27 kcal pro Kilogramm
Körpergewicht - bei 90 Kilogramm Körpergewicht des Klägers also mehr als 2.400 kcal - würde dies einer diätetischen Lebensweise
entsprechen; eine weitere Reduktion der Ernährung ist nach den Ausführungen auf S 19 des Gutachtens nicht realistisch. Abgesehen
davon, dass der Kläger bei Dr. H. keine vollständigen Angaben gemacht haben dürfte - so hat er bei Prof. Dr. I. jedenfalls
von "einer Flasche Bier pro Tag" berichtet - fehlt jeder Anhaltspunkt dafür, dass er die bei der Untersuchung im Oktober 2007
behauptete kalorienreduzierte Kost auch in den Jahren seiner Gewichtszunahme eingehalten hat. Hiergegen spricht, dass er sich
sowohl in der Widerspruchs- als auch in der Klagebegründung dagegen verwahrt hat, ständig Diät zu halten, weil er bereits
durch seine körperliche Behinderung in seiner Lebensqualität stark eingeschränkt sei. Die Schlussfolgerung des Sachverständigen,
angesichts der geringen Kalorienzufuhr könne die Entstehung der Adipositas nur auf eine Bewegungsarmut zurückgeführt werden,
vermag der Senat deshalb nicht nachzuvollziehen.
Dass für die Gewichtszunahme des Klägers dessen Bewegungsarmut maßgeblich ist, erschließt sich im Übrigen auch nicht aus den
vom Senat beigezogenen Verwaltungsakten. Dort ist dokumentiert, dass der Kläger vor seinem Unfall wegen eines angeborenen
Hüftgelenksschadens keinen Sport betrieben hat (Berufshelferbericht vom 11. September 1990, Bl 37 VA). Auch nach dem Unfall
hat er zunächst kein Interesse an körperliche Ertüchtigung verspürt (Berufshelferbericht vom 25. Februar 1991, Bl 190 VA).
Gleichwohl ist sein anfängliches Gewicht (nach eigenen Angaben bei Dr. H.: 62 bis 65 Kilogramm) zunächst gleichgeblieben,
wie sich zB aus dem Behandlungsbericht des Berufsgenossenschaftlichen Unfallkrankenhauses vom 3. Juni 1991 (Bl 231 VA) ergibt.
1999 erfolgte auf Kosten der BG die Versorgung des Klägers mit einem Rollstuhlfahrrad (Handy- oder Rolli-Bike), ua um eine
weitere Immobilisierung zu vermeiden (vgl Stellungnahme des Facharztes für Allgemeinmedizin Dr. J. vom 9. März 1999, Bl 1011
VA). Von diesem Hilfsmittel hat er in der Folgezeit in erheblichem Umfang Gebrauch gemacht (vgl den Bericht des Reha-Betreuers
vom 22. Mai 2000, Bl 1119 VA); auch bei Dr. H. hat er berichtet, er fahre bei gutem Wetter mit seinem Handy-Bike jeden Tag
etwa 40 bis 60 Minuten lang. Gleichwohl ist es in der Folgezeit zu einer deutlichen Gewichtszunahme - auf 90 bis 95 Kilogramm
- gekommen (vgl das Gutachten von Dr. G. und den Bericht des Reha-Betreuers vom 28. September 2005, Bl 1573 VA). Wenn der
Kläger nach alledem bei anfänglich größerer Immobilität zunächst sein Gewicht halten konnte und erst später trotz intensiven
Gebrauchs eines Handy-Bikes erheblich zugenommen hat, kann die Ausbildung seiner Adipositas nicht überzeugend auf seine unfallbedingte
Bewegungseinschränkung zurückgeführt werden.
Die Kostenentscheidung folgt aus §
193 Abs
1 SGG.
Gründe, die Revision zuzulassen (§
160 Abs
2 SGG), sind nicht ersichtlich.