Beschwerde gegen die Ablehnung von Prozesskostenhilfe
Anspruch auf Gewährung einer Verletztenrente
Hinreichende Erfolgsaussichten für eine Rechtsverfolgung
Gründe
Die Beschwerde des Klägers, mit der er sich gegen die Versagung von Prozesskostenhilfe (PKH) im Beschluss des Sozialgerichts
(SG) Lüneburg vom 15. Februar 2021 wendet, ist zulässig und begründet.
Nach §
73a Abs
1 Sozialgerichtsgesetz (
SGG) iVm den §§
114 ff
Zivilprozessordnung (
ZPO) erhält ein Beteiligter, der nach seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht,
nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen kann, auf Antrag PKH, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung
hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint. Diese Voraussetzungen sind erfüllt.
I. Entgegen der Auffassung des SG bietet die Klage hinreichende Aussicht auf Erfolg.
1. Hinreichende Erfolgsaussichten für die Rechtsverfolgung bestehen, wenn das Gericht den Rechtsstandpunkt des Klägers aufgrund
seiner Sachverhaltsdarstellung und der vorhandenen Unterlagen für zutreffend oder zumindest vertretbar hält und in tatsächlicher
Hinsicht mindestens von der Möglichkeit der Beweisführung überzeugt ist. Es muss demnach nach summarischer Prüfung des Sach-
und Streitstandes möglich sein, dass der Kläger mit seinem Begehren durchdringen wird. Dabei dürfen die Anforderungen an die
Erfolgsaussichten in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht nicht überspannt werden, da §
114 Abs
1 S 1
ZPO nur eine „hinreichende“ Aussicht auf Erfolg voraussetzt. Kommt eine Beweisaufnahme ernsthaft in Betracht und liegen keine
Anhaltspunkte dafür vor, dass diese mit großer Wahrscheinlichkeit zum Nachteil der hilfebedürftigen Partei ausgeht, darf PKH
nicht wegen fehlender Erfolgsaussichten verweigert werden (vgl hierzu Bundesverfassungsgericht <BVerfG>, Beschluss vom 20. Februar 2002 – 1 BvR 1450/00, NJW-RR 2002, 1069 f). Daher sind die Erfolgsaussichten in der Regel gegeben, wenn das Gericht die Einholung eines Sachverständigengutachtens oder
eine andere Beweiserhebung für notwendig hält (vgl zu alledem B. Schmidt in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt,
SGG, 13. Aufl 2020, §
73a Rn 7a mwN).
2. Nach diesen Grundsätzen bestehen für die Klage, mit der der Kläger sinngemäß die Abänderung des Bescheides der Beklagten
vom 2. Oktober 2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26. Oktober 2020 und die Verpflichtung der Beklagten zur Gewährung
einer Verletztenrente aufgrund des Arbeitsunfalls vom 27. Februar 2017 begehrt, hinreichende Erfolgsaussichten, weil darüber
nicht ohne weitere von Amts wegen durchzuführende Ermittlungen entschieden werden kann.
a) Nach §
56 Abs
1 S 1 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch (
SGB VII) haben Versicherte, deren Erwerbsfähigkeit infolge eines Versicherungsfalls über die 26. Woche nach dem Versicherungsfall
hinaus um wenigstens 20 vH gemindert ist, Anspruch auf eine Rente. Bei einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) ist die
Rente gemäß §
56 Abs
3 S 2
SGB VII als Teilrente iHd Vomhundertsatzes der Vollrente festzusetzen, der dem Grad der MdE entspricht. Die MdE richtet sich gemäß
§
56 Abs
2 S 1
SGB VII nach dem Umfang der sich aus der Beeinträchtigung des körperlichen und geistigen Leistungsvermögens ergebenden verminderten
Arbeitsmöglichkeiten auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens. Anhaltspunkte für die Bemessung der MdE im Einzelfall bilden
die sogenannten Erfahrungswerte, die sich in der gesetzlichen Unfallversicherung im Laufe der Zeit bei einer Vielzahl von
Unfallfolgen herausgebildet haben (vgl hierzu Bundessozialgericht <BSG>, Urteil vom 13. September 2005 - B 2 U 4/04 R, juris mwN).
Bei der Einschätzung der MdE können Gesundheitsstörungen und ggf daraus resultierende Beschwerden allerdings nur berücksichtigt
werden, wenn sie selbst sowie auch ein Ursachenzusammenhang mit dem Unfallereignis nachgewiesen sind. Dabei sind die geltend
gemachten Gesundheitsschäden im sogenannten Vollbeweis festzustellen (vgl BSG, Urteil vom 2. November 1999 - B 2 U 47/98 R, SozR 3-1300 § 48 Nr 67). Dafür ist zwar keine absolute Gewissheit erforderlich; verbliebene Restzweifel sind bei einem Vollbeweis jedoch nur so lange
unschädlich, wie sie sich nicht zu gewichtigen Zweifeln verdichten (vgl BSG, Urteil vom 24. November 2010 - B 11 AL 35/09 R, juris mwN). Demgegenüber genügt für den Nachweis der wesentlichen Ursachenzusammenhänge zwischen dem Unfallereignis (bzw einem dadurch
verursachten Erstschaden <vgl hierzu BSG, Urteil vom 6. September 2018 - B 2 U 16/17 R, SozR 4-2700 § 11 Nr 2>) und einem geltend gemachten Gesundheitsschaden die (hinreichende) Wahrscheinlichkeit (nicht allerdings die bloße Möglichkeit),
die zu bejahen ist, wenn mehr für als gegen die Annahme des Ursachenzusammenhangs spricht und ernste Zweifel hinsichtlich
einer anderen Verursachung ausscheiden (vgl BSG, Urteil vom 2. November 1999 aaO mwN). Sind - wie häufig - mehrere Bedingungen für den Eintritt des Schadens ursächlich im naturwissenschaftlichen Sinn gewesen,
gilt die Kausalitätslehre der wesentlichen Bedingung. Danach sind nur die Ursachen wesentlich (und damit rechtserheblich),
die rechtlich die Realisierung einer in den Schutzbereich des jeweils erfüllten Versicherungstatbestands fallenden Gefahr
darstellen (vgl BSG, Urteil vom 30. März 2017 - B 2 U 6/15 R, SozR 4-5671 Anl 1 Nr 1103 Nr 1).
b) Bei Zugrundelegung dieser Vorgaben lässt sich anhand der von der Beklagten im Verwaltungsverfahren eingeholten Gutachten
noch nicht abschließend feststellen, ob dem Kläger aufgrund des Arbeitsunfalls vom 27. Februar 2017 ein Anspruch auf Verletztenrente
zusteht.
aa) Als Folgen des Arbeitsunfalls vom 27. Februar 2017 hat die Beklagte zunächst eine nach konservativer Behandlung mit ventraler
Keilbildung um 11° und mit Keilbildung um 5° nach rechts verheilte Deckplattenimpressionsfraktur des 1. Lendenwirbelkörpers
(LWK) ohne verbliebene Instabilität oder Fusion mit BWK 12/LWK 1 und einen vermehrten muskulären Tonus der paraspinalen Muskulatur
anerkannt. Grundlage hierfür ist das von ihr im Verwaltungsverfahren eingeholte unfallchirurgische Gutachten von Dr. H. und
Prof. Dr. I. vom 4. Juli 2019, das im Wege des Urkundsbeweises verwertet werden kann.
Nachvollziehbare Einwendungen gegen dieses Gutachten hat der Kläger selbst nicht erhoben, und auch von Amts wegen bestehen
keine Anhaltspunkte für eine Unrichtigkeit oder Unvollständigkeit der von den Gutachtern angenommenen Unfallfolgen auf unfallchirurgischem
Fachgebiet. Das gilt insbesondere in Bezug auf die gutachtliche Einschätzung, dass das beidseitige ISG-Syndrom, das weitere
Behandlungsmaßnahmen ausgelöst hat, nicht auf das hier maßgebende Unfallereignis zurückgeführt werden kann. Diese Einschätzung
ist schon aus dem Grunde nachvollziehbar, dass röntgenologische Untersuchungen keine Hinweise auf eine traumatische Verletzung
der Iliosakralgelenke erbracht hatten (vgl dazu Stellungnahme PD Dr. I. und Dr. J. vom 26. August 2017, S 3).Überdies wird eine hiervon abweichende ärztliche Auffassung weder vom Kläger behauptet noch ist eine solche aus den umfangreichen
aktenkundigen Befundunterlagen ersichtlich.
Soweit Dr. H. und Prof. Dr. I. die MdE wegen der dargelegten Unfallfolgen auf ihrem Fachgebiet mit 10 vH eingeschätzt haben,
ist der Kläger dem ebenfalls nicht entgegengetreten. Die Einschätzung ist für den Senat auch nachvollziehbar, weil sie mit
anerkannten Erfahrungswerten im Einklang steht. Danach begründet ein stabil verheilter Wirbelbruch mit leichtem Achsenknick
(Keilwirbel 10° bis < 20°) und gegebenenfalls Höhenminderung der angrenzenden Bandscheibe mit mäßiger segmentbezogener Funktionsstörung
eine MdE von 10 vH (vgl Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 9. Aufl 2017, S 465 f; Thomann/Grosser/Schröter, Orthopädisch-unfallchirurgische
Begutachtung, 3. Aufl 2020, S 107).
bb) Darüber hinaus hat die Beklagte im angefochtenen Bescheid eine nach dem Unfall entwickelte Anpassungsstörung mit Ängsten
und Unsicherheiten bei der Teilnahme am Straßenverkehr, die nach zwei Jahren als abgeklungen anzusehen sei, als Unfallfolge
anerkannt. Dem liegt das Gutachten von Dr. Dr. K. und L. vom 21. Dezember 2018 zugrunde, das jedoch nach Auffassung des Senats
keine ausreichende Entscheidungsgrundlage für die Beurteilung der Unfallfolgen auf neurologischem und psychiatrischem Fachgebiet
darstellt.
Zwar steht die Annahme der Gutachter, dass bei dem Kläger eine Anpassungsstörung bestanden habe, die zum Zeitpunkt der Entlassung
aus der stationären Behandlung im M. Klinikum N. am 21. August 2018 abgeklungen sei, im Einklang mit der zunächst auch im
M. Klinikum N. vertretenen Auffassung (vgl dazu Entlassungsbericht Dr. O. ua vom 21. August 2018).In Bezug auf diese Gesundheitsstörung kommt es im Ergebnis auch nicht darauf an, dass Dr. Dr. K. und L. die Frage, welche
der festgestellten Gesundheitsstörungen durch das Unfallereignis (mit-)verursacht oder verschlimmert wurden, nicht nachvollziehbar
beantwortet haben („Nein.“). Denn die Beklagte hat die Anpassungsstörung ausdrücklich als Unfallfolge anerkannt, woran die
Beteiligten und die Gerichte gebunden sind (§
77 SGG); abgesehen hiervon bestehen an der Ursächlichkeit des Arbeitsunfalls für die Entstehung der Anpassungsstörung in Anbetracht
des ausführlichen Entlassungsberichts des BG Klinikums vom 21. August 2018 auch gar keine Zweifel.
Als nicht ausreichend sieht der Senat jedoch die Ausführungen im Gutachten vom 21. Dezember 2018 (nebst ergänzenden Stellungnahmen
von L. vom 12. Februar 2019 und 3. Mai 2019) zur Diagnose eines „chronischen Schmerzsyndroms“ bzw einer chronischen Schmerzstörung
mit somatischen und psychischen Faktoren (F 45.41 ICD-10) an. Dabei wird von den Gutachtern schon nicht dargelegt, welche
Diagnosekriterien sie in diesem Zusammenhang für maßgebend erachten. Ihre Ausführungen im Gutachten beschränken sich im Wesentlichen
auf die Feststellung, dass die vom Kläger geklagten Schmerzbeschwerden in Anbetracht der Ergebnisse eines Medikamentenserumspiegels
nicht verifizierbar seien und die von den behandelnden Ärzten zuvor gestellten Diagnosen eines chronischen Schmerzsyndroms
bzw einer chronischen Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren sich nicht mehr aufrechterhalten ließen. Die
Anführung dieses Aspekts ist zwar insoweit nachvollziehbar, als eine Diskrepanz zwischen der angegebenen Medikamenteneinnahme
und dem gemessenen Serumspiegel gegen die Plausibilität der geklagten Beschwerden sprechen kann (vgl Schönberger/Mehrtens/Valentin aaO, S 242). Ein Erfahrungssatz, dass eine solche Diskrepanz stets im Sinne eines Ausschlusskriteriums zur Verneinung der Diagnose einer
somatoformen Störung nach F45 ICD-10 führen müsste, ist dem Gutachten aber nicht zu entnehmen und angesichts zahlreicher weiterer
Aspekte, die im Rahmen der Begutachtung von Schmerzen Bedeutung erlangen können (vgl dazu nur Schönberger/Mehrtens/Valentin aaO, S 235 ff), auch sonst nicht ersichtlich. Dementsprechend ist das Ergebnis des Gutachtens zumindest nicht plausibel begründet worden,
sodass auch nicht beurteilt werden kann, ob dieses Ergebnis zutrifft oder nicht. Dies gilt umso mehr, als zuletzt auch die
behandelnden Ärzte der P. Kliniken Q. im Rahmen einer mehrwöchigen Behandlung des Klägers von einer chronischen Schmerzstörung
ausgegangen sind (undatierter Kurz-Entlassungsbrief R. und S. zur Behandlung im Zeitraum vom 22. Juni bis 6. Juli 2021).
Bei dieser Sachlage wird das SG in Bezug auf mögliche (weitere) Unfallfolgen auf neurologischem und psychiatrischem Fachgebiet weitere Ermittlungen von Amts
wegen durchzuführen haben. Dabei wird ggf auch aufzuklären sein, welche Umstände für eine eventuelle somatoforme Störung ursächlich
sind. Auf der Grundlage ihrer Auffassung folgerichtig haben sich Dr. Dr. K. und L. insoweit mit der Frage der Abgrenzung der
Unfallfolgen auf unfallchirurgischem Fachgebiet von den dokumentierten unfallunabhängigen Gesundheitsstörungen an anderen,
bei dem Arbeitsunfall nicht verletzten Abschnitten der Wirbelsäule sowie den Iliosakralgelenken als mögliche Ursachen einer
somatoformen Störung gar nicht befasst; nur wenn und soweit die Unfallfolgen hierfür wesentliche Ursache wären, könnte einer
solchen Störung aber Bedeutung für die Beurteilung der MdE zukommen.
cc) Unabhängig von dem Vorstehenden wird das SG auch aufzuklären haben, ob dem Kläger jedenfalls für den Zeitraum nach dem Ende des Verletztengeldes bis zum Tag vor der
Untersuchung des Klägers durch Dr. Dr. K. und L. ein Anspruch auf Verletztenrente zusteht. Nach Aktenlage hat die Beklagte
die Einstellung der Zahlung von Verletztengeld zum 26. August 2018 veranlasst (Schreiben an die T. Krankenkasse vom 29. August
2018); nach Auffassung der Gutachter Dr. Dr. K. und L. war der Kläger bis zum 21. August 2018 aufgrund von Unfallfolgen arbeitsunfähig.
Die Gutachter haben die MdE aufgrund von Unfallfolgen auf psychiatrischen Fachgebiet für die Zeit vom Wiedereintritt der Arbeitsfähigkeit
bis zum Tag vor der Untersuchung (am 11. Oktober 2018) auf 10 vH eingeschätzt. Für diesen Zeitraum fehlt es bislang noch an
der Einschätzung einer Gesamt-MdE; die im Gutachten von Dr. H. und Prof Dr. I. vom 4. Juli 2019 angenommene Gesamt-MdE bezieht
sich lediglich auf die Zeit ab dem 12. Oktober 2018.
II. Die Rechtsverfolgung erscheint nicht mutwillig.
III. Schließlich bestehen auch keine Zweifel daran, dass der Kläger die Kosten der erstinstanzlichen Prozessführung nicht
aufbringen kann. Das ergibt sich aus den ausreichend glaubhaft gemachten Angaben zu seinen persönlichen und wirtschaftlichen
Verhältnissen.
IV. Die Kostenentscheidung folgt aus §
73a Abs
1 S 1
SGG iVm §
127 Abs
4 ZPO.
Der Beschluss ist unanfechtbar (§
177 SGG).